Händler Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403052-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-10-403052-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. Er ist Autor der Romane »Das Geld spricht«, »München«, »Der Überlebende«, »Welt aus Glas«, »Die Frau des Schriftstellers«, »Wenn wir sterben«, »Sturm«, »Fall« und »Kongress« sowie des Erzählungsbandes »Stadt mit Häusern«. Mit »Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument« und »Die Produktion von Gesellschaft« hat Ernst-Wilhelm Händler eigene Kulturtheorien vorgelegt. Darüber hinaus schreibt er Essays über ökonomische, gesellschaftliche und künstlerische Themen. Für seine von der Kritik hochgelobten Romane erhielt er den Erik-Reger-Preis, den Preis der SWR-Bestenliste, den Kulturpreis der Stadt Regensburg und den Hans-Erich-Nossack-Preis.
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1. Sprache
Die engere Umwelt des Romans ist die Sprache, in der er geschrieben ist. Die Sprache, die der Einzelne spricht, beeinflusst seine kognitiven Operationen genauso wie seine emotionalen Reaktionen. Gesellschaft in einem anspruchsvollen Sinn ist ohne Sprache nicht denkbar. Es ist nicht möglich, den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang der Gesellschaft ohne Sprache zu begründen.
Die modernen Neurowissenschaften legen nahe, dass es im menschlichen Körper für die kognitiven und die Gefühlsprozesse verschiedene Schaltkreise gibt. Der Begriff Schaltkreis dient dabei lediglich als unzureichende Metapher für das im Kern ungeklärte Verhältnis zwischen der biologischen Hardware und dem, was sie beobachtbar leistet. Das Wissen über das Zusammenspiel der kognitiven und emotionalen Schaltkreise ist spärlich, Vermutungen dominieren das Feld. Weder über den Zusammenhang zwischen Sprache und kognitiven Operationen noch über das Verhältnis der Sprache zum Gefühlsbereich existieren mitreißende experimentelle Ergebnisse. Beim Hören von bestimmten emotional aufgeladenen Wörtern lassen sich Aktivitäten in bestimmten Gehirnarealen nachweisen, und es gibt etwa Hinweise, dass Sprecher unterschiedlicher Sprachen Farben unterschiedlich wahrnehmen.
Spannender wird es, wenn man Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft untersucht. So existiert zum Beispiel eine deutliche inverse Korrelation zwischen der Komplexität der Gesellschaft und derjenigen der inneren Struktur von Wörtern: Je einfacher, je weniger differenziert die Gesellschaft, desto mehr abgrenzbare und im Prinzip voneinander unabhängige Informationen vermittelt das einzelne Wort, je komplizierter die Gesellschaft, desto mehr wird das einzelne Wort zum Etikett. Im ersten Fall spielt die Zusammensetzung des Wortes eine entscheidende Rolle, im zweiten Fall ist sie nicht mehr wichtig. In einfacheren Gesellschaften ist für zwei Sprachbenutzer die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsamen Vorwissens groß, sie können sich darauf beziehen und sich kurz fassen. Entsprechende verweisende Ausdrücke verschmelzen und werden zu Wortbestandteilen, auf diese Weise werden im einzelnen Wort mehr verweisende Informationen untergebracht. In komplexeren, stärker differenzierten Gesellschaften ist die Schnittmenge des Vorwissens zweier Sprachbenutzer geringer, die mitzuteilende Information muss extensiver, durch Benutzung einer größeren Anzahl von Wörtern und unter Verzicht auf unverständliche Verweise, entwickelt werden.
Der überwiegende Teil der Sprachphilosophie von den Ursprüngen bis in die jüngere Gegenwart hinein fasst die Sprache als eine kognitive Großstruktur auf, die dem Einzelnen übergeordnet ist und die über das in ihr verkörperte Wissen und über von ihr generierte konventionelle Praktiken den Zusammenhang der Gesellschaft stiftet. Die Möglichkeit eines präverbalen Denkens wird verworfen, es gebe kein Denken ohne private oder öffentliche Sprache. Das Bewusstsein des Menschen sei sprachlich strukturiert. Ohne sprachliche Artikulation gebe es auch keine Moral. Eine Trennung zwischen Sprache und Denken sei nicht wirklich vorstellbar.
Der Ursprung der kognitiven Großstruktur Sprache wird entweder als natürlich oder als transzendent gesehen. Bei Beschränkung auf die Immanenz entsteht Sprache evolutionär, in Analogie zur Entwicklung der biologischen Attribute des Menschen in einem darwinistischen Prozess. Der literarisch interessantere Fall ist natürlich die Transzendenz. Die theologische Variante betrachtet die Sprache als Geschenk Gottes. Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang ist . Die Sprache sei aus dem Wort Gottes hervorgegangen, alle logischen sowie grammatischen Operationen und das Denken überhaupt verdankten sich allein diesem Ursprung. Selbst das einfachste sprachliche Artefakt sei göttlicher Natur. In den nichttheologischen Varianten wird zwar Gott geleugnet, aber es bleibt bei seinen geheimnisumwehten Wirkungen.
Sind die säkularisierten Menschen frei, über das Geschenk aus der Transzendenz zu verfügen? Selbst die Aufklärer und ihre unmittelbaren Nachfolger verteidigten noch glühend den transzendenten Ursprung der Sprache: Zuerst war der und dann der Mensch. Aber sie sahen die Sprache auch als Ressource, als universale Werkzeug der Erkenntnis. Die Sprache ermögliche es dem Menschen, Künste und Wissenschaften hervorzubringen und auf diese Weise seine Stellung im Universum zu definieren. Ein breiter Strang der Sprachphilosophie und der Literatur über Literatur – nicht zuletzt Gott selbst – verneint jedoch die Möglichkeit, dass der Mensch die Sprache als Werkzeug benutzen kann. Der Mensch sei nicht Herr der Sprache, sondern ihr Diener. Nicht der Mensch spreche die Sprache, die Sprache spreche den Menschen. Die Poesie, die Rede von Gott und von allem, was jenseits unserer Existenz ist, und als Spätkommender auch der Roman, seien nicht Früchte einer menschlichen Fähigkeit oder Fertigkeit, die darin bestünde, die Sprache zu beherrschen. Dergleichen anzunehmen wäre pure Hybris. Vielmehr regiere die Sprache den Menschen. Sie wähle einzelne Menschen aus, deren Privileg es sei, ein Sklavendasein zu führen: Der Seher, der Dichter, als neuzeitliche Kombination aus beiden auch der Romancier führe das aus, was ihm die von Gott gegebene Sprache sage.
Gemäß dem Meister aus Deutschland ist allein der Mensch in der Lage, das Problem des Seins anzugehen. Der Philosoph verlangte, dass sich der Mensch bedingungslos der Sprache unterwerfe. Geschehe das nicht, gerate die unüberbrückbare Differenz zwischen Sein und Dasein, zwischen Essenz und Existenz, in Vergessenheit. Diese Seinsvergessenheit habe zu zahllosen Irrtümern geführt, darunter als die schwerwiegendsten sowohl der Humanismus als auch die Wissenschaftsgläubigkeit. Wenn sich der Mensch der Sprache nicht verweigere, höre er, wie aus ihr das Sein selbst spreche. Wahrheit ist die Selbstaussage des Seins, . In der Gestalt des begegne das Sein dem Menschen und enthülle sich ihm. Diese Enthüllung sei jedoch eine so radikale, dass sie zugleich auch wieder ein Verbergen darstelle. Der Mensch sei der Hüter des , er höre auf ihn. Der Mensch nur, wenn er sich in Passivität der Ankunft der Sprache öffnet, wenn er sich aufnahmebereit der Lichtung des Seins stellt. Die Worte der poetischen Rede können jeweils nur diese und niemals andere sein, genau wie ihre Aneinanderreihung nur so und niemals anders geschehen kann. Wie die Sprache insgesamt ein Geschenk an den Menschen sei, stellten die Worte der poetischen Rede ein Geschenk an den Dichter dar. Nicht der Dichter spreche, er werde von der Sprache gesprochen. Die Sprache spreche, immer und allein sie.
Der zur selben Zeit in England erfolgreiche österreichische Transzendenzphilosoph benutzte hingegen keine ungewöhnlichen Komposita, auf sein Konto gehen auch keine Neologismen. Weil sein Begriff von zunächst die Logik war, später revozierte er, wurde er zu Unrecht als analytischer Philosoph geführt. Dabei klagte er, alles, was er besitze, sei Prosa, die zu einem bestimmten Punkt gelange. Das Ideal seiner Sprache war eingestanden dasjenige der Dichtung. Wäre es praktizierbar gewesen, hätte er seine Untersuchungen Gott gewidmet. Den Teil seines Werkes, den er nicht geschrieben hatte, betrachtete er als den wichtigeren. Ihn trieb die Frage um: Kann der Mensch so leben, dass das Leben aufhört, problematisch zu sein? Dass er im Ewigen und nicht in der Zeit? Aber er betrachtete diesen Wunsch nach gottgleicher Teilhabe am Unendlichen, an der Ewigkeit, auch als den eigentlichen Sündenfall. Der Wünschende musste dafür abzählbar unendlich oft bestraft werden. Als Dienerin einer Transzendenz, die sie niemals erfassen kann, sollte die Philosophie für die Bestrafung sorgen, indem sie dem Menschen per Analyse zuerst künstlicher Sprachen und später der Umgangssprache die Endlichkeit seiner Welt aufweist: dass die Grenzen seiner Sprache die Grenzen seiner Welt bedeuten.
Derselbe Philosoph hat ein gänzlich nicht-analytisches Bild für die Sprache vorgeschlagen: Man solle die Sprache ansehen als eine alte Stadt, ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern sowie solchen mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten, umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. Die Sprachbenutzer wohnten in ihrer Sprache, einer neben dem anderen, getrennt durch tragende oder nichttragende Wände, von denen keiner angeben könne, wer sie errichtet hat.
Der Meister aus Deutschland und sein Pendant aus Österreich haben die Grenzen der Sprache behauptet, aber nicht markiert. Das ist wohl auch nicht möglich. Die Sprache zieht Grenzen, aber es scheint keine Grenzen für die Art und Weise zu geben, wie sie das durchführt. So können etwa räumliche Relationen durch ein egozentrisches oder durch ein geographisches Koordinatensystem ausgedrückt werden. Egozentrische Koordinaten hängen vom Körper des Sprachbenutzers ab, das Koordinatensystem bewegt sich mit dem Sprecher. Das geographische Koordinatensystem verwendet die Himmelsrichtungen und ist unabhängig vom Sprecher. Sprachen nicht-technischer Gesellschaften verwenden häufig ausschließlich oder schwerpunktmäßig das eine oder das andere Koordinatensystem. In den Sprachen moderner, technikbasierter Gesellschaften hat der Sprachbenutzer die Wahl. Es ist kein Zwang wirksam, sich auf ein bestimmtes Koordinatensystem festzulegen. Nur die ultimative Festlegung auf ein bestimmtes Koordinatensystem würde eine Grenze...