E-Book, Deutsch, Band 1847, 304 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Heißerer Wo die Geister wandern
2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-406-70253-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Literarische Spaziergänge durch Schwabing
E-Book, Deutsch, Band 1847, 304 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-70253-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schwabing war das legendäre Münchener Künstlerviertel, „wo Geister noch zu wandern wagen“ (Stefan George). Aus dem alten Dorf vor den Toren der Stadt wurde eines der quirligsten Quartiere mit einer ausgeprägten Bohème. Dirk Heißerer führt in seinem berühmten literarischen Stadtführer durch Straßen und an Plätze, die Erinnerungen an Künstler und Dichter wachrufen: an die Zeitschrift Simplicissimus mit ihren vielen prominenten Mitarbeitern, die Brüder Mann, die Künstler des Blauen Reiter, Rilke, Brecht, Wedekind und viele andere. Das Buch ist ein Stadtführer und eine kompakte Literatur- und Kulturgeschichte in einem.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturgeschichte und Literaturkritik
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Regional- & Stadtgeschichte
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Tourismus & Reise Reise & Urlaub: Führer, Landkarten, Pläne
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;2
4;Über den Autor;2
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Einleitung;9
8;Zitat;9
9;Im Zirkus der Moral;18
9.1;Prolog;18
9.2;Der falsche Student;20
9.3;Frühlings Erwachen;23
9.4;Die Büchse der Pandora;28
9.5;Simplicissimus;30
9.6;Elf Scharfrichter;33
9.7;Prinzregentenstraße 50;39
9.8;Epilog;42
10;Die erste Adresse der Satire;44
10.1;Der Verleger Albert Langen und seine Mitarbeiter;44
10.2;Drei Zeichner: Th. Th. Heine, Olaf Gulbransson, Karl Arnold;50
10.3;Zwei Autoren: Ludwig Thoma, Gustav Meyrink;64
11;Eine Wirtin und ihr Hausdichter;77
12;In kleinen Junggesellenwohnungen;89
12.1;Stubenreine Bohème;89
12.2;Frau Permaneder (Theresienstraße 82);91
12.3;Der Kleiderschrank (Marktstraße 5);92
12.4;Wo Buddenbrooksbeendet wurden (Feilitzschstraße 5);98
12.5;Gladius Dei am Odeonsplatz;102
12.6;Etabliert (Franz-Joseph-Straße 2);104
12.7;In der «besseren Gesellschaft»: Die Zeit im Herzogpark (1910–1933);106
13;Unstet;110
14;Die Insel;118
15;Kosmos für Eingeweihte;128
15.1;Pilgerfahrten;129
15.2;«Kosmiker» in München;131
15.3;Maximin;135
15.4;Im Kugelzimmer;141
15.5;Beim Propheten: Thomas Mann zu Besuch bei Ludwig Derleth;146
15.6;Bücher, Bücher, Bücher, Bücher: Wolfskehl;151
16;Wahnmoching;157
16.1;Herkunft;158
16.2;Befreiung;159
16.3;Das Kind;162
16.4;Mutter und Hetäre;164
16.5;Im Eckhaus;165
16.6;Abstieg und Flucht;171
16.7;In Ascona;172
17;Um die Traumstadt Perle;176
18;Der Blaue Reiter;186
18.1;Wege zur Abstraktion: Wassily Kandinsky und Gabriele Münter;188
18.2;Mitstreiter: Franz Marc;198
18.3;Wirkungen: Hugo Ball;205
18.4;Marcel Duch207
18.5;Im eigenen Kreis;208
19;Lichtform;210
19.1;Lehrzeit;211
19.2;Zwischenzeit;213
19.3;Im Dunkel der Ainmillerstraße 32;214
19.4;Ins Freie;216
19.5;Im Licht der Farbe;219
19.6;Krieg;222
19.7;Atelier im Schloss Suresnes;222
20;In fremden Zimmern;230
20.1;Der Student;230
20.2;Lou Andreas-Salomé;232
20.3;Unterwegs;234
20.4;Wieder in München;235
20.5;«Wächter am Picasso» (Widenmayerstraße 32);236
20.6;Am Englischen Garten (Keferstraße 2);238
20.7;Ins Eigene (Ainmillerstraße 34);240
21;Orte der Gewalt;246
21.1;Hinter der Tapetentür: Ernst Toller;249
22;War einmal ein Revoluzzer;254
22.1;Widerspenstig;255
22.2;Der Revoluzzer;257
22.3;Im Café Stefanie;259
22.4;Anfang vom Ende;261
22.5;Revolution der Worte;264
22.6;Auf verlorenem Posten;267
23;Ausblicke;271
23.1;Johannes R. Becher und Heinrich F. S. Bachmair;271
23.2;Klabund und Marietta;273
23.3;Ein Außenseiter: Ret Marut (B. Traven);274
23.4;Die Weiße Rose;274
24;Trommeln in der Nacht;278
24.1;Baal;280
24.2;Lion Feuchtwanger;280
24.3;Unterwegs mit Arnolt Bronnen;281
24.4;Oskar Maria Graf;282
24.5;Trommeln in der Nacht. Karl Valentin;283
25;Literaturhinweise;286
26;Bildnachweis;294
27;Register;295
Im Zirkus der Moral
Frank Wedekind
Prolog
Brunnenplätschern am Wedekindplatz. Kleine Zeitinsel aus alten Bäumen, nostalgischen Laternen und einem alten Papierwarengeschäft am ehemaligen Marktplatz. Von keinem Ort in Schwabing geht es direkter in die Vergangenheit. Hier beginnt die Marktstraße, wo der junge Thomas Mann 1898 wohnte. Und hier beginnt seit 1891 die Occamstraße, benannt nach dem englischen Philosophen Wilhelm von Ockham (1285–1347), der als Nominalist erstmals streng zwischen Denken und Glauben unterschied, so die moderne Philosophie mitbegründete und, vom Papst gebannt, 1329 nach München floh, wo er sich unter den Schutz des bayerischen Kaisers Ludwig IV. (1282–1347) stellte. Die Occamstraße mündet seit 1961 in den Artur-Kutscher-Platz, der an den ersten Professor für Theaterwissenschaft in München und langjährigen Freund Frank Wedekinds (1864–1918) erinnert. Artur Kutscher (1878–1960) gab zusammen mit Joachim Friedenthal Wedekinds Werke aus dem Nachlass heraus und schrieb dessen erste und bis heute umfassendste Biographie. Die Occamstraße mit ihren beiden Plätzen bildet so die Schwabinger Achse einer zeitunabhängigen Moderne. Zur Einweihung des Wedekindplatzes 1959 meißelte der Bildhauer Ferdinand Filler eine auf einem Sockel sitzende weibliche Brunnenfigur – laut Tilly Wedekind eine griechische Nymphe – mit wallendem Haar, die sich mit einer Hand an die Stirn greift und mit der anderen eine Lyra hält, aus der ein dünner Wasserstrahl fällt. Nach den am Fuß der Stele über Wedekinds Unterschrift gerade noch lesbaren vier Verszeilen könnte hier aber auch Prinzessin Alma gemeint sein, die Tochter des Königs aus dem Wedekind-Stück König Nicolo oder So ist das Leben (1901, Uraufführung München 1902). Als König und Prinzessin aus ihrem Land Umbrien vertrieben worden sind, müssen sie sich auf dem Jahrmarkt durchschlagen. Dort wird der König als Komiker engagiert. Alma bietet sich als jugendlicher Bajazzo an, steigt auf einen Felsen und deklamiert: « Seltsam sind des Glückes Launen,/Wie kein Hirn sie noch ersann,/Daß ich meist vor lauter Staunen/Lachen nicht noch weinen kann! // Aber freilich steht auf festen/Füßen selbst der Himmel kaum,/Drum schlägt auch der Mensch am besten/Täglich seinen Purzelbaum. // Wem die Beine noch geschmeidig,/Noch die Arme schmiegsam sind,/Den stimmt Unheil auch so freudig,/Daß er’s innig lieb gewinnt!» Ferdinand Filler, Brunnenfigur (1959), Wedekindplatz Wer mag, kann in der Brunnenfigur und ihren Versen sogar eine Reminiszenz an die Loreley Heinrich Heines erkennen, dem Wedekind zum 50. Todestag 1906 eine Huldigung darbrachte, wobei er die gemeinsame Verachtung der Politik und die Hochachtung der sinnlichen Liebe betonte. Die Gemeinsamkeit mit Heine, durch den er nach eigener Aussage seine kindliche Unschuld verloren habe, markiert zugleich den besonderen Rang Wedekinds an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Stilistisch, vor allem durch die verschiedenen Grade der Ironie, können Wedekinds eingängige Lieder ihre Herkunft aus dem 19. Jahrhundert nicht verleugnen, doch sind sie frecher, direkter; und thematisch erobern sie Neuland, komprimieren sie die Themen der Dramen – die Probleme der Sexualität in der Pubertät, die Rolle der «femme fatale» Lulu als mehrfaches Objekt der Männerwelt, die Liebe in allen Varianten – zu dramatischen Couplets. Wedekind entlarvt prüde Moral als Machtmittel einer Gesellschaft, die mit der Sexualität alles freie Leben unterdrückt; die Gründe dafür, vor allem die fehlende eigene Aufklärung und damit Selbstbewusstheit, stellt Wedekind deutlich bereits in seinem Drama Frühlings Erwachen heraus, das 1890/91 in München geschrieben wird, 1891 als Buch erscheint – aber erst 1906 in Berlin uraufgeführt werden kann. Wenn jemand der Emanzipation die Bahn gebrochen hat, dann war es Frank Wedekind mit seinen Stücken und seinen Liedern; Bert Brecht, der in vielem an Wedekind anknüpfte, zählte ihn mit Tolstoi und Strindberg «zu den großen Erziehern des neuen Europa». Doch ist Wedekind auch heute noch aktuell? Sind die Aufführungen seiner ‹Klassiker› nicht tatsächlich Probleme von gestern in Inszenierungen von heute? Die massiven Behinderungen seinerzeit durch Zensur und Verbote scheinen zudem bis heute zu bewirken, dass sein Werk, wenn überhaupt, so nur in Ausschnitten, als Skandal- und Zensur-Thema wahrgenommen wird. Noch viel weniger war lange Zeit über das Leben dieses exemplarischen Außenseiters seiner Epoche bekannt, dessen Münchener Wohnungen und Schauplätze mit wichtigen Stationen seiner künstlerischen Entwicklung verbunden sind. Der falsche Student
Geboren wurde Benjamin Franklin Wedekind 1864 in Hannover als zweites von sechs Kindern des Arztes Friedrich Wilhelm Wedekind (1816–1888) und seiner Frau Emilie Kammerer (1840–1916). Der Vater, linksliberaler Kondeputierter (Ersatzmann) im Parlament der Frankfurter Paulskirche, war nach dem Scheitern der ersten deutschen Revolution 1849 nach Amerika ausgewandert. Emilie Kammerer folgte 1856 ihrer Schwester nach Südamerika, wo beide als Sängerinnen von Liedern, Arien und Duetten durch die Hafenstädte tingelten. Nach dem Tod der Schwester musste Emilie die Familie des Schwagers mit Konzert-, Theater- und schließlich Varieté-Auftritten durchbringen, die sie bis ans Deutsche Theater nach San Francisco führten. Dort lernten sich Friedrich Wedekind und die um fast 25 Jahre jüngere Frau kennen und heirateten 1862. Der Übersiedelung nach Hannover 1864 folgte – auch als Reaktion auf die deutsche Reichsgründung – 1872 der Umzug in die Schweiz, wo Friedrich Wedekind die Lenzburg im Kanton Aargau erwarb. Hier wuchs Franklin Wedekind auf; erst 1891 ließ er seinen zweiten Vornamen offiziell in Frank umändern. Nach dem Abitur gewährt der Vater seinem Sohn ein Probesemester Germanistik und französische Literatur in Lausanne, drängt dann aber auf ein solides Jurastudium. Frank und sein Bruder Armin, der Medizin studiert, kommen deshalb zum Wintersemester 1884/85 nach München und wohnen zunächst im Rückgebäude der Türkenstraße 30 bei einer freundlichen Wirtin namens Böhringer, der Frau eines herzoglichen Lakais. Die ersten Eindrücke sind überwältigend: «München ist eine pompöse Stadt, in der ich die ersten drei Tage wie ein Träumender umherirrte und vor lauter Eindruck nicht zum Ausdruck kam. (…) Jetzt hab ich mich schon ein wenig besser hineingefunden, besuche tagtäglich einige Kirchen und mehrere Paläste, ohne damit zu Ende zu kommen. Die Krone von allem ist aber doch das Theater» (an Frau Jahn, 6.XI.1884). Im ersten Winter in München geht Wedekind angeblich 84 Mal ins Theater – eine lebenslange Leidenschaft ist geweckt. Neben dem juristischen Colleg, zu dem ihn alles andere als Begeisterung hinzieht, belegt er noch Vorlesungen in Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. Während sein Bruder vom Sommersemester 1885 an in Zürich weiterstudiert, bleibt Frank in München und zieht in die Schellingstraße 27/III, wo noch drei andere Studenten wohnen. Dem Vater berichtet er, seine Wirtin gefalle ihm «sehr gut. Sie ist Wittwe und besorgt mir sehr pünktlich selber meine Wäsche und die Ausbesserung der Kleider.» Wedekind ist viel in der Stadt und der Umgebung unterwegs, geht in die Museen und in Konzerte, zeichnet selbst und hört weiter juristische und kunstgeschichtliche Vorlesungen. Seine eigene Muse schläft dabei etwas ein; erst als ihn eine sogenannte «falsche Rose» (Rotlauf) am Bein ins Krankenhaus zwingt, lebt sie wieder auf: Er schreibt Gedichte, beginnt zwei Balladen und vollendet ein (nicht erhaltenes) Trauerspiel sowie zwei Novellen. Damit gerät er auf seine eigene Spur. Dem Wunsch des Vaters, das Studium in Zürich fortzusetzen, folgt er nicht. Nach einem kurzen Besuch in Lenzburg ist Wedekind Anfang November 1885 wieder in München – unter der gleichen Adresse – und beginnt von nun an seine Eltern über seine Studien zu täuschen. Anstatt, wie er vorgibt, weiter fleißig Jura zu studieren, belegt er nur Vorlesungen über die Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie über Staatswissenschaft und Politik. Um sich aber keine Blöße zu geben, schreibt der junge Wedekind ausführliche Briefe über alle möglichen Erlebnisse nach Hause. Dieser «Verlegenheit» – Wedekind betrachtet sowohl die Briefe wie seine Tagebuch-Eintragungen in dieser Zeit als Stilübungen – ist ein hochinteressantes Zeitzeugnis anlässlich des Todes König Ludwigs II. zu verdanken. Wedekind ist dabei ein ebenso unabhängiger wie genauer Beobachter der auffälligen polizeilichen Reaktionen in der Stadt gegenüber den vielen Zeitgenossen, die ihrem Zweifel an der offiziellen Todesursache Ausdruck geben: «Die Bestürzung über die Todesnachricht war eine furchtbare, man glaubte nirgends mehr an die Geistesstörung des Königs, man sprach von List, Gewalt und Mord.» Schon vorher, an Karfreitag 1886, hat er sein erstes erhaltenes Drama, die «Große tragikomische...