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E-Book, Deutsch, 484 Seiten

Jussen Das Geschenk des Orest

Eine Geschichte des nachrömischen Europa
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-78201-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Geschichte des nachrömischen Europa

E-Book, Deutsch, 484 Seiten

ISBN: 978-3-406-78201-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen - im konkreten Fall das 'Mittelalter' zu Grabe getragen. An die Stelle dieser längst anachronistischen Prägung für 1000 Jahre Geschichte, die man als Epochenportion etikettieren und beruhigt in den Bücherschrank stellen kann, tritt ein neues Nachdenken über eine dynamische Phase des lateinischen Europas. Diese hat weit mehr mit der Entstehung der gegenwärtigen Zivilgesellschaften zu tun, als es sich die Erfinder des Epochenmodells vorgestellt haben. Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer 'antiken' römischen Hochkultur und ihrer intellektuellen 'Wiedergeburt' 1000 Jahre nach ihrem 'Untergang' die historische Fantasie zur Identifikation ein und stempelte die Zeit dazwischen zu einem 'Mittelalter' ab - ein seltsames Konzept, das trotzdem bis heute wirkmächtig ist. Wie wenig diese Art, Vergangenheit zu deuten, heute noch erklären kann und wie sehr sie aktuellen Erklärungsbedarf geradezu blockiert, macht Bernhard Jussen in seinem reich bebilderten Buch deutlich. In sieben Großkapiteln gelingt ihm ein faktenreicher, frischer, gut erzählter Einstieg in eine Revision der Geschichte des lateinischen Europas.

Bernhard Jussen lehrt als Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main "Mittelalterliche Geschichte mit ihren Perspektiven in der Gegenwart".

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Nach dem Eurozentrismus


Hinterlassenschaften, große Erzählungen, Medien und die Ordnung des historischen Materials

Am Anfang war die Revolution  «Sexuelle Revolution», «Ehe-Revolution», «religiöse Revolution», «theologische Revolution», «Revolution der Vorstellungskraft», «kulturelle Revolution», «römische Revolution», «spätrömische Revolution» … Die historischen Wissenschaften nuancieren mit allerlei Attributen, wenn es um jene «Revolution» geht, die man inzwischen zumeist als «Transformation der römischen Welt» bezeichnet. Im Kern meint man damit die Geschichte der römischen Mittelmeergesellschaften vom vierten bis sechsten Jahrhundert – jene Zeit also, die bis zumindest in die 1960er Jahre ganz im Zeichen des «Untergangs des römischen Imperiums» gedeutet wurde und mit «Völkerwanderung» und der Genese von «Germanenreichen» verbunden war.[1]

Seit den frühen 1990er Jahren, mit dem Ende des Kalten Krieges, haben sich in fast allen historischen Wissenschaften die Diskussionen und die Erklärungsbedürfnisse erheblich verändert. Auch die Umdeutung der «römischen Welt» des vierten bis sechsten Jahrhunderts vom «Untergang» zur «Transformation» oder gar «Revolution» war geprägt von den neuen politischen und intellektuellen Herausforderungen, die das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte. Das Hauptinteresse an diesen fernen Jahrhunderten der «römischen Welt» gilt seither nicht mehr einer imperialen Großmacht, die samt ihrer «klassischen» Kultur und ihren zivilisatorischen Leistungen «untergegangen» ist und «barbarischen Königtümern» oder «Germanenreichen» weichen musste. Stattdessen gilt das Interesse der Genese jener «revolutionär» neuen Vorstellungswelten, die seit dem vierten Jahrhundert in christlichen, seit dem siebten auch in islamischen Institutionen manifest wurden. Es gilt der Transformation der sakralen und der menschlich-existentiellen («ontologischen») Vorstellungswelten und der Institutionalisierung jener neuen Kultgemeinschaften und Kultpraktiken rund um das Mittelmeer, die jeweils nur noch einen Gott anerkannten, nur bestimmte Formen der Gottesverehrung gelten ließen – und jederzeit zu robusten Auseinandersetzungen um die erlaubte Kultpraxis und Gottesvorstellung bereit waren.

Diese Neudeutung einer lange zurückliegenden umfassenden gesellschaftlichen Veränderung ist eines von vielen Beispielen für die Diskussionen, mit denen die «westlichen» historischen Wissenschaften nach «1989» ihre eigenen – gegenwärtigen – Gesellschaften überdacht haben. Es hat nicht einmal eine Generation gedauert, bis die 200 Jahre alte Leitdeutung vom «Untergang des Römischen Reiches» kaum noch ein Forum hatte. In den neuen Diskussionszusammenhängen nach dem Ende des Kalten Krieges war sie nicht mehr plausibel.[2]

Die «kulturelle» oder «religiöse» oder «römische» Revolution – wie sie in der Forschung seit den 1990er Jahren ihr Profil gefunden hat[3] – war im Kern eine spirituelle. Sie hat «revolutionär» neue Vorstellungen von den Bedingungen menschlicher Existenz, damit auch neue Strukturen der moralischen Ordnung und des Sakralsystems hervorgebracht. Sie betraf fast alle Bereiche des Lebens – die Formen der Gottesverehrung, die Konzeptionen des menschlichen Selbst, die Deutungsmuster des Sozialen, die Kulturtechniken des Umgangs mit dem Heiligen, die Jenseitsvorsorge, die Art der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden … und in manchen Regionen der römischen Welt, insbesondere im Raum der lateinischen Kirche, auch radikal neue Haltungen zu den zentralen Lebensvollzügen – zu Ehe, Sexualität, Familie und Totensorge. Nur den größeren Kontext dieser «Transformation der römischen Welt» mag man mit dem Stichwort «Durchsetzung des Monotheismus» erfassen können. Im Einzelnen führten die neuen monotheistischen Kultgemeinschaften rund um das Mittelmeer – auch wenn sie sich alle wie der viel ältere jüdische Monotheismus auf Abraham bezogen – zu sehr unterschiedlichen Gesellschaften in der lateinischen, griechischen und arabischen Welt.[4]

«Untergegangen» ist das Imperium ohnehin nicht. Zwar hat das römische Imperium seit dem sechsten Jahrhundert nach und nach einen großen Teil seines ehemaligen Herrschaftsraumes entweder wegen anderer Interessen verlassen oder in Kämpfen verloren. Aber «untergegangen» ist es erst im Jahr 1453, rund 1000 Jahre später, als die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert mit dem Schlagwort «Antike» vermitteln wollte.

Zivilgesellschaft  Es ist unübersehbar, dass die Deutung des historischen Moments «um 500» als «Transformation der römischen Welt» von anderen Erkenntnisinteressen und anderen Erklärungsbedürfnissen getrieben war als die im 18. Jahrhundert etablierte Erzählung vom Untergang. Intellektuell vorbereitet waren diese neuen Erklärungsinteressen und Deutungen zwar schon seit den 1970er Jahren durch einige einflussreiche Fachpublikationen und durch die langsam Fahrt aufnehmenden Diskussionen um «postkoloniale» und «posteurozentrische» Formen wissenschaftlichen Denkens. Aber in der Breite geistes- und sozialwissenschaftlicher Arbeit haben sie sich erst in der veränderten Welt nach dem Ende des Kalten Krieges durchgesetzt.[5]

Auf den ersten Blick mag eine Diskussion um Ereignisse im römischen Imperium des vierten bis sechsten Jahrhunderts, die Umdeutung eines «Untergangs» in eine «Transformation» oder «Revolution», wie ein sehr fernes Echo aktueller politischer Diskussionen wirken. Doch schon diese Umdeutung ist offenkundig mehr als das Verschieben einiger Mosaiksteine in den Geschichtsbildern. Sie ist eine grundsätzliche Herausforderung für das historische Epochendenken insgesamt. Wer keinen epochalen «Untergang» um 500 mehr sieht, wird wohl auch keinen ebenso epochalen Wiederaufstieg zu alter Größe durch brillante Humanisten und Konfessionskämpfer um 1500 mehr suchen oder finden können. Und wie steht es ohne Untergang und Wiederaufstieg um die 1000-jährige «Dazwischen»-Zeit oder das «Mittel»-Zeitalter, mit dem die Gelehrten seit dem späten 18. Jahrhundert den Wiederaufstieg vom Untergang trennten? Vielen dieser früheren Gelehrten diente diese Dazwischenzeit als Projektionsraum des eigenen nationalen oder völkischen Ursprungs. Anderen diente sie als Projektionsraum einer im Kultischen und Kollektiven gefangenen Otherness, als der tiefdunkle Hintergrund, vor dem die eigene Zeit – die Zeit des Lichts, der Vernunft (Lumière, Enlightenment, Aufklärung) und des Subjekts – glänzen konnte. Wie also heute umgehen mit diesen Epochen-Denkfiguren, die immer zugleich Vergangenheitsvorstellung und Selbstkonzept waren und sind?

Wo nicht mehr eine «Antike» epochal «untergeht», sondern nur noch verschiedene Teile der alten römischen Welt «Transformationen» durchleben, hier heftiger, dort weniger heftig, hier zu neuen Gesellschaften mutierend, dort das römische Imperium noch fast 1000 Jahre – bis zum Jahr 1453 – weiterpflegend, da zeigt die alte Idee des weltgeschichtlich epochalen Untergangs um 500 und des ebenso epochalen Wiederaufstiegs um 1500 ihre Zeitgebundenheit. Sie gibt sich als Denkmodell früherer Zeiten zu erkennen, als Denkmodell jener Generationen, die unter «Europa» wesentlich das lateinische Europa verstanden haben, die dieses lateinische Europa selbstverständlich als Maßstab der Weltgeschichte wahrgenommen haben[6] und deren Erklärungsbedürfnisse wenig mit jenen zu tun hatten, die in den 1990er Jahren zur Entdeckung der «revolutionären» «Transformation der römischen Welt» geführt haben.

Kurz, im Kern getroffen von der «posteurozentrischen» und «postkolonialen» Diskussionslandschaft seit den 1990er Jahren war – neben vielem anderen – das seit etwa 1800 institutionalisierte Epochenmodell, also das Denken in «Antike, «Mittelalter» und «Neuzeit». Schnell wurde rückblickend seit den 1990er Jahren in einem neuen Schlagwort die Einsicht gebündelt, dass die unausgesprochene Hypothese dieses welthistorischen Verlaufsmodells eine nicht mehr haltbare Selbstgewissheit «aufgeklärter» europäischer Gelehrter des 18. bis 20. Jahrhunderts gewesen ist: die Vorstellung einer immer weiter fortschreitenden Säkularisierung der Weltgeschichte. Als «Säkularisierungsnarrativ» oder «Säkularisierungsparadigma» bezeichnet man seit den 1990er Jahren diese Leitidee des Epochenmodells.[7] Sie war in den 200 Jahren zuvor geradezu das Rückgrat des dreischrittigen Epochendenkens – von einer hochzivilisierten «Antike», deren «Untergang» in ein 1000-jähriges Zeitalter führte, in dem...


Bernhard Jussen lehrt als Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main "Mittelalterliche Geschichte mit ihren Perspektiven in der Gegenwart".



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