Griechische und deutsche Erinnerungskultur
E-Book, Deutsch, 509 Seiten
ISBN: 978-3-412-50290-4
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Geschichtspolitik, Erinnerungskultur
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Invasion und Besatzung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Europäische Länder
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
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Hagen Fleischer Vergangenheitspolitik und Erinnerung Die deutsche Okkupation Griechenlands im Gedächtnis beider Länder Am Anfang unseres Jahrtausends entfachte der linksliberale Doyen der Presseszene Antonis Karkagiannis einen Sturm der Entrüstung im geschichtskulturellen Wasserglas Griechenlands, als er die versuchte Beschlagnahmung der deutschen Kulturinstitute in Athen – zur Entschädigung für das Massaker in Distomo – als griechischen Talibanismus kritisierte: „60 Jahre danach“ sei auch für die Griechen die Zeit gekommen, sich freizumachen vom Schatten der Besatzungszeit, deren Terminologie und Stereotypen sowie deren weiterhin memoirenhaften Erinnerungskultur.1 Er erlebte es nicht mehr, wie zwischenzeitliche Fortschritte in dieser Richtung hinfällig wurden – infolge der eskalierenden deutsch-griechischen Krise im Gefolge der großen Rezession. Eben deswegen war die Münchener Konferenz so wichtig – mehr noch als es im Planungsstadium schien. Doch bereits im Frühjahr 2010, als das Ergebnis der ersten diesbezüglichen Initiative von Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou angekündigt wurde – der Sammelband mit dem (zu?) optimistischen Titel Hellas verstehen –, hatten sich deutsche Journalisten erwartungsfroh an den Verlag bzw. die Herausgeberinnen gewandt: Ob der Band Antworten gebe auf die wirtschaftliche und soziale Krise der Hellenen? Was sie zum Inhalt erfuhren – Kulturauftrag, Kulturpolitik, Kulturtransfer – war den meisten zu tiefschürfend, zu wenig tagesaktuell. Als die Krise wie ein Steppenbrand ausbrach, erkannten nur wenige Einsichtige deren diachronische Aktualität, die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der gegenseitigen Wahrnehmung sowie der Verständnisdefizite, nachdem politische Opportunität allzulange das Bild geschönt hatte. Auch seriöse Medien sahen und analysierten die Geschehnisse weiterhin eindimensional. Eine Berliner Zeitung witzelte damals, glücklicherweise besäßen Hellas und Deutschland keine gemeinsame Grenze, sonst wären beiderseits bereits Panzerbrigaden vorgefahren.2 Besagter Journalist ergötzte sich an seinem martialischen Gedankenspiel, war aber weder ehrlich noch informiert genug, es weiter zu verfolgen. Zunächst fehlte der Hinweis für den einheimischen Leser, dass 70 Jahre zuvor tatsächlich deutsche Panzer3 in Griechenland eingefallen waren – auch [<<31||32>>] ohne gemeinsame Grenze. Zum zweiten, im hypothetischen Fall, wäre zumindest Bayern längst von der griechischen Armee besetzt, denn letztere besitzt die gleichen guten Leopard-Panzer wie die Bundeswehr, aber doppelt so viele – dank der tüchtigen deutschen Rüstungslobby.4 Zugegebenermaßen erreicht der antideutsche Aufschrei mancher griechischer Medien und Politiker die Ausmaße nationaler Hysterie. Doch in der Richtpflöcke setzenden Anfangsphase galten die germanophoben Reaktionen kaum mangelnder Zahlbereitschaft von Merkel & Co. Viele Griechen hatten sogar Verständnis für der Kanzlerin wahlbedingtes Lavieren, obwohl dadurch beiden Seiten die letztlich erwiesene „Solidarität“ erheblich verteuert wurde. Nur wenige bestreiten nämlich die Verantwortung der Athener Regierungen und ihrer Klientelen an jahrzehntelanger Misswirtschaft. Erbitterung provozierte hingegen das Zerr-BILD, die simplifizierende Häme, die sich kübelweise auf die opportune Zielscheibe der angeblich schmarotzenden „Pleite-Griechen“ ergoss. Die Schmähung des „Volks der Faulenzer und Betrüger“ in der „Euro-Familie“ wurde zum Volkssport: Karikaturen, Schlagzeilen und Kommentare wetteiferten in boshaften Superlativen, auch in „seriösen“ deutschen Medien. Ohnehin werden solche elitären Unterscheidungskriterien anfechtbar in einer Zeit, da der langjährige BILD-Vize Nikolaus Blome – als Hauptverantwortlicher für üble Kampagnen wie die gegen die ‚Pleite-Griechen‘ Ende 2011 vom Verein Europa-Union mit der „Europäischen Distel“ für den „größten europapolitischen Fehltritt des Jahres“ abgestraft – beim SPIEGEL de facto nahezu die gleiche Position übernahm.5 Dieses „Griechen-Bashing“, die oft sadistische Griechenschelte, warf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur um Jahrzehnte zurück. Die rassistisch anmutende Arroganz weckte in Griechenland traumatische Erinnerungen an die Okkupation 1941–44, als gleichlautende Stereotype die Besatzungspolitik des selbsternannten Herrenvolks weiter brutalisierten. General von LeSuire etwa, der 1943 Kalavryta und die Nachbardörfer zerstören und 700 Männer exekutieren ließ, schmähte die Griechen als „Sauvolk“ der „Nichtstuer, Schieber und Korrupteure“.6 Als sich die Griechen daraufhin der ungezahlten Kriegsentschädigungen entsannen, beklagten deutsche Medien die Instrumentalisierung der „Nazi-Keule“. Im Gegensatz zur aus prominentem Mund (Martin Walser) gehörten „Auschwitz-Keule“ störte sich diesmal niemand. Auch Josef Joffe, Herausgeber der ZEIT identifizierte sich mit der ignoranten These: „Weil Deutschland sich mit Hilfen an Griechenland zurückhält, schwingen die Griechen die Nazi-Keule. Sind nur zahlende Deutsche gute Deutsche?”7 Jede griechische Erwähnung historischer Verpflichtungen erscheint deutschen [<<32||33>>] Journalisten und Politikern bestenfalls anachronistisch, zumeist aber lächerlich, händlerisch und unberechtigt. Die von Karkagiannis angesprochene Verspätung der Historisierung, festzustellen in der public history der griechischen Medien, resultiert aus der Verspätung der Historiographie. In diesem Zusammenhang ist ein historischer Abriss unerlässlich: Die Griechen datieren den Beginn ihres Widerstandes auf den 28. Oktober 1940 mit der Ablehnung von Mussolinis Ultimatum – die unter Verletzung der griechischen Neutralität eindringenden italienischen Truppen wurden binnen weniger Wochen weit auf albanisches Gebiet zurückgeworfen. Die griechischen Siege zu einem Zeitpunkt, da Frankreich besiegt und die Supermächte USA und UdSSR noch im Zwielicht der Neutralität verharrten, erschüttern den Nimbus von der Unbesiegbarkeit der faschistischen ‘Achse‘; weltweit werden Parallelen zum hellenischen Sieg bei Marathon bzw. zum glorreichen Opfergang an den Thermopylen gezogen. In Erinnerung daran wird 1945 der 28. Oktober – als „Tag des Neins“ (Ochi) – zweiter Nationalfeiertag. Schon damals spöttelte die britische Botschaft in Athen, die meisten Griechen glaubten, ihr Widerstand 1940/41 habe letztlich den Weltkrieg für die Alliierten gewonnen;8 zahllose Bücher und Gedenkredner insistierten bis heute in diesem Sinne,9 so etwa das Geschichtsbuch der letzten Volksschulklasse: „Als, am 28. Oktober 1940, die Mächtigen der Erde uns die Freiheit rauben wollten, antwortete die ganze Nation wie ein Mensch mit dem stolzen NEIN – wie einst Leonidas den Persern (480 v. C.) und Konstantin Palaiologos dem Mohammed II. (1453 n. C.). So wurde die Neueste griechische Geschichte geschaffen, die der ganzen Welt offenbart: Hellas stirbt nie! Es lebt und wird immer leben – voll Ruhm und Ehre!“10 Der Mut zum „Nein“ wird oft als diachronische Identitätskomponente der Hellenen gepriesen: von den Perser- und Türkenkriegen bis zur Abwehr jeweils aktueller Pressionen,11 derzeit der Gläubiger-Troika, die in Karikaturen oft als – bekanntlich dreiköpfiger – Höllenhund Zerberus dargestellt wird. Im April 1941 war die technologisch weit überlegene Wehrmacht dem gedemütigten Achsenpartner zu Hilfe geeilt, und hatte die abgekämpften Griechen in einem weiteren Blitzfeldzug niedergeworfen. Den größten Teil des Landes überließ Hitler den verbündeten Italienern und Bulgaren zur Besatzung bzw. Annexion, die Wehrmacht sicherte sich strategische Schlüsselpositionen. Bereits in den Weltmacht-Träumen der [<<33||34>>] Nazis begegnen wir deutschen Gelüsten nach griechischen Inseln – 70 Jahre später von diversen deutschen Presseorganen, Blogs und Politikern offen zur Schau getragen. Namentlich die Marine-Führung fordert, das unter großen Verlusten eroberte Kreta müsse nach gewonnenem Krieg „fest in deutscher Hand bleiben“.12 Der spontane Widerstand organisiert sich, denn die meisten Griechen fühlen sich nicht besiegt,13 jedenfalls nicht von den Italienern – „Primatmacht“ von deutschen Gnaden. Wichtigste Organisation ist die mit kommunistischer Initiative gegründete Nationale Befreiungsfront EAM, die neben dem Befreiungskampf den Kampf um das physische Überleben auf ihr Banner schreibt. Tatsächlich ist die epidemische Hungersnot die erste traumatische Erfahrung der Okkupation, deren Erinnerung zudem nicht tabuisiert und unterdrückt wird, da sie kein Rechts-Links-Schisma birgt.14 Die Toten bleiben dennoch bis heute ungezählt: mindestens 100.000.15 Hingegen entzündet sich ein endloser Erinnerungskrieg am bewaffneten Arm der EAM, dem „Volksbefreiungsheer“ ELAS. Streitpunkte...