Haushofer / Strigl | Die Wand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 285 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Haushofer / Strigl Die Wand

Roman
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92100-6
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 285 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-548-92100-6
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Hauptwerk der großen österreichischen Autorin Marlen Haushofers: zeitlos, klug und bewegend! »Wenn mich jemand nach den zehn wichtigsten Büchern fragen würde, dann gehörte dieses auf jeden Fall dazu.« Lesen! Die Wand, weite Natur und die große Einsamkeit Eine Frau will mit ihrer Cousine und deren Mann ein paar Tage in einem Jagdhaus in den Bergen verbringen. Nach der Ankunft unternimmt das Paar noch einen Gang ins nächste Dorf und kehrt nicht mehr zurück. Am nächsten Morgen stößt die Frau auf ein unsichtbares, glattes, kühles Hindernis - eine unüberwindbare Wand, hinter der Totenstarre herrscht. Abgeschlossen von der übrigen Welt, richtet sie sich inmitten ihres engumgrenzten Stücks Natur und umgeben von einigen zugelaufenen Tieren aufs Überleben ein... »Ich habe Die Wand schon dreimal gelesen und bin noch lange nicht fertig.« Nicole Krauss *** Eine Geschichte, die tief berührt und nachhaltig im Gedächtnis bleibt! ***

Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. Sie zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autor:innen des 20. Jahrhunderts und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Ihre Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und für Film und Theater adaptiert. 1970 starb sie in Wien.
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Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist. Im Lauf des vergangenen Winters sind mir einige Tage abhanden gekommen. Auch den Wochentag kann ich nicht angeben. Ich glaube aber, daß dies nicht sehr wichtig ist. Ich bin angewiesen auf spärliche Notizen; spärlich, weil ich ja nie damit rechnete, diesen Bericht zu schreiben, und ich fürchte, daß sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich erlebte.

Dieser Mangel haftet wohl allen Berichten an. Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein, und ich muß versuchen, die langen dunklen Wintermonate zu überstehen. Ich rechne nicht damit, daß diese Aufzeichnungen jemals gefunden werden. Im Augenblick weiß ich nicht einmal, ob ich es wünsche. Vielleicht werde ich es wissen, wenn ich den Bericht zu Ende geschrieben habe.

Ich habe diese Aufgabe auf mich genommen, weil sie mich davor bewahren soll, in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten. Denn ich fürchte mich. Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. Ich werde schreiben, bis es dunkel wird, und diese neue, ungewohnte Arbeit soll meinen Kopf müde machen, leer und schläfrig. Den Morgen fürchte ich nicht, nur die langen, dämmrigen Nachmittage.

Ich weiß nicht genau, wie spät es ist. Wahrscheinlich gegen drei Uhr nachmittags. Meine Uhr ist verlorengegangen; aber sie war mir schon vorher keine große Hilfe. Eine winzige, goldene Armbanduhr, eigentlich nur ein teures Spielzeug, das die Zeit nie richtig anzeigen wollte. Ich besitze einen Kugelschreiber und drei Bleistifte. Der Kugelschreiber ist fast ausgetrocknet, und mit Bleistift schreibe ich sehr ungern. Das Geschriebene hebt sich nicht deutlich vom Papier ab. Die zarten grauen Striche verschwimmen auf dem gelblichen Grund. Aber ich habe ja keine Wahl. Ich schreibe auf der Rückseite alter Kalender und auf vergilbtem Geschäftspapier. Das Briefpapier stammt von Hugo Rüttlinger, einem großen Sammler und Hypochonder.

Mit Hugo sollte eigentlich dieser Bericht anfangen, denn wäre seine Sammelwut und Hypochondrie nicht gewesen, säße ich heute nicht hier; wahrscheinlich wäre ich überhaupt nicht mehr am Leben. Hugo war der Mann meiner Kusine Luise und ein ziemlich vermögender Mensch. Sein Reichtum stammte aus einer Kesselfabrik. Es waren ganz besondere Kessel, die nur Hugo erzeugte. Leider habe ich, obgleich ich es mir oft genug erklären lassen mußte, vergessen, worin die Einmaligkeit dieser Kessel lag. Es tut auch gar nichts zur Sache. Jedenfalls war Hugo so vermögend, daß er sich irgend etwas Besonderes leisten mußte. Er leistete sich also eine Jagd. Ebensogut hätte er Rennpferde oder eine Jacht kaufen können. Aber Hugo fürchtete Pferde, und es wurde ihm übel, sobald er ein Schiff betrat.

Auch die Jagd hielt er nur des Ansehens halber. Er war ein schlechter Schütze, und es war ihm zuwider, arglose Rehe zu erschießen. Er lud seine Geschäftspartner ein, und die erledigten mit Luise und dem Jäger den vorgeschriebenen Abschuß, während er, die Hände über dem Bauch gefaltet, in einem Lehnstuhl vor dem Jagdhaus saß und in der Sonne döste. Er war so gehetzt und übermüdet, daß er einnickte, sobald er sich in einem Sessel niederließ – ein riesengroßer, dicker Mann, von dunklen Ängsten geplagt und von allen Seiten überfordert.

Ich mochte ihn gern und teilte seine Liebe für den Wald und ein paar ruhige Tage im Jagdhaus. Es störte ihn nicht, wenn ich mich irgendwo in der Nähe aufhielt, während er im Sessel schlief. Ich unternahm kleine Spaziergänge und freute mich über die Stille nach dem Getriebe in der Stadt.

Luise war eine leidenschaftliche Jägerin, eine gesunde, rothaarige Person, die mit jedem Mann anbändelte, der ihr über den Weg lief. Da sie den Haushalt verabscheute, war es ihr sehr angenehm, daß ich so nebenbei ein wenig für Hugo sorgte, Kakao kochte und seine zahllosen Mixturen mischte. Er war ja krankhaft besorgt um seine Gesundheit, was ich damals nicht recht verstehen konnte, weil sein Leben doch nur eine ständige Hetzjagd war und sein einziger Genuß ein Schläfchen in der Sonne. Er war sehr wehleidig und, abgesehen von seiner geschäftlichen Tüchtigkeit (die ich voraussetzen mußte), ängstlich wie ein kleines Kind. Er hatte eine große Liebe für Vollständigkeit und Ordnung und reiste immer mit zwei Zahnbürsten. Von jedem Gebrauchsgegenstand besaß er mehrere Exemplare; dies schien ihm Sicherheit zu verleihen. Im übrigen war er recht gebildet, taktvoll und ein schlechter Kartenspieler.

Ich erinnere mich nicht, jemals mit ihm ein Gespräch von einiger Bedeutung geführt zu haben. Manchmal unternahm er kleine Vorstöße in diese Richtung, ließ aber jedesmal vorzeitig davon ab, vielleicht aus Schüchternheit oder einfach, weil es ihm zu mühsam war. Mir war das jedenfalls sehr angenehm, denn es hätte uns doch nur in Verlegenheit versetzt.

Damals war immerzu die Rede von Atomkriegen und ihren Folgen, und das bewog Hugo dazu, sich in seinem Jagdhaus einen kleinen Vorrat von Lebensmitteln und anderen wichtigen Gegenständen einzulagern. Luise, die das ganze Unternehmen sinnlos fand, ärgerte sich darüber und fürchtete, es werde sich herumsprechen und Einbrecher anlocken. Sie hatte wahrscheinlich recht damit, aber in diesen Dingen konnte Hugo einen Starrsinn entwickeln, der nicht zu brechen war. Er bekam Herzbeschwerden und Magenkrämpfe, bis Luise ihren Widerstand aufgab. Es war ihr im Grund auch ganz gleichgültig.

Am dreißigsten April luden mich die Rüttlingers ein, mit ihnen zum Jagdhaus zu fahren. Ich war damals seit zwei Jahren verwitwet, meine beiden Töchter waren fast erwachsen, und ich konnte mir meine Zeit einteilen, wie es mir gefiel. Allerdings machte ich wenig Gebrauch von meiner Freiheit. Ich war immer schon eine seßhafte Natur gewesen und fühlte mich zu Hause am wohlsten. Nur Luises Einladungen schlug ich selten aus. Ich liebte das Jagdhaus und den Wald und nahm gerne die dreistündige Autofahrt auf mich. Auch an jenem dreißigsten April nahm ich die Einladung an. Wir wollten drei Tage bleiben, und es war kein weiterer Gast geladen.

Das Jagdhaus ist eigentlich eine einstöckige Holzvilla, aus massiven Stämmen gebaut und heute noch in gutem Zustand. Im Erdgeschoß ist eine große Wohnküche in Bauernstubenart, daneben ein Schlafzimmer und eine kleine Kammer. Im ersten Stock, um den eine Holzveranda führt, liegen drei kleine Kammern für die Gäste. Eine dieser Kammern, die kleinste, wurde damals von mir bewohnt. Etwa fünfzig Schritt entfernt liegt auf einem Abhang, der zum Bach abfällt, ein kleines Blockhaus für den Jäger, eigentlich nur eine einräumige Hütte, und daneben, gleich an der Straße, steht eine Brettergarage, die Hugo bauen ließ.

Wir fuhren also drei Stunden mit dem Wagen und hielten im Dorf, um Hugos Hund vom Jäger abzuholen. Der Hund, ein bayrischer Schweißhund, hieß Luchs und war zwar Hugos Eigentum, aber beim Jäger aufgewachsen und von ihm abgerichtet. Seltsamerweise war es dem Jäger gelungen, den Hund dahin zu bringen, daß er Hugo als seinen Herrn anerkannte. Luise allerdings beachtete er nicht, er gehorchte ihr auch nicht und ging ihr aus dem Weg. Mich behandelte er mit freundlicher Neutralität, hielt sich aber gern in meiner Nähe auf. Er war ein schönes Tier mit dunklem rotbraunem Fell und ein ausgezeichneter Jagdhund. Wir unterhielten uns ein wenig mit dem Jäger, und es wurde vereinbart, daß er am nächsten Abend mit Luise zur Pirsch gehen sollte. Sie hatte die Absicht, einen Rehbock zu schießen; die Schonzeit endete gerade am ersten Mai. Dieses Gespräch zog sich dahin, wie es eben auf dem Land üblich ist, und sogar Luise, die das nie verstehen konnte, zugehe ihre Ungeduld, um den Jäger, den sie notwendig brauchte, nicht zu verstimmen.

Erst gegen drei Uhr erreichten wir das Jagdhaus. Hugo ging sofort daran, aus dem Kofferraum seines Wagens neue Vorräte in die Kammer neben der Küche zu schaffen. Ich kochte Kaffee auf dem Spirituskocher, und nach der Jause, Hugo fing gerade an einzunicken, schlug Luise ihm vor, mit ihr noch einmal ins Dorf zu gehen. Es war natürlich die pure Bosheit. Jedenfalls ging sie sehr geschickt vor, indem sie Bewegung als unerläßlich für Hugos Gesundheit hinstellte. Gegen halb fünf Uhr hatte sie ihn endlich soweit und zog triumphierend mit ihm ab. Ich wußte, sie würden im Dorfwirtshaus landen. Luise liebte den Umgang mit Holzknechten und Bauernburschen, und es kam ihr nie in den Sinn, daß die verschlagenen Gesellen heimlich über sie lachen könnten.

Ich räumte das Geschirr vom Tisch und hängte die Kleidungsstücke in den Kasten; als ich damit fertig war, setzte ich mich auf die Hausbank in die Sonne. Es war ein schöner warmer Tag, und nach dem Wetterbericht sollte es auch heiter bleiben. Die Sonne stand schräg über den Fichten und mußte bald sinken. Das Jagdhaus liegt in einem kleinen Kessel, am Ende einer Schlucht, unter steil aufsteigenden Bergen.

Während ich so saß und die letzte Wärme auf dem Gesicht spürte, sah ich Luchs zurückkommen. Wahrscheinlich hatte er Luise nicht gehorcht, und sie hatte ihn zur Strafe zurückgeschickt. Ich konnte sehen, daß sie ihn gescholten hatte. Er kam zu mir, sah mich bekümmert an und legte den Kopf auf meine Knie. So blieben wir eine Weile sitzen. Ich streichelte Luchs und redete ihm tröstend zu, denn ich wußte ja, daß Luise den Hund ganz falsch...


Haushofer, Marlen
Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. 1946 veröffentlichte sie ihren ersten Text. Sie zählt heute mit Ingeborg Bachmann zu den Vorläuferinnen der modernen Frauenliteratur. Marlen Haushofer wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Sie starb 1970 in Wien.

Marlen Haushofer wurde am 11. April 1920 in Frauenstein/Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik in Wien und Graz und lebte später mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Steyr. Marlen Haushofer starb am 21. März 1970 in Wien. Sie gehört zu den wichtigsten Autorinnen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.



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