Grynberg / Czerwiakowski / Feuchert | Kinder Zions | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 192 Seiten

Reihe: Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur

Grynberg / Czerwiakowski / Feuchert Kinder Zions

Dokumentarische Erzählung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4976-6
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Dokumentarische Erzählung

E-Book, Deutsch, Band 3, 192 Seiten

Reihe: Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur

ISBN: 978-3-8353-4976-6
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das noch weithin unbekannte Schicksal der 'Teheran-Kinder'.

In Henryk Grynbergs 'dokumentarischer Erzählung' kommen mehr als 70 jüdische Kinder aus Polen zu Wort, die 1943 nach Palästina gerettet wurden. Ihre Geschichten eröffnen eine schwindelerregende Topographie: von Städten und Städtchen Vorkriegspolens über entlegene Nord- und Südgebiete der Sowjetunion bis in den Iran, den Irak und nach Indien.
Nüchtern schildern die verwaisten Überlebenden ihre Erfahrungen, die sie im September 1939 aus dem Raum einer geschützten Kindheit herausgerissen hatten: die mörderische Wucht der deutschen Angreifer, Tod, Raub, Zerstörung und Vertreibung sowie die vermeintliche Rettung, erneute Verfolgung und Verschleppung in der Sowjetunion.
Schlicht und sachlich bleibt der vielstimmige Erzählduktus, doch sein Rhythmus stockt, versetzt mit monotonen Wiederholungen, die sich zu einer gewaltigen Klage erheben. In jeder Geschichte ist das gleiche Muster erkennbar, das die individuelle Tragödie in ein Henryk Grynberg kollektives Los wandelt. Doch Henryk Grynberg lässt die Stimmen Kinder Zions der Einzelnen erklingen, die als Ich-Erzähler von Vätern, Müttern, Dokumentarische Erzählung Brüdern, Schwestern, Tanten und Onkeln sprechen. So werden sie vor dem Vergessen in der Masse anonymer Opfer bewahrt.

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Als der Krieg ausbrach
Als die Bekanntmachungen geklebt wurden, dass die Deutschen Polen überfallen haben, entstand im Städtchen Panik, und die Leute begannen zu flüchten, aber Vater wollte das Haus nicht im Stich lassen. Am Freitag?, dem 1. September, bombardierten die deutschen Flugzeuge Oswiecim. Neben uns schlug eine Bombe ein, und es gab drei Tote. Die Leute flüchteten. Vor unserm Haus stand schon ein mit zwei Pferden bespannter Wagen, aber in der Stadt waren Truppen stationiert, für die Brot gebacken werden musste. Die Soldaten sagten, sie würden sich vor der Stadt verteidigen, und es gäbe keinen Grund zur Flucht. Am Freitag?, dem 1. September, brach eine Panik aus. Polen, Juden, jeder, der konnte, flüchtete in Richtung Lwów. Vater wollte nicht fliehen, wie soll man sich auch mit sechs Kindern und ohne Geld auf die Wanderschaft machen?? Außerdem glaubte er, das polnische Militär werde erfolgreich Widerstand leisten. Aber als es hieß, die Deutschen stehen schon in Podhajce und der letzte Zug geht ab, änderte Vater seinen Entschluss. Im Zug war ein schreckliches Gedrängel, man konnte weder sitzen noch stehen, man lief über Leute hinweg?, trampelte auf Kindern herum. Auf jeder Station kamen neue Passagiere dazu, und es gab Schlachten zwischen den Hinzugekommenen und denen, die vorher da waren. Immer wenn Flugzeuge auftauchten, hielt der Zug an, und die Leute trampelten sich gegenseitig nieder und sprangen heraus, um in den Gräben in Deckung zu gehen. Wenn ein Angriff vorbei war, drängte man sich wieder in den Zug?, man verlor seine Familie und seine Sachen. Die ganze Zeit hörte man das Geschrei von Bestohlenen, das Weinen von Kindern und Rufe. Auf diese Weise fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte nach Lwów. Es hieß, Lwów wird verteidigt, hier findet eine große Schlacht statt. Sie hoben Gräben aus, selbst alte Juden mit Schläfenlocken hoben mit aus. Am Tag?, als der Krieg ausbrach, rannten die Leute hin und her und wussten nicht, was sie anfangen sollten. Der Rabbi war so aufgeregt, dass er uns nach Hause schickte, doch am Sonntag ging ich wie sonst in den Cheder. Es kamen nicht sehr viele Kameraden, aber der Unterricht fand statt. Plötzlich ertönten fürchterliche Schläge, und wir sahen, dass die Zimmerdecke brannte. Der Lehrer befahl uns, aus dem Fenster zu springen, einer nach dem andern. Wir wollten nach Hause laufen, aber der Rabbi erlaubte es nicht, weil der Himmel schwarz war vor Flugzeugen, und er führte uns in ein Steinhaus, wo sich ein Luftschutzkeller befand. An diesem Tag brannte unser Haus mit allen Sachen ab, und Vater sagte, wozu unser Leben in der Stadt aufs Spiel setzen, verstecken wir uns lieber auf dem Land. Wir kamen bei einem Bauern in der Scheune unter. Er baute aus ein paar Ziegelsteinen einen Herd für uns, auf dem Mama Kartoffeln kochte, aber vor Rosch ha-Schana schickte man nach Vater, weil die Stadt ohne Schächter war, also kehrten wir nach Tomaszów zurück und wohnten bei Verwandten. Am Freitag?, dem 1. September, flohen die Schüler der Jeschiwa zu ihren Familien, aber ich konnte nicht weg?, weil die Bahnverbindung nach Rózan unterbrochen war. Als Schüsse ertönten, packten wir die Sachen und versteckten uns im Luftschutzkeller. Einige Stunden später gaben die polnischen Behörden Befehl, das Städtchen zu verlassen, aber die Bahnstation war zerbombt, und wir mussten zu Fuß nach Nowy Targ gehen. Sie bombardierten den Zug?, und wir kamen erst nach drei Tagen in Podhorce an, wo wir Bekannte hatten. Als der Krieg ausbrach, war ich mit Mama in der Sommerfrische in Falenica. Als die Deutschen das Waisenhaus in Otwock bombardiert und viele Kinder getötet hatten, ließen wir alles stehen und liegen und kehrten mit der Bahn nach Warschau zurück. Die dunkle Stadt machte einen schrecklichen Eindruck, und ich hatte Angst, dass ich Mama verliere. Als der Krieg ausbrach, befanden wir uns in einem Obstgarten bei Skolimów und kehrten zu Fuß nach Warschau zurück. Die Wohnung fanden wir aufgebrochen und geplündert vor. In unserem Viertel waren die meisten Bomben gefallen und die meisten Menschen umgekommen. Mein Onkel war nach Warschau gefahren, um Ware zu holen, und an dem Tag?, an dem er zurückkam, brach der Krieg aus. Der Zug wurde bei Garwolin bombardiert, und der Onkel kehrte zu Fuß, mit verletztem Arm zurück. Er riet uns, aus Chelm wegzugehen, wo sich Rüstungswerke befanden. Am Sonnabendabend bestiegen wir zusammen mit Großvater, Großmutter, den Onkeln, Tanten und ihren Kindern einen Wagen, insgesamt elf Personen. Die Straße war von kaputten Autos und toten Pferden verstopft. Die deutschen Flugzeuge flogen tief und beschossen die Leute. Wir gingen in Gräben in Deckung und hörten das Wimmern der Verwundeten, für die sich keiner interessierte. Am Sonnabend, dem 2. September, bombardierten die Deutschen Limanowa. Am Sonnabendmorgen kam Vater sehr aufgeregt aus dem Bethaus heim und sagte, die Deutschen kommen angeblich nach Rabka. Mama ließ alles auf dem Herd stehen und packte die Kissen ein. Meinem Bruder Meir, der zwölf Jahre alt war, gab sie einen kleinen Koffer und mir ein Päckchen. Alle Juden gingen auf die Flucht, und es blieben nur ein paar alte Männer zurück, die nicht mehr reisen konnten. Unterwegs gab es so viele Menschen mit Bündeln auf dem Rücken, Pferdewagen und Autos, dass wir nur mit Mühe bis Wisniowiec kamen. Dort mietete Vater ein Fuhrwerk, für das wir viel Geld bezahlten, aber nach ein paar Stunden sagte der Bauer, weiter fährt er nicht, und befahl uns abzusteigen. Vater flehte ihn an, er solle Mitleid mit den Kindern haben, Mama weinte, aber es half nichts, er stieß uns vom Wagen und fuhr weg. Vater hatte nicht die Kraft, das Bettzeug zu tragen, er warf es also an den Straßenrand, Mama warf den Koffer weg. Wir langten in Rzeszów an, wo wir am nächsten Tag in den Zug nach Jaroslaw stiegen. Die Deutschen bombardierten Wyszków schon einen Tag nach Kriegsausbruch. Die Menschen sprangen aus den Fenstern der brennenden Häuser. Am Sonnabend, dem zweiten Kriegstag?, begann die Bombardierung von Siedlce. Die Piekna-Straße, wo sich die schönsten Geschäfte befanden und die reichen Juden wohnten, brannte vollständig ab. Auch die Kozia-Straße, die Straße der Handwerker. Die Deutschen bombardierten Siedlce Tag für Tag. Um acht Uhr morgens kamen die Erkundungsflugzeuge und um neun Uhr die Bomber, und die Bombardierung dauerte bis elf Uhr. Ähnlich war es nach dem Mittagessen. Die Stadt brannte. Die Leute flüchteten aufs Land, legten sich auf dem Feld hin oder unter Bäume, weil die Keller zu Gräbern wurden. Im Laufe von zehn Tagen wurden zweitausendfünfhundert Tote gezählt. Am Sonnabend, dem 9. September, um neun Uhr morgens rannten wir wie die anderen aus dem Haus und suchten Deckung in den für die Verteidigung vorbereiteten Schützengräben. Als wir zurückkamen, hatten wir kein Dach mehr über dem Kopf. Unsere ganze Habe war verbrannt, zusammen mit den Büchern und den Erinnerungsstücken, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren. Am schlimmsten waren die von Juden bewohnten Straßen zerstört. Wir sahen flüchtendes Militär. Auch viele Zivilisten, besonders junge Leute, flohen. Wir kamen unter in einem verschont gebliebenen Haus und dachten voller Furcht an das Morgen. Die deutschen Flugzeuge bombardierten die Eisenbahnstation in Mrozy und am nächsten Tag unsere Stadt. Eine Bombe schlug neben der Kirche ein und tötete zweiunddreißig Juden, die in der Schlange nach Brot anstanden. Unter den Toten erkannte ich den sechsjährigen Mendele. Überall brachen Brände aus. Vater nahm mich an der Hand, und wir rannten in die Eisfabrik, die aus Stein gebaut war und vor der Stadt stand, aber bald mussten wir weiter flüchten, weil auch dort das Feuer hinkam. Dann verlor ich Vater und hockte die ganze Nacht mit meinem Bruder Abram auf einem Feld. Ganz Kaluszyn brannte, und es war taghell. Die Kinder weinten vor Hunger, ein Jude rannte ins Dorf und brachte uns Brot. Er trug ein wenige Monate altes Kind auf dem Arm, dessen Mutter umgekommen war. Am dritten Tag gingen wir nachsehen, was von unserem Haus übriggeblieben war. Wir sahen schwarze Schornsteine. Es roch schrecklich, viele Pferde und Kühe waren in den Ställen lebendig verbrannt. Viele Alte und Kranke konnten nicht rechtzeitig fliehen. An dem Bach, der dort vorbeifloss, erkannten wir die Stelle, wo vorher unser Haus gestanden hatte. Wir wühlten in den Trümmern, und Abram stieß einen Freudenschrei aus, weil er die Nähmaschine entdeckt hatte. Es war eine neue Maschine, die das ganze Vermögen meines Vaters darstellte. Auch ein paar Töpfe fanden wir. Wie wir so in den Trümmern unseres Hauses herumstocherten, kam Vater verweint zu uns, weil er eben erfahren hatte, dass unser Großvater in den Flammen umgekommen war. Großvater war achtzig Jahre alt, er war blind und wohnte im Obergeschoss, in den Brandresten hatte man seinen Leichnam gefunden. Verschont geblieben waren ein paar Steinhäuser in der Warszawska-Straße und das Bethaus. Darin suchten alle Obdachlosen Zuflucht, das Gedränge war schrecklich, und die Kinder weinten unablässig. Als unser Haus in Kaluszyn abgebrannt war, wohnten wir vor der Stadt bei einem Bauern, und dort bekam Mama ein Kind. Die Bauern brachten uns Milch, Kartoffeln und Grütze, und Mama weinte den ganzen Tag. Die Bombardierung von Brok dauerte...


Grynberg, Henryk
Henryk Grynberg, geb. am 4. Juli 1936 in Warschau, überlebte die Jahre der deutschen Besetzung mit seiner Mutter in verschiedenen Verstecken auf dem Land. Nach dem Krieg studierte er Journalistik in Warschau. Angesichts des anwachsenden Antisemitismus verließ er 1967 Polen und lebt seitdem in
den USA. Seine Erzählungen, oft basiert auf eigenem lebensgeschichtlichem Hintergrund, schildern die Wirklichkeit der Todebedrohung, so »Der ju¨dische Krieg« (dt. 1972 u. 2016), »Der Sieg« (dt. 2016), »Vaterland« (dt. 2016). Auch in den Essays (»Unku¨nstlerische Wahrheit«, dt. 2014), bleibt er seinem Lebensthema treu.

Matwin-Buschmann, Roswitha
Leider ist derzeit keine AutorInnenbiographie vorhanden.

Feuchert, Sascha
Sascha Feuchert ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er leitet dort die Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

Quinkenstein, Lothar
Lothar Quinkenstein ist Übersetzer aus dem Polnischen, Schriftsteller, Hochschullehrer. Zusammen mit Lisa Palmes übersetzte er Olga Tokarczuks Roman »Die Jakobsbücher« (2019); zuletzt erschien seine Übersetzung von Olga Tokarczuks Erzählband »Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten« (2020).

Czerwiakowski, Ewa
Ewa Czerwiakowski ist freie Publizistin und Übersetzerin. Sie befasst sich vorwiegend mit Zeitgeschichte und Holocaustliteratur.
Veröffentlichungen als Übersetzerin u. a.: Richard Glazar, »Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka« (2011); Filip Müller, »Sonderbehandlung« (2020).



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