E-Book, Deutsch, 271 Seiten
Reihe: wbg Paperback
Hirschfelder / Trummer Bier
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-534-74728-3
Verlag: wbg Paperback in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die ersten 13.000 Jahre
E-Book, Deutsch, 271 Seiten
Reihe: wbg Paperback
ISBN: 978-3-534-74728-3
Verlag: wbg Paperback in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gunther Hirschfelder hat seit 2010 die Professur für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg inne. Publikationen u. a.: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute; Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (2 Bde.) PD Dr. Manuel Trummer ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte sind die Populären Literaturen und Medien, die Kulturanalyse des Raums mit den Schwerpunkten Medien und Regionalität sowie Cultural Food Studies. Publikationen u. a.: Das Ländliche als kulturelle Kategorie. Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort 5
1. Erfolgsprodukt und Megaphänomen: Einführung in die Kulturgeschichte des Bieres 9
2. Rituelles Nahrungsmittel und Kulturgetränk: Die Biergeschichte als Zivilisationsgeschichte 20
3. Zwischen Euphrat und Tigris: Mesopotamien als frühes Land des Bieres 31
4. Das alte Ägypten: Bier und die Ordnung der Welt 46
5. Nord gegen Süd? Bier als kultureller Indikator der antiken Welt 60
6. Rückkehr des Archaischen: Bier im frühmittelalterlichen Europa 82
7. Bier erobert die Stadt: Professionelles Brauwesen im Hoch- und Spätmittelalter 99
8. Technik, Krieg und Neue Welt: Die heterogene Bierkultur der frühen Neuzeit 128
9. Bier geht um die Welt: Industrialisierung, Nationalisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert 154
10. "GlobALE": Mainstream kontra Biervielfalt im 20. und 21. Jahrhundert 191
13.000 Jahre Bier: Versuch einer Bilanz 218
Anhang
Anmerkungen 223
Literaturverzeichnis 250
Bildnachweis 271
2. Rituelles Nahrungsmittel
und Kulturgetränk
Die Biergeschichte als Zivilisationsgeschichte
Am Anfang stand das Bier. Seine Bedeutung für die menschliche Zivilisation spiegelt sich bereits im babylonischen Gilgamesch-Epos, einer der ältesten schriftlichen Quellen der Menschheitsgeschichte. Das Werk entstand wohl um die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends im Vorderen Orient. Es erzählt von den Abenteuern König Gilgameschs, des großen Herrschers von Uruk. Die zuerst in sumerischer Sprache verfassten Keilschrifttafeln fanden weite Verbreitung in den frühen Gesellschaften Mesopotamiens. Unzählige Male abgeschrieben, überdauerten sie so den Untergang der sumerischen Sprache und gingen in die Literatur und Sprachen der nachfolgenden Zivilisationen des Zweistromlandes ein.1
Im Epos von Gilgamesch begegnet uns auch Enkidu, die Symbolfigur eines Naturmenschen. Durch den Konsum des Kulturgetränkes Bier entfremdet er sich von der Sphäre der Natur und wird zum zivilisierten Menschen. Mit Gazellen und Löwen in der Steppe aufgewachsen, gerät der wilde Enkidu ins Visier des Königs Gilgamesch. Der schickt die Priesterin und Dirne Schamchat. Sie verführt Enkidu und leitet ihn in ein Hirtenlager. Hier, an der Schwelle von Natur und Zivilisation, von nomadischen Lebensformen und sesshafter Kultur, vollzieht sich die zweite Menschwerdung Enkidus: Mit sieben Krügen Bier und gebackenem Brot tritt er in die zivilisatorische Gemeinschaft ein.2
„Brot legten sie ihm vor.
Bier stellten sie ihm hin.
Nicht aß Enkidu das Brot, ratlos schaut er in die Runde.
(Denn) Brot zu essen hatte er nie erlernt,
und Bier zu trinken blieb ihm unbekannt.
Die Dirne sagt zu ihm, zu Enkidu:
‚Iß doch, Enkidu, vom Brot, das zu dem Menschen gehört!
Trink doch, Enkidu, vom Bier, das dem Kulturland bestimmt!‘“3
Nicht nur der Mythos, auch die moderne Archäologie verfügt über schlüssige Argumente, die einen engen Zusammenhang zwischen der Entdeckung alkoholhaltiger Getränke und der Sesshaftwerdung der frühen Kulturen nahelegen. Fast alle Szenarien versetzen uns dabei in den Vorderen Orient in der Zeit vor 13.000 bis 10.000 Jahren. Die Innovationen fanden in einem Gebiet statt, das etwa von den Tempelanlagen Göbekli Tepes und den frühen Stadtformen Catal Hüyüks in Zentralanatolien über das Zagrosgebirge im nördlichen Iran bis an die Mündung von Euphrat und Tigris in den Persischen Golf reichte.
Von besonderer Bedeutung erweisen sich dabei Funde aus der Region des heutigen Palästina. Hier stoßen wir etwa 11.000 Jahre v. Chr. auf eine sich ausdifferenzierende Jäger-und-Sammler-Kultur, die nach Fundorten im Wadi an-Natuf als Natufien benannt ist. Das Natufien der Levante und verwandte regionale Kulturen hinterließen einen Horizont von Funden, in dem sich die Möglichkeit und die Fähigkeit einer ersten frühen Bierherstellung widerspiegeln. Unabdingbar für die Herstellung von Bier war damals wie heute das Vorhandensein von Getreide. Wie die Enkidu-Episode zeigt – er trinkt Bier und speist Brot –, stehen der Anbau und die Verarbeitung von Getreide und das Brauen in diesem epochalen Übergang der Zivilisationsgeschichte in einem engen Zusammenhang.4
Genau hier, an den bedeutenden Fundorten des Natufien, belegen Ausgrabungen diesen Wandel der menschlichen Lebensweisen. In Tell Abu Hureyra etwa, im heutigen Syrien, ist wilde Gerste nachgewiesen. Etwa 200 jungsteinzeitliche Siedler lebten hier ganzjährig als Jäger und Sammler, bevor sie damit begannen, aktiv Getreide zu domestizieren. Auch Vorläufer unseres Roggen, die alte Weizenart Emmer und vor allem deren biologischer Ahne Einkorn, befinden sich unter den gesicherten Nahrungsüberresten. Sachkulturelle Relikte flankieren die Funde aus den Nahrungsresten von Tell Abu Hureyra. So belegen Feuersteinsicheln eine Erntepraxis von wildem und später auch von gezüchtetem Getreide in der Zeit um 10.000 v. Chr.
Lebensweise im Wandel:
Der Rausch als Motor des Sesshaftwerdens?
Ebenfalls gut 11.000 Jahre alt sind Überreste von Gebäuden in Bad el-Dhra auf dem Gebiet des heutigen Jordanien. Die in ihnen gefundenen Spuren verarbeiteter wilder Gerste legen die Verwendung der Bauwerke als Kornspeicher oder womöglich sogar als Darren für Getreide nahe. Gerade die Lagerung von Getreide musste einen gewaltigen Schritt für die Domestizierung und gezielte Aussaat von Samen in den Kulturen an der Schwelle zur Sesshaftwerdung bedeutet haben.
Um diesen Zeitpunkt setzte 2012 auch ein Team von Nahrungsarchäologen um Brian Hayden den Beginn der Kulturgeschichte des Brauens an. Das Besondere: Hayden betrachtet die Herstellung von Bier als wesentliches Moment in der Sesshaftwerdung sowie der Domestizierung von Getreide.5 Diese aufregende Verbindung von Bier und Zivilisationsgeschichte geht dabei von einer prinzipiellen Frage aus, die bis heute nicht abschließend beantwortet werden kann: Warum gaben die Jäger und Sammler des Natufien und ähnlicher Kulturen eine gesicherte nährstoff-, fleisch- und proteinreiche Ernährung auf und vollzogen den Schritt zu einer extrem aufwendigen und – angesichts mangelnder Anbau- und Ernteerfahrung – auch äußerst riskanten Ernährung auf der Grundlage domestizierter Gräser?
Die kanadischen Wissenschaftler folgerten, dass nur eine besondere, rituelle Verwendung dieser Nahrungsmittel – etwa in Tempelanlagen wie Göbekli Tepe, in dessen Nähe der Anbau von Einkorn nachgewiesen ist – den enormen Aufwand von Getreideanbau und die Beschaffung von Getreide von entfernten Orten sinnvoll begründeten. Gerade in ansonsten nahrungsreichen Siedlungsstätten, wie in Tell Abu Hureyra, erschienen religiöse Gründe und ritueller Rausch als einzig plausible Erklärung für die unverhältnismäßigen Mühen, die sich aus der Domestizierung und dem Transport von Korn ergaben.6 Hayden kommt zum Schluss:
„Die Herstellung von Bier ist einer von wenigen möglichen Kandidaten für die Motivation, frühe Getreidearten zu beschaffen und deckt sich mit dem exzessiven Aufwand, der auch heute noch in traditional geprägten Gesellschaften betrieben wird, um Bier herzustellen.“7
Der Wunsch nach Rausch als Motor für die Sesshaftwerdung der Menschheit? Bier als Treibstoff für einen der größten Epochenwandel der Menschheit? Andere Forscher äußern sich dazu weitaus zurückhaltender.8 So könnte auch ein Einbruch der Temperaturen im Rahmen eines kleinen Klimawandels und ein Fernbleiben der großen Wildtierherden zu einer zivilisatorischen Revolution der Jäger und Sammler der Jungsteinzeit an Orten wie Tell Abu Hureyra oder Bad el-Dhra geführt haben. Der britische Prähistoriker Andrew Sherratt etwa sieht in der Entdeckung des Bieres lediglich einen zweiten Folgeschritt der Domestikation von Getreide. Doch unabhängig von der Frage, ob das Bedürfnis nach Bier den Anbau von Getreide beflügelte, oder – wovon die meisten Forscher heute ausgehen – der vergärte Gerstensaft ein Begleitprodukt der neolithischen Revolution um 10.000 v. Chr. bildete, markiert der Beginn der Brau- und Bierkultur einen markanten Punkt in der Geschichte der Menschheit: Die frühen Gesellschaften beginnen, sich über eine komplexe Verarbeitung von Ernährung kulturell auszudifferenzieren.9 Biergeschichte gerät zur Zivilisationsgeschichte.
Die Spezialisierung der Arbeitsschritte führte zu einer Ausdifferenzierung einzelner Landwirtschafts- und Handwerkszweige und ließ Ernährung zum Statussymbol werden. Bier als Luxusprodukt markierte nun nicht nur besondere religiöse und rituelle Anlässe im Jahreslauf und formierte so im Sinne der Anthropologin Mary Douglas über den Rausch eine Gemeinschaft, sondern avancierte rasch zum Konsumgut von Herrschaftseliten, Beamten oder Priestern. Der Anthropologe Alexander Joffe führt einen breiten Bestand an ikonographischem Schmuck und keramischen Entwicklungen an, die ab 5000 v. Chr. im frühen Sumer die bedeutende soziale Rolle des alkoholischen Getränks Bier betonten. Der Beitrag von Bier und anderen alkoholischen Getränken zur sozialen Ausdifferenzierung und Urbanisierung der frühen mesopotamischen Stadtstaaten sei, so Joffe, als kulturstiftendes Element kaum zu unterschätzen.10
Der Brauvorgang:
ein Prinzip, viele Biere
Was ist nötig, um aus dem Korn Bier zu produzieren?11 Bier unterscheidet sich in seiner Herstellungsweise von allen anderen alkoholischen Getränken. Die Zuckergewinnung aus einem stärkehaltigen Grundprodukt stellt den wesentlichen Unterschied zu Wein oder Met dar. Bei Letzteren ist der Zucker bereits im Grundprodukt, der Frucht oder dem Honig, vorhanden.
Der erste Schritt: Aus Getreide gewinnt der Brauer durch Keimung mittels Wasser- und Wärmezufuhr Malz. Diese künstlich provozierte Keimung aktiviert im Korn Enzyme. Die Enzyme wiederum verwandeln die im Korn enthaltene Stärke in Malzzucker. Dieser Zucker wird später mit Hilfe von Hefe zu Alkohol vergoren.
Der Vorgang des Weichens nimmt etwa zwei Tage in Anspruch. In speziellen, mit Wasser gefüllten Weichgefäßen trennen sich auch Spreu und leere Hülsen vom vollgesogenen Korn. Die eigentliche Keimung beginnt, nachdem das feuchte Getreide auf Tennen oder in Keimkästen verbracht wurde. Etwa nach fünf Tagen unterbricht der Brauer die Keimung des entstandenen Grünmalzes und macht es auf Darren durch Trocknung und Röstung zu halt- und verarbeitbarem Malz. Über den Grad der Röstung und den Feuchtigkeitsgehalt des verwendeten Keimgutes lassen sich bereits erste...