Hübner | Ältere Deutsche Literatur | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 374 Seiten

Hübner Ältere Deutsche Literatur

Eine Einführung

E-Book, Deutsch, 374 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5942-6
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein gut strukturierter und lesefreundlicher Einblick in die deutsche Literatur des Mittelalters

Dieses Buch erläutert auf anschauliche Weise die historischen Grundbedingungen der Älteren deutschen Literatur vom 9. bis zum 16. Jahrhundert.

Der erste Teil stellt die Orte der Produktion und Rezeption deutscher Texte vor und zeichnet die Ausbreitung der deutschsprachigen Schriftlichkeit, die Entwicklung des Dichtungsbegriffs und die wichtigsten Aspekte der Geschichte von Versdichtung und Prosaliteratur nach.

Der zweite Teil führt anhand konkreter Beispiele in die Verfahrensweisen des Bedeutungsaufbaus in älteren poetischen Texten ein. Tipps zur Informations- und Literaturrecherche sowie Hinweise auf weiterführende Lektüre runden den Band ab.

Die zweite Auflage wurde vollständig überarbeitet, um ein Kapitel zu den Grundlagen der Textkonstitution in Rhetorik und Theologie ergänzt sowie bibliographisch aktualisiert.
Hübner Ältere Deutsche Literatur jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kapitel 1: Wozu ältere Literatur? 1
1. Einführung 1
2. Epochenbegriffe 9
3. Aufbau des Buchs 13
Kapitel 2: Ältere deutsche Literatur – der Zeitraum 15
1. Literatur, Sprache, Kultur 15
2. Frühes Mittelalter: Althochdeutsche und altniederdeutsche Literatur (um 750 bis um 1050) 16
3. Hohes Mittelalter: Mittelhochdeutsche Literatur (um 1050 bis um 1350) 21
4. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit: Frühneuhochdeutsche Literatur (um 1350 bis um 1600) und mittelniederdeutsche Literatur (13. bis 16. Jahrhundert) 27
Kapitel 3: Ältere deutsche Literatur – die Ausbreitung der Schriftlichkeit 35
1. Was ist ›deutsche‹ Literatur? 35
2. Deutsche Schriftlichkeit 37
a. Frühes Mittelalter 37
b. Hohes Mittelalter 42
c. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit 48
3. Lateinisch-deutsche Literaturbeziehungen 56
4. Romanisch-deutsche Literaturbeziehungen 60
Kapitel 4: Ältere deutsche Literatur – › Literatur‹ und ›Dichtung‹ 69
1. Die Begriffe ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ 69
2. Die Tradition des antiken lateinischen Dichtungsbegriffs 76
3. Die mündliche Tradition 85
4. Die Begriffe ›Autor‹ und ›Text‹ 93
5. Prosa und Roman 100
Kapitel 5: Was lesen? 104
Kapitel 6: Handschriften, Drucke, Editionen 134
1. Schriftliche Textüberlieferung 134
2. Handschriften 135
3. Buchdruck 146
4. Editionen 155
Kapitel 7: Verse und Strophen 167
1. Die Bedeutung der Verse 167
a. Funktionen von Versen 167
b. Was sind Verse und Strophen? 169
2. Versformen im frühen Mittelalter 173
a. Stabreimvers 173
b. Endreimvers 175
3. Vers und Strophenformen im hohen Mittelalter 178
a. Nibelungenvers und Nibelungenstrophe 178
b. Höfischer Reimpaarvers 181
c. Stollenstrophe (Kanzonenstrophe) 183
4. Vers und Strophenformen in Spätmittelalter und früher Neuzeit 186
a. ›Volksliedstrophen‹: Hildebrandstrophe, Vagantenstrophe 186
b. Silbenzählende Verse 189
Kapitel 8: Argumentativer Bedeutungsaufbau 193
1. Argumentation 194
2. Textuelle Sequenzierung 198
3. Begriffsbeziehungen 199
4. Metaphorische Analogien 200
5. Kulturelles Wissen: Lebensziele und Herrschaftsordnung 201
6. Pathos und Ethos 204
Kapitel 9: Narrativer Bedeutungsaufbau 206
1. Was sind Erzählungen? 206
2. ›Geschichte‹ und ›erzählerische Vermittlung‹ 208
a. Geschichte (›histoire‹) 208
b. Erzählerische Vermittlung (›discours‹) 214
3. ›Engelhard‹: Die Geschichte 219
4. ›Engelhard‹: Die erzählerische Vermittlung 228
Kapitel 10: Kulturelle Wissensordnungen I: Diskurse und Diskursanalyse 235
1. Praktisches und begrifflich-diskursives kulturelles Wissen 235
2. Kultur 237
3. Was ist ein Diskurs? 240
4. Historische Diskursanalyse 244
5. Diskurs, ›schöne Literatur‹, Dichtung 246
6. ›Geschlechtsverkehr‹ in Diskursen des 12. und 13. Jahrhunderts 248
a. Theologischer und kirchenrechtlicher Diskurs 248
b. Medizinischer Diskurs 253
c. Höfischer Diskurs 256
d. Gewohnheitsrechtlicher Diskurs 262
Kapitel 11: Kulturelle Wissensordnungen II: Praktiken und Praxeologie 266
1. Diskurse und Praktiken 266
2. Fastnachtspiel und Fastnacht 266
3. Das Fastnachtspiel vom Eggenziehen 270
4. Kulturelle Praktiken und Handlungswissen 276
5. Praktisches Wissen und moralisches Wissen 283
Kapitel 12: Theologische und rhetorische Wirklichkeitskonstruktionen 287
1. Kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen und textuelle Bedeutungspraktiken 287
2. Rhetorik und Plausibilität 290
3. Theologie und Wahrheit 297
4. Topik und Wahrheit 302
Kapitel 13: Informationsmöglichkeiten und Literaturhinweise 314
1. Für die Studienpraxis 314
2. Informationen im Internet 315
3. Sprachgeschichte, Wörterbücher und Grammatiken 316
4. Einführungen in die ältere deutsche Literaturwissenschaft 318
5. Einführungen in mediävistische Nachbarfächer 319
6. Literaturgeschichten 320
7. Autoren- und Werklexika 321
8. Sach- und Personenlexika 322
9. Begriffsgeschichtliche Lexika 324
10. Literatur zu den einzelnen Kapiteln 326
Bildnachweis 348
Dank 349
Register 350


1 Wozu ältere Literatur?
1.1 Einführung
Der Himmel   Der Himmel liegt seit heute Nacht in einem Ellenbogen darein hatt’ ich gesmôgen das kin und ein mîn wange viel lange Zeit.   Der Himmel ist einsachtzig groß und hat die blauen Augen zum Frühstück aufgeschlagen all so ist auch sein Magen von dieser Welt.   (Ulla Hahn: Herz über Kopf. Gedichte. Stuttgart 1981, S. 12.) Die böse Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur?‹ lautet: Zur intellektuellen Selbstbefriedigung. Welchen Gewinn bringt einem beispielsweise die Erkenntnis, dass Ulla Hahn in diesem Liebesgedicht ein paar Brocken aus einem Lied Walthers von der Vogelweide zitiert, außer der Lust an der Überlegenheit der eigenen Bildung? »Ach – Sie wussten nicht, dass das Mittelhochdeutsch ist und aus dem bekanntesten Text des bekanntesten deutschen Dichters des Mittelalters stammt?« »Ach was«, könnten Sie darauf erwidern, »ich weiß, dass Frau Dr. Hahn in Germanistik promoviert hat – Literatur für Literaturwissenschaftler:innen.« Meine Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur?‹ setzt ein wenig hinterlistig bei der Unterstellung an, dass Sie ein Interesse an zeitgenössischer Literatur haben. Auf dieser Basis will ich versuchen zu erklären, aus welchen Gründen Sie Ihr Interesse auf ältere Literatur ausdehnen könnten. Beginnen wir also zunächst damit, dass wir uns auf das Bedeutungsspiel in Ulla Hahns Gedicht einlassen. Um das Bedeutungsangebot aufgreifen und das Spiel mitspielen zu können, müssen Rezipient:innen allerdings über Wissen verfügen. So braucht es beispielsweise sprachliches Wissen: Man muss die Bedeutungen der Wörter, die Satzkonstruktionen und die Zusammenhänge zwischen den Sätzen verstehen können. Und da lässt uns Frau Hahn schon stolpern, weil sie teilweise mittelhochdeutsch redet. Was nützt uns das Wissen, dass sie Formulierungen aus einem berühmten Lied Walthers von der Vogelweide zitiert? In Walthers Text (er ist auf S. 171 vollständig abgedruckt) erzählt einer, wie er einmal allein auf einem Stein saß, ein Bein über das andere geschlagen, den Ellenbogen aufs Knie gestützt und das Kinn in die Hand geschmiegt: Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine. dar ûf sazte ich den ellenbogen, ich hete in mîne hant gesmogen mîn kinne und ein mîn wange. In Ulla Hahns Reim »viel lange« auf »wange« klingt Walther noch nach, weil sein Text mit dô dâht ich mir vil ange (›da dachte ich sehr eingehend darüber nach‹) fortfährt. Vil lange hätte man auf Mittelhochdeutsch für ›sehr lange‹ gesagt. Der Gegenstand des Nachdenkens ist bei Walther dann, dass die drei wichtigsten Lebensziele – Besitz, gesellschaftliches Ansehen und die göttliche Gnade, die zur ewigen Glückseligkeit führt – nur schwer miteinander zu vereinbaren sind. Wir müssen ein wenig enttäuscht sein und den Verdacht bestärkt sehen, dass das nicht viel mit Ulla Hahns Thema zu tun hat und das Zitat bloß Bildungsgetue ist. Oder sind es vielleicht gerade die Unterschiede zu Walther, die dem Zitat in Ulla Hahns Bedeutungsaufbau einen Sinn geben? Einmal ist einer allein und hat Kinn und Wange in die eigene Hand geschmiegt, die auf den eigenen Ellenbogen gestützt ist. In dieser Körperhaltung klagt er darüber, wie schwer es ist, die wichtigsten Lebensziele zu erreichen. Unter ihnen kommt die Liebe nicht vor, aber in Gestalt der göttlichen Gnade die ewige Glückseligkeit, die man im Himmel erreicht. Aha – der Himmel. Das andere Mal ist eine (oder einer, je nach Identifikationsvermögen) nicht allein und hat Kinn und Wange in einen anderen Ellenbogen geschmiegt. Hier gibt es nichts zu klagen, weil dieser Ellenbogen als Zeichen für ein erotisches Objekt den Himmel als Zeichen für die Glückseligkeit bedeutet. Wer Walthers Text kennt, kann der Metapher ›der Himmel‹ eine Bedeutung ablesen, die auf dem Unterschied zwischen beiden Texten beruht: Ulla Hahn setzt die Liebe an die Stelle, an der bei Walther die Gnade Gottes als Weg zur Glückseligkeit steht. Nun versteht man besser, weshalb manche Formulierungen des Gedichts witzig wirken. Wenn der Himmel, wie bei Walther, im Jenseits liegt, ist die Glückseligkeit eine ewige und bleibt sich deshalb immer gleich. Wenn sich der Himmel dagegen beim diesseitigen Geliebten finden lässt, ist die Glückseligkeit zwangsläufig endlich – und womöglich auch nicht mehr stets dieselbe. Der alte Bedeutungsumfang der himmlischen Ewigkeit ist uns aber immer noch nicht ganz fremd geworden; deshalb lächeln wir darüber, dass das früher einmal zeitlose Glück »seit heute Nacht« einen neuen Ort und einen neuen Anfang hat. Und wir verstehen, dass die Dauer des Glücks unter diesen Umständen bloß noch eine Angelegenheit des subjektiven Erlebens sein kann: Wenn der Himmel erst seit heute Nacht in jenem Ellenbogen liegt, kann die »viel lange Zeit« des Schmiegens nach dem objektiven Stundenmaß nicht sehr lange gedauert haben. Zu Walthers Zeit war die himmlische Glückseligkeit objektiv ewig; in der subjektiv empfundenen Dauer klingt das immer noch nach. Und nun versteht man auch, weshalb das Gedicht, das die Verweltlichung der Vorstellung vom Glück anklingen lässt, zwangsläufig profan endet. Heutzutage muss auch der Himmel essen; freundlicherweise deutet Frau Dr. Hahn nur dezent an, dass er folglich auch verdauen wird. Der Magen macht deutlich, wie sehr der in Rede stehende Himmel »von dieser Welt« ist, und damit sind wir wieder beim Unterschied zu Walthers Glückseligkeit, die nicht von dieser Welt war. So lässt das Ende des Gedichts verhältnismäßig offensichtlich werden, worum es geht. Das Walther-Zitat signalisiert, dass wir seinen Text kennen müssen, um Ulla Hahn verstehen zu können. So weit, so gut; wir haben das Spiel mitgespielt und das Bedeutungsangebot des Gedichts dabei aufgegriffen, jedenfalls auf eine mögliche Weise, und uns so einen Sinn zusammengereimt. Aber wozu das komplizierte Verfahren? Warum sagt Frau Hahn nicht einfach, dass die gelungene erotische Beziehung im Diesseits heute den Stellenwert hat, den früher die ewige Glückseligkeit im Jenseits hatte, dass das Glück dabei aber vergänglich und profan wurde? Welches Bedeutungsangebot spielt sie uns mit ihrer Verfahrensweise zu? Sie führt uns, leichthändig und ein wenig kokett, den Zusammenhang zwischen der Geschichtlichkeit der Literatur und ihrer Funktion vor, indem sie die Literaturgeschichte im Text aufscheinen lässt. Aus diesem Grund steht ihr Gedicht am Anfang dieses Buches. Was wir erleben und was wir sprachlich zum Ausdruck bringen, signalisiert das Gedicht, ist von Bedeutungsmustern geprägt, die im Lauf der Geschichte entstanden sind. Wahrscheinlich werden in der Tat nur Germanist:innen einen gelungenen erotischen Kontakt in den Worten Walthers von der Vogelweide erleben und beschreiben – als Schmiegen von Kinn und Wange in einen Ellenbogen, der den Gedanken an den Begriff der Glückseligkeit herbeiruft. Aber auf irgendwelche Formulierungsmuster, irgendwelche Ausdrucksformen, irgendwelche Bedeutungskonstruktionen ist jedes Wahrnehmen und Fühlen, jedes Denken und Sprechen angewiesen, auch wenn wir es für intim, persönlich und individuell halten. Indem wir etwas erleben und zum Ausdruck bringen, ordnen wir ihm Bedeutungen zu, die auf geschichtlich entstandenen Konventionen beruhen. Schon die Wörter und die Satzmuster, die wir benutzen, sortieren die Welt in einer bestimmten Art und Weise, die wir als Sprachbenutzer:innen vorfinden. Metaphern wie ›der Himmel‹ für ›das Glück‹, signalisiert Ulla Hahn, bringen zum Ausdruck, wie wir die Welt erleben. Ihre Funktion, Modelle für das Welterleben und für das Reden über die Welt zu liefern, beruht auf den Bedeutungskonventionen, die in der Geschichte der Metapher entstanden sind: Der Geliebte kann den Himmel bedeuten, weil der Himmel einmal eine religiöse Bedeutung hatte. Indem wir einen Geliebten als Himmel erleben und bezeichnen, nehmen wir die alte Bedeutung auf, aber wir verändern sie zugleich: Denn der Himmel ist nun von dieser Welt, einsachtzig groß und morgens hungrig. Vielleicht wird dieses...


Hübner, Gert
Prof. Dr. Gert Hübner (verstorben) lehrte an der Universität Basel.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.