Buch, Deutsch, 314 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 398 g
Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte
Buch, Deutsch, 314 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 398 g
ISBN: 978-3-593-39396-4
Verlag: Campus
Sie verbindet die freiheitliche Orientierung der Menschenrechte mit umfassenden sozialen Leistungsrechten und dem konsequenten Verbot
paternalistischer Bevormundung. Damit fordert sie die Behinderten- und Sozialpolitik ebenso heraus wie die Philosophie der Menschenrechte: Wie lässt sich ein wirklich inklusiver Menschenrechtsschutz begründen? Wie lassen sich universelle soziale Rechte philosophisch fassen, wie Ansprüche auf Respekt und Sorge verbinden? Sigrid Graumann diskutiert diese Fragen und zeigt, dass sich die Behindertenrechte mit einem sozialethisch erweiterten kantischen Konzept 'assistierter Freiheit' überzeugend verteidigen lassen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Rechtswissenschaften Internationales Recht und Europarecht Internationales Recht Internationale Menschen- und Minderheitenrechte, Kinderrechte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Menschenrechte, Bürgerrechte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Sozialpolitik
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsphilosophie, Rechtsethik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Theorie, Politische Philosophie
- Geisteswissenschaften Philosophie Rechtsphilosophie, Rechtsethik
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung: Respekt oder Sorge für behinderte Menschen? 7
I. Die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen 26
1. Wohltätigkeit und Fürsorge oder Menschenrechte? 26
2. Grundprinzipien der Konvention 34
3. Die einzelnen Rechte 51
4. Die Umsetzung der Konvention - eine Zukunftsaufgabe 75
II. Inklusivität, Universalität und Unteilbarkeit?
Grundsätze des Menschenrechtsschutzes und die Rechte
behinderter Menschen 80
1. Das Konzept assistierter Freiheit als politische Herausforderung 80
2. Gibt es ein Recht, Rechte zu haben?
Zur Inklusivität des Menschenrechtsschutzes 88
3. Gleiche Rechte für behinderte Menschen?
Zum Anspruch auf universelle Achtung der Menschenrechte im Privat- und Familienleben 102
4. Gleiche Rechte oder Sonderrechte?
Zu den spezifischen menschenrechtlichen Leistungsansprüchen
von behinderten Menschen 115
5. Weiterentwicklung der Menschenrechtsidee 134
III. Fairness, gerechte Großzügigkeit oder Basisfähigkeiten? Menschenrechte für behinderte Menschen als Herausforderung
für unser Verständnis sozialer Gerechtigkeit 135
1. Die Menschenrechte behinderter Menschen als Kernfrage
sozialer Gerechtigkeit 135
2. Soziale Gerechtigkeit für behinderte Menschen?
Die Konzeptionen von Rawls, MacIntyre und Nussbaum 139
3. Soziale Gerechtigkeit und das Recht, Rechte zu haben 157
4. Öffentliche oder private Gerechtigkeit? 169
5. Verbindliche Solidaritätspflichten? 184
6. Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit - keine faire Berücksichtigung behinderter Menschen 195
IV. Versuch einer moralphilosophischen Begründung der Rechte behinderter Menschen 198
1. Aufgaben einer moralphilosophischen Reflexion 198
2. Notwendigkeit einer moralphilosophischen Begründung 200
3. Möglichkeit einer moralphilosophischen Begründung mit Kant 204
4. Menschenwürde - Menschenrechte 219
5. Wohltätigkeit und Solidarität 231
6. Assistierte Freiheit - ein überzeugendes Konzept 244
V. Sorge und Respekt? Verteidigung des Menschenrechtsansatzes der Behindertenpolitik 247
1. Nicht abschließend geklärte Fragen 247
2. Inklusivität des Menschenrechtsschutzes 248
3. Menschenrechtsschutz im Privat- und Familienleben 270
4. Spezifische Behindertenrechte 285
5. Konkretisierung und Präzisierung des Menschenrechtsschutzes 292
Abkürzungen 294
Literatur 295
Einleitung: Respekt oder Sorge für behinderte Menschen?
In den vergangenen Jahren hat die gesellschaftliche Stellung von behinderten Menschen weltweit zunehmend öffentliche und politische Aufmerksamkeit gewonnen. Das ist nicht zuletzt auf das Engagement der Behindertenbewegung zurückzuführen. Die Behindertenbewegung konstituierte sich seit den siebziger Jahren ausgehend von den USA und Großbritannien als neue soziale Bewegung (Oliver 1990: 95-131) und trat seit den neunziger Jahren auch in Deutschland verstärkt in Erscheinung (Rohrmann 2006: 175-179). Trotz vieler nationaler Unterschiede lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten der Behindertenbewegungen verschiedener Länder feststellen. Als soziale Bewegung zeichnete sich die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (in englischsprachigen Ländern: Independent-Living-Movement) zunächst durch eine radikale Gesellschaftskritik aus. Diese richtete sich gegen die staatliche Behindertenpolitik sowie gegen das Selbstverständnis der Wohlfahrts- und Behindertenorganisationen, der institutionalisierten Behindertenhilfe und der medizinischen und pädagogischen Disziplinen.
Inhaltlich setzten sich die Behindertenaktivistinnen und -aktivisten gegen "entmündigende, aussondernde und oftmals diskriminierende ›Fürsorge‹ für Behinderte" zur Wehr und forderten ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben (Miles-Paul 2006: 32) - zunächst vor allem mit dem Mittel provokativer öffentlicher Protestaktionen. Diese waren insofern ausgesprochen erfolgreich, als sie einerseits zu einer breiten öffentlichen Debatte über die Rechte behinderter Menschen führten und andererseits dazu, dass ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten zunehmend als offizielle Experten in eigener Sache an die behindertenpolitischen Verhandlungstische geladen wurden (Oliver 1990: 128; Rohrmann 2006: 181). Auf diese Weise hat die Behindertenbewegung relativ schnell und effektiv Einfluss auf den offiziellen behindertenpolitischen Diskurs gewonnen.
So konnte sich immer mehr die Sichtweise durchsetzen, dass Sonderorte für das Leben, Lernen und Arbeiten vielen behinderten Menschen zwar Schutz bieten können, gleichzeitig aber ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit, Machtlosigkeit, Ausgrenzung und Marginalisierung verstärken. Behinderten Menschen wird heute zunehmend ein Anspruch auf ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben, auf eine volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und auf solidarische Hilfe, Unterstützung und Sorge zuerkannt. Die Forderung nach einem behindertenfreundlichen, barrierefreien Umfeld wird als legitim angesehen. Das gilt, auch wenn die Umsetzung dieser Ansprüche in Konkurrenz mit anderen Interessen vielfach eher schleppend geschieht. Wenn man vor allem die offiziell kommunizierten politischen Grundsätze betrachtet, kann ein Paradigmenwechsel von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit und Fürsorge zu einer Rechte-basierten Behindertenpolitik beobachtet werden.
Damit ist Folgendes gemeint: Ein Wohltätigkeits- und Fürsorgeansatz der Behindertenpolitik ist dadurch gekennzeichnet, dass behinderte Menschen als Objekte karitativer Hilfe, Unterstützung und Sorge angesehen und behandelt werden. Der Begriff der Wohltätigkeit ist mit der Vorstellung altruistischen Handelns und freiwilliger Solidarität verbunden, worauf die Adressaten der Wohltätigkeit kein Anrecht haben und wofür von ihnen Dankbarkeit erwartet werden kann (vgl. Schnabl 2005: 23ff.). Der Begriff der Fürsorge impliziert zudem eine paternalistische Haltung gegenüber denjenigen, für die gesorgt wird. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass pädagogische und medizinische Experten zum Wohl behinderter Menschen Entscheidungen treffen, denen sich diese unterzuordnen haben. In einem Menschenrechtsansatz dagegen werden solche Formen der Fremdbestimmung und Bevormundung als Menschenrechtsverletzungen bewertet. Behinderte Menschen werden hier als Subjekte mit gleichen Rechten und Pflichten angesehen, denen die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgegeben werden muss (OHCHR/United Nations 2002: 9).
Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung von 2006 ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg der allgemeinen Durchsetzung einer Rechte-basierten Behindertenpolitik. Die meisten Aktivistinnen und Aktivisten der Behindertenbewegung sehen die Konvention deshalb als entscheidenden Durchbruch für die Gleichberechtigung und Gleichstellung behinderter Menschen an. Auch individuell erwarten viele behinderte Menschen zukünftig eine erhebliche Verbesserung ihrer Situation. Angesichts der politischen Herausforderungen, die die Konvention mit sich bringt, ist es aber nicht verwunderlich, dass auch Zweifel und Befürchtungen hinsichtlich ihrer Umsetzung formuliert werden. So wird in behindertenpolitischen Kreisen durchaus kontrovers diskutiert, ob die konsequente Umsetzung der Konvention realistischerweise erwartet werden kann.
In den Verbänden der Behindertenhilfe wurde ein Rechte-basierter Ansatz der Behindertenpolitik zunächst keineswegs von allen begrüßt. Insbesondere von Angehörigen, Verbandsvertreterinnen und -vertretern sowie Mitgliedern helfender Berufe, die besonders das Wohlergehen von behinderten Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf im Blick haben, wird teilweise befürchtet, dass Menschen mit sogenannten geistigen, schweren und mehrfachen Behinderungen Nachteile haben werden. Dabei wird oft argumentiert, dass formale Garantien gleicher Rechte vor allem für diejenigen wertvoll seien, die ihre Rechte selbst einfordern, vertreten und verteidigen können, weniger aber für diejenigen, die auf ein hohes Maß an Hilfe, Unterstützung und Sorge angewiesen sind. Eine behindertenpolitische Orientierung an den Rechten behinderter Menschen setze Selbstbestimmung und Unabhängigkeit als Fähigkeiten voraus und berge damit die Gefahr, die Bedürfnisse und Lebenssituationen derjenigen aus dem Blick zu verlieren, für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit unerreichbare Ideale seien. Für sie sei eine Behindertenpolitik der Fürsorge und Wohltätigkeit, die ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt stellt, der bessere Weg (vgl. Eurich 2008: 150-161; Reinders 2008: 19-21).
Allerdings war auch die Beziehung von Aktivistinnen und Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung zum Menschenrechtsdenken nicht immer so ungetrübt, wie das heute erscheint. Das betrifft zumindest die deutsche Situation. Das Europäische Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin von 1996 (Bioethik-Konvention) wurde als Angriff auf die Würde und die Rechte behinderter Menschen vehement kritisiert. Anlass der Kritik war, dass dieser europäische Menschenrechtsvertrag rein fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen unter bestimmten Bedingungen nicht verbietet. Deshalb wurde der Bioethik-Konvention unterstellt, das Ziel dieser Regelung sei nicht etwa die Rechte nichteinwilligungsfähiger Menschen zu schützen, sondern im Gegenteil ihre Rechte für Forschungsinteressen zu opfern. Die gleiche Kritik wurde fast zehn Jahre später auch gegen die Bioethik-Deklaration der UNESCO von 2005 vorgebracht. Vor diesem Hintergrund ist die hoffnungsvolle und zustimmende Haltung gegenüber der UN-Behindertenrechtskonvention, die auch in der deutschen Behindertenbewegung von Anfang an bestand, eigentlich erstaunlich. Niedergeschlagen hat sich die Kontroverse um die Bioethik-Konvention übrigens darin, dass in der UN-Behindertenrechtskonvention jede fremdnützige Forschung ohne eigene Einwilligung grundsätzlich untersagt wird (CRPD Art. 15).
Mit der neuen Konvention kommt vielen Ansprüchen, die in behindertenpolitischen Auseinandersetzungen vonseiten der Behindertenbewegung in den vergangenen Jahren erhoben worden sind, nun der völkerrechtlich verbindliche Status von Menschenrechten zu. Aber auch in menschenrechtspolitischen Diskussionen trifft die UN-Behindertenrechtskonvention auf Kontroversen, die seit Langem geführt werden. Dies betrifft insbesondere die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, denen hinsichtlich der Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung behinderter Menschen eine besondere Rolle zukommt. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte waren menschenrechtspolitisch von Anfang an umstritten. Sie wurden zwar in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert (UDHR Art. 22-29) und im Sozialpakt kodifiziert (ICESCR), für viele machen die bürgerlichen Freiheitsrechte und die politischen Rechte dennoch den eigentlichen Kern der Menschenrechte aus. Bei diesen Rechten ginge es vor allem um den Schutz des Individuums vor Übergriffen insbesondere vonseiten des Staates. Die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte dagegen erfordert die Bereitstellung von erheblichen Ressourcen der Gemeinschaft. Wie weit die Verpflichtung für den Staat geht, diese Ressourcen bereitzustellen, ist aber ausgesprochen umstritten. Oft werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte deshalb als politische Zielbestimmung mit geringerer rechtlicher Verpflichtungskraft dargestellt, als die bürgerlichen Freiheitsrechte und die politischen Rechte. Zumindest dort, wo die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention größere Mittel erfordert, sind daher politische Kontroversen vorprogrammiert.
Die beiden Kontroversen, die ich hier antizipiert habe, zeigen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in zweifacher Hinsicht eine große gesellschaftspolitische Bedeutung besitzt. Zum einen ist zu erwarten, dass die Perspektive der Menschenrechte die Behindertenpolitik nachhaltig verändern wird. Wenn gefordert ist, eine Politik der Wohltätigkeit und Fürsorge durch eine Politik der Menschenrechte zu ersetzen, müssen die solidarischen Verpflichtungen gegenüber behinderten Menschen gesellschaftspolitisch neu verhandelt werden. Zum anderen ist aber auch zu vermuten, dass die Perspektive behinderter Menschen auf den Menschenrechtsschutz die Menschenrechtspolitik verändern wird. Zentrale menschenrechtsdogmatische Grundsätze wie die Bedeutung der Inklusivität des Schutzbereichs der Menschenrechte oder des Anspruchs auf universelle Achtung der Menschenrechte müssen neu interpretiert werden. Außerdem müssen tradierte Grundüberzeugungen des modernen politischen Denkens, wie die Trennung des öffentlichen und des privaten Lebens oder des Vorrangs von negativen Freiheitsrechten vor sozialen Leistungsrechten überdacht werden. Diese Herausforderungen für die Behindertenpolitik und für die Menschenrechtspolitik greife ich in dieser Arbeit auf und mache sie zum Gegenstand einer praktisch-philosophischen Reflexion.
In der UN-Konvention wurde eine Reihe von Begriffen aufgenommen, die in behindertenpolitischen Debatten geprägt worden sind und die für eine fortschrittliche Behindertenpolitik stehen. Diese Begriffe sind mehr oder weniger neu im Menschenrechtsdenken und haben außerdem in anderen Kontexten teilweise andere Bedeutungen.
Das betrifft beispielsweise den zentralen Rechtsbegriff der Diskriminierung. Das Wort diskriminieren bedeutet seinem lateinischen Ursprung entsprechend zunächst nichts anderes als unterscheiden. In politischen und rechtlichen Kontexten ist der Begriff Diskriminierung jedoch untrennbar mit Benachteiligung, Ungleichbehandlung und Herabwürdigung verbunden und wird somit normativ verstanden. Außerdem hat das normative Verständnis von Diskriminierung in politischen und rechtlichen Kontexten zusätzlich eine deutliche Ausweitung erfahren. Zunächst beschränkte sich das politisch-rechtliche Verständnis von Diskriminierung auf Tatbestände unmittelbarer Diskriminierung. Darunter ist eine individuelle Ungleichbehandlung ohne einen rechtfertigenden sachlichen Grund zu verstehen. Davon wird heute mittelbare Diskriminierung unterschieden: Als mittelbare Diskriminierung gilt beispielsweise nach dem deutschen Allgemeinen Gleichstellungsgesetz, "wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt" (AGG § 3 Abs. 2). Darüber hinaus werden in einem allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis auch abwertende Einstellungen und negative Bewertungsmuster als Phänomene mittelbarer Diskriminierung aufgefasst. Ich werde mich in dieser Arbeit auf diesen weiten Diskriminierungsbegriff stützen (Bielefeldt 2005: 2-3), dem auch die UN-Behindertenrechtskonvention folgt.
Ein solches weites Verständnis von Diskriminierung schlägt sich auch in dem Bemühen nieder, diskriminierende durch nicht diskriminierende Begriffe zu ersetzen. Der Begriff Behinderte wird deshalb immer häufiger durch Menschen mit Behinderung oder behinderte Menschen ersetzt. Ich werde im Folgenden meistens von behinderten Menschen und nicht von Menschen mit Behinderung sprechen. Ich will damit verdeutlichen, dass Behinderung keine äußere Eigenschaft ist. Mit der Verwendung des Adjektivs behindert wird offen gehalten, ob es sich im konkreten Kontext um eine Eigenschaft handelt, die der Mensch hat (er oder sie ist behindert), oder um ein soziales Geschehen, dem ein Mensch ausgesetzt ist (er oder sie wird behindert). Je nach Kontext ist einmal die eine und das andere Mal die andere Bedeutung wichtiger. Dagegen spreche ich von Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung, Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und von Menschen mit psychisch-sozialen Beeinträchtigungen, wenn ich mich auf spezifische Beeinträchtigungsformen beziehe.
In den Disability Studies wurde das sogenannte medizinische Modell von Behinderung, das als das gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich vorherrschende Modell angesehen wird, einer vehementen Kritik unterzogen. Für das medizinische Modell von Behinderung sei charakteristisch, Behinderung auf die körperliche, geistige oder psychische Schädigung eines Menschen zurückzuführen und damit als individuelles Problem anzusehen, das soweit wie möglich medizinisch behoben werden sollte. Die Behindertenbewegung bezieht sich dagegen auf das soziale Modell von Behinderung, dem zufolge ein Mensch nicht in erster Linie durch seine individuelle Beeinträchtigung, sondern durch gesellschaftliche Barrieren, Benachteiligungen und Zuschreibungen von Andersheit behindert wird (Barnes/Mercer/Shakespeare 1999: 27ff.).
Mittlerweile hat sich eine Kontroverse über die Angemessenheit des sozialen Modells von Behinderung entwickelt. Tom Shakespeare argumentiert, dass vor allem das im Gegensatz zur amerikanischen Debatte radikalere britische Verständnis des sozialen Modells, das Behinderung alleine auf die gesellschaftliche Unterdrückung behinderter Menschen zurückführe und die individuelle Beeinträchtigung völlig außer Acht lasse, der subjektiven Bedeutung von Beeinträchtigungen nicht gerecht werde. Die subjektiven Erfahrungen vieler behinderter Menschen, die auch Leid und Schmerz beinhalten, würden marginalisiert. Andreas Kuhlmann hat in diesem Zusammenhang wiederholt die radikale Medizinkritik der Behindertenbewegung als unangemessen kritisiert (Kuhlmann 2003: 156-158). Shakespeare plädiert für eine differenziertere Sichtweise, die individuelle Beeinträchtigungen nicht verleugnet und Behinderung als Verkörperung von Beeinträchtigung im sozialen Kontext analysiert (Shakespeare 2002: 9-28). Diesem Verständnis des sozialen Modells entspricht auch die Konvention.
Eine weitere behindertenpolitische Entwicklung zeigt sich in der zunehmenden Durchsetzung des Begriffes der Inklusion als neuen behindertenpädagogischen und -politischen Leitbegriff. Inklusion bedeutet gesellschaftliches Einbezogensein und ist als Gegenbegriff zu Exklusion im Sinne gesellschaftlicher Ausgrenzung und Marginalisierung zu verstehen. Inklusion und Exklusion können beispielsweise gesellschaftliche Arbeitsteilung und soziale Netze sowie materielle, politisch-institutionelle und kulturelle Teilhabe betreffen (Kronauer 2002: 156ff.). In pädagogischen Diskursen löst der Begriff Inklusion zunehmend den älteren Begriff der Integration ab - das betrifft vor allem den Bereich der schulischen Bildung (Stein/Lanwer 2006: 86-90). In politischen Diskursen ist Inklusion (inclusion) die normative Zielbestimmung der vollen und gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen, womit Phänomenen der Ausgrenzung und Marginalisierung begegnet werden soll. Im Gegensatz zu den älteren Begriffen der Integration und der Teilhabe (participation) soll mit dem Begriff Inklusion betont werden, dass der Fokus nicht darauf liegen soll, Individuen an Lebensbereiche anzupassen, damit sie sich integrieren können, sondern die Lebensbereiche so zu verändern, dass alle Menschen von vornherein einbezogen sind. Im ersten Fall ist primär das behinderte Individuum, im zweiten Fall primär seine Umgebung gefordert.
Eine fortschrittliche Behindertenpolitik hat es mit dem Begriff der Rechte zu tun: Rechte haben, wie Ronald Dworkin es ausdrückt, den Charakter von Trümpfen in politischen Auseinandersetzungen, insbesondere im Konflikt mit Argumenten, die sich auf die Beförderung anderer Güter wie des Allgemeinwohls oder des allgemeinen Interesses beziehen (Dworkin 1984: 153-159). Wenn wir von Rechten sprechen, meinen wir im Allgemeinen legitime Ansprüche, die wir anderen gegenüber geltend machen können. Diese Definition des Begriffs Rechte geht auf Wesley Hohfeld zurück und ist für das Verständnis der Menschenrechte wesentlich. Hohfeld selbst spricht von claims oder rights auf der einen Seite und von privileges oder liberties auf der anderen Seite. "A right is one's affirmative claim against another, and a privilege is one's freedom from the right or claim of another." (Hohfeld 1923: 60)
Privilege bedeutet die Erlaubnis, etwas zu tun oder zu unterlassen, das heißt, frei zu sein von einer Pflicht gegenüber anderen, die einen daran hindern könnte. Das ist in der Menschenrechtsdiskussion oft gemeint, wenn von Freiheitsrechten gesprochen wird. Entscheidend ist hier, dass Freiheitsrechten oder Freiheiten (liberties) im Sinne von privileges keine Pflichten anderer gegenüberstehen; nach Hohfeld handelt es sich sozusagen um das Gegenteil von Pflichten, frei zu sein von Pflichten (Hohfeld 1923: 39). Rechte im Sinne von claims dagegen sind legitime Ansprüche, die wir anderen gegenüber geltend machen können. Sie korrespondieren mit Pflichten anderer (Hohfeld 1923: 38) und können deshalb als Anrechte bezeichnet werden. Das umfasst zunächst die formale Garantie gleicher Rechte.
Eine Bestimmung der Bedeutungsgehalte des Begriffs der Rechte muss sich darauf aber nicht beschränken: Hohfelds Klasse der claims umfasst sowohl negative Rechte als auch positive Rechte. Beide, negative und positive Rechte, ziehen die Verpflichtung von institutionellen Garantien nach sich. Negative Rechte sind als Anrechte zu verstehen, die von anderen verlangen, jemandem etwas zu erlauben, das heißt, ihn nicht daran zu hindern etwas zu tun oder zu unterlassen. Es kann daher auch von Nichtinterventionsrechten gesprochen werden. Positive Rechte dagegen sind Anrechte, die von anderen verlangen, etwas für jemanden zu tun, etwa um sie oder ihn damit zu etwas zu befähigen. Weil positive Rechte verlangen, dass andere etwas leisten, können sie auch als Leistungsrechte bezeichnet werden.