E-Book, Deutsch, 623 Seiten
Hardinge Das Mädchen ohne Maske
Novität
ISBN: 978-3-7725-4037-0
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 623 Seiten
ISBN: 978-3-7725-4037-0
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frances Hardinge, in Kent geboren und aufgewachsen, studierte Englisch an der Universität Oxford. Ihre Schriftstellerkarriere begann, als sie den Schreibwettbewerb eines Kurzgeschichtenmagazins gewann. 2005 veröffentlichte sie ihren ersten Roman 'Fly by Night'. Er wurde mit dem Branford Boase Award ausgezeichnet und war für den Guardian Award gelistet. Auch ihre anderen Bücher und Kurzgeschichten standen auf den Shortlists anderer Preise. Im Verlag Freies Geistesleben liegt bereits ihr Roman 'Wunsch Traum Fluch' vor.
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Das Kind im Käse Gesichtslos Eine Wendung zu viel Spinnen Wege, die sich kreuzen Betrug Lügen und nackte Gesichter Familie Das Morgenzimmer Tödliche Köstlichkeiten Arglistige Absichten Zwei halbe Leben Neugier und der Katzendieb Alles was wir brauchen Die Schöne und die Biester Die Jagd Die Schwachstelle Ein Tropfen Wahnsinn Die Kuhle Das verdorbene Gesicht Tränen auf Alabaster Die Spaltung Trümmer Heimweh Der Schrei im Traum Meister der Kunst Fluchtfreunde Lieb und teuer Die geheime Ausgrabung Auf dem Weg liegt Wahnsinn Oben trifft unten Vertraue dir selbst Katzen und Tauben Die Maske fällt Epilog Danke … Impressum
Das Kind im Käse
Prolog
Eines dunklen Tages kam Grandible zu der Überzeugung, dass sich etwas Lebendiges in seinen Käse-Tunneln befand. Dem Schlurfen und Scharren nach zu urteilen, war es größer als eine Ratte und kleiner als ein Pferd. In Nächten, in denen der Regen auf den Berghang hoch über ihm prasselte und Cavernas schier endloses Labyrinth von Gängen und Höhlen mit der Musik platschender und klimpernder Tropfen erfüllte, sang der Eindringling vor sich hin, vermutlich weil er dachte, dass ihn bei der Melodie des Wassers niemand hören konnte.
Grandible witterte sofort eine Hinterlist. Seine privaten Tunnel wurden durch Dutzende von Riegeln und Schlössern vom Rest der unterirdischen Stadt abgeschottet. Es war im Grunde genommen unmöglich, hier einzudringen. Aber seine Konkurrenten in der Kunst der Käsemacherei waren teuflisch und erfindungsreich. Zweifellos war es einem von ihnen gelungen, ein bösartiges Tier einzuschmuggeln, um ihn zu ermorden oder – schlimmer noch – seinen Käse zu verderben. Oder vielleicht war dies das Werk des berüchtigten und geheimnisvollen Kleptomancers, der immer darauf aus war, alles zu stehlen, wenn es nur für genügend Aufregung sorgte. Persönlicher Profit war ihm dabei egal.
Grandible bestrich die kalten Deckenrohre mit Mückentücke, in der Hoffnung, dass das unsichtbare Wesen das Kondenswasser von dem Metall ablecken würde, wenn es Durst hatte. Jeden Tag patrouillierte er durch seine Tunnel, in der Erwartung, irgendwo ein Tier zusammengerollt in der Ecke liegen zu sehen, dem Tode nahe, mit Schaum vor dem Maul. Jeden Tag wurde seine Erwartung enttäuscht. Er legte Fallen mit gezuckertem Stacheldraht und in Honig getauchte Skorpionstacheln aus, aber das Wesen war einfach zu raffiniert.
Grandible wusste, dass das Tier in den Tunneln nicht lange überleben würde – nichts konnte hier unten überdauern –, aber die fremde Gegenwart nagte an seinem Gemüt wie seine Zähne an einem kostbaren Käse. Er war es nicht gewohnt, ein anderes Geschöpf in der Nähe zu wissen, und er hieß es ganz gewiss nicht willkommen. Die meisten, die in der sonnenlosen Stadt Caverna lebten, hatten der Welt außerhalb des Berges den Rücken gekehrt, aber Grandible wollte sogar mit dem Rest von Caverna nichts zu tun haben. In den fünfzig Jahren seines Lebens hatte er sich immer mehr zurückgezogen, und jetzt verließ er seine privaten Tunnel nur noch sehr selten und sah kaum noch ein menschliches Gesicht. Der Käse war Grandibles einziger Freund, seine einzige Familie, und die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Aromen und Konsistenzen nahm den Platz von Gesprächen ein. Die Käselaibe waren seine Kinder, die mit ihren Mondgesichtern auf den Regalen lagen und darauf warteten, von ihm gebadet, gewendet und gehätschelt zu werden.
Doch es kam der Tag, an dem Grandible etwas entdeckte, das ihn zu einem tiefen Seufzer veranlasste und dazu führte, dass er all seine Fallen und sein Gift beiseite räumte.
In einem großen Rad Withercream-Käse, der noch reifen musste und dessen pockennarbige Haut mit Wachs überzogen war, um ihn zu schützen, gähnte ein Loch. Das weiche Wachs war aufgerissen. Luft drang an das heimliche Herz des Käses und ruinierte ihn. Aber es war nicht der verdorbene Käse, der Grandibles Herz beschwerte. Der Abdruck, der das Loch in das Wachs gerissen hatte, hatte die Form eines Kinderfußes.
Ein Kind war es also, das versuchte, mithilfe der außergewöhnlichen Käsesorten, die Grandibles ausgefeilte und durch nichts zu übertreffende Kunst hervorbrachte, am Leben zu bleiben. Selbst der Hochadel riskierte nicht mehr als hier und da ein Scheibchen von jener reichhaltigen Köstlichkeit. Ohne auch nur einen Kanten Brot oder einen Schluck Wasser, um seinen empfindlichen Magen vor dem Ansturm einer solchen Delikatesse zu schützen, hätte dieses Kind genauso gut Rubine zerkauen und mit geschmolzenem Gold durch die Kehle waschen können. Von nun an stellte Grandible Schüsseln mit Wasser und halbe Brotlaibe in die Tunnel, aber sie blieben unberührt. Seine Fallen hatten das Kind offensichtlich misstrauisch gemacht.
Die Wochen vergingen. Manchmal fand Grandible tagelang keine Spur von dem Kind und kam jedes Mal mit gefurchter Stirn zu dem Schluss, dass es umgekommen sein musste. Doch kurz darauf entdeckte er in einer anderen unterirdischen Gasse ein Häufchen angeknabberte Käserinde und erkannte, dass das Kind lediglich ein neues Versteck gefunden hatte. Da konnte er sich den Tatsachen nicht mehr verschließen: Das Kind würde nicht sterben. Das Kind wurde nicht einmal krank. Das Kind labte sich an den unschätzbaren Kostbarkeiten des Käsereichs.
Manchmal wachte Grandible nachts auf, aufgeschreckt aus einem abergläubischen Traum, in dem ein milchweißer Kobold mit winzigen Füßen vor ihm hertapste und winzige, kaum sichtbare Fußabdrücke in Stilton, Boilie und Teifi hinterließ. Wäre die Sache noch einen Monat so weitergegangen, hätte Grandible sich selbst für verhext erklärt. Aber ehe es dazu kam, bewies das Kind dem Käsemeister, dass es weder Geist noch Kobold war, sondern ein durchaus irdisches Kind, indem es in ein Fass mit Neverfell-Milch fiel.
Grandible hatte nichts Ungewöhnliches gehört, denn die sahnige Dickmilch dämpfte das Platschen. Selbst als er sich über das breite Fass beugte und den feinen, leichten Glanz auf dem sich absetzenden Käse bewunderte und die Risse, die sich schnurgerade über die Oberfläche zogen, wie bei einer Karamellcreme, wenn er den Finger hineinsteckte, bemerkte er nichts. Erst als er sich vorbeugte und mit einem Käsemesser ausholte, um den weichen Quark abzuteilen, fiel Grandible plötzlich eine längliche Vertiefung in der Dickmilch auf, wo der Käse eingedrückt oder zur Seite geschoben worden und ein grünlicher Schatten unter der Oberfläche zu sehen war. Der Schatten hatte in etwa die Form einer kleinen menschlichen Gestalt, die Arme und Beine abgespreizt. Von einem Ende der Form quollen dicke Blasen an die Oberfläche, wo sie mit einem zähen zerplatzten.
Einige Sekunden lang blickte er blinzelnd auf dieses merkwürdige Phänomen, ehe ihm klar wurde, was es bedeutete. Dann warf er das Messer beiseite, packte eine große hölzerne Käseschaufel und stieß sie tief in die bleiche, dickflüssige Masse. Er schob und drückte gegen die Quarkstücke, verteilte sie hierhin und dorthin, bis er ein Gewicht am Ende der Schaufel spürte. Mit den Knien stemmte er sich gegen das Fass und drückte das Ende der Schaufel nach unten, wie ein Fischer, der einen Babywal einholt. Das Gewicht ließ jede Muskelfaser in seinem Körper erzittern, aber endlich tauchte eine Gestalt aus der Quarkmasse auf. Undefinierbar und mit Käsestückchen verklebt, klammerte sie sich mit allem, was sie hatte, an die Schaufel.
Sie purzelte aus dem Fass, niesend und prustend und hustend, gehüllt in einen zarten milchigen Schleier, während er keuchend neben ihr zu Boden sank, atemlos und völlig erledigt nach der unerwarteten Anstrengung. Das Kind war, der Größe nach zu urteilen, sieben oder acht Jahre alt und so hager wie eine Weidenrute.
«Wie bist du hier hereingekommen?», fragte er knurrend, als sein Atem wieder ruhiger ging.
Das Kind gab keine Antwort, sondern saß zitternd und bebend wie ein Sahnepudding da und starrte unter bleichen, suppigen Wimpern vor sich hin.
Es bot einen erbärmlichen Anblick. Das vermutete Grandible wenigstens, denn er selbst hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, sich in irgendeiner Weise aufzuhübschen und «präsentabel» auszustaffieren, wie es bei Hof erwartet wurde. Im Gegenteil: Er hatte rebelliert. Er hatte mit voller Absicht die meisten der zweihundert Mienen vergessen, die man ihm – wie in Caverna üblich – im Kindesalter beigebracht hatte. In seinem halsstarrigen, selbst gewählten Exil trug er tagaus, tagein denselben Gesichtsausdruck, wie einen ausgeleierten Arbeitskittel. Niemals machte er sich die Mühe, ihn zu verändern. Miene Nr. 41 – – war für die meisten Lebenslagen völlig ausreichend. Er hatte diese Miene so lange getragen, dass sich der Ausdruck in seine Züge eingemeißelt hatte. Seine Haare waren zerzaust und ungekämmt, die Hände, mit denen er die Käseschaufel gepackt hatte, dunkel und rau von Wachs und Öl, als ob sich auch auf ihnen eine Rinde gebildet hätte.
Ja, es gab gute Gründe, warum sich ein Kind vor seinem Anblick ängstigen mochte, und vielleicht empfand dieses Kind tatsächlich Furcht. Aber andererseits war das vermutlich nicht mehr als Theater. Es glaubte wohl, dass es ihn am besten erweichen konnte, wenn es Angst und Schrecken zeigte. Es würde eine passende Miene aus seinem Repertoire ziehen, wie eine Karte aus einem Kartenspiel. In Caverna waren Lügen eine Kunst für sich, und alle waren Künstler, selbst die kleinsten Kinder.
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