Grass | Günter Grass: Gespräche (1958–2015) | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 896 Seiten

Grass Günter Grass: Gespräche (1958–2015)

E-Book, Deutsch, 896 Seiten

ISBN: 978-3-95829-689-3
Verlag: Steidl Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Tanzen Sie noch? Leiden Sie unter dem Alter? Was war das größte Unglück in Ihrem Leben? Wären Sie lieber eine Frau?« – Es ist bemerkenswert, mit welcher Ausdauer Günter Grass über sechs Jahrzehnte auf die unterschiedlichsten Fragen seiner Gesprächspartner eingegangen ist, mal mit Humor, mal kompromisslos, stets auf hohem Sprach- und Reflexionsniveau. Ob als Schriftsteller, Bildhauer oder Grafiker, ob als gelernter Sozialdemokrat, Staatsbürger mit besonderer Reputation oder Literaturnobelpreisträger, immer wieder wurde er bis an sein Lebensende wie kaum ein Zweiter »ausgefragt«. Und stets nahm er in wechselnden Rollen Stellung zu ästhetischen, gesellschaftspolitischen und tagesaktuellen Problemen. Jederzeit auskunftsfreudig erläuterte der engagierte Zeitgenosse seine künstlerischen Ansätze und bewährte Arbeitsprozesse, äußerte sich zu Fragen der Poetik und zu Vorbildern seines Schaffens in Literatur und Politik, sprach offen über Frühprägungen, späte Einsichten und anhaltend belastende Traumata.
Grass Günter Grass: Gespräche (1958–2015) jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Ich sehe keinen Grund, den Schauplatz Danzig zu wechseln
(März 1962)
HORST BIENEK Herr Grass, darf ich mit einer ganz einfachen Frage unser Gespräch beginnen? Sie haben zunächst Bildhauerei und Graphik studiert. Wie kamen Sie dazu, Gedichte und später Prosa zu schreiben? GÜNTER GRASS Bevor ich Schüler auf der Kunstakademie Düsseldorf wurde, habe ich in Düsseldorf in einem Grabsteingeschäft eine Steinmetz- und Steinbildhauerlehre abgelegt. Während dieser Zeit kurz nach dem Krieg habe ich schon Gedichte geschrieben, und zwar zuerst auf dem Friedhof und dann – als der Wiederaufbau begann, nach der Währungsreform – auf dem Baugerüst beim Sandsteinversetzen. Leider sind diese Gedichte nicht besonders gelungen – es wäre natürlich wunderbar, sagen zu können, ich hätte auf dem Friedhof lustige Gedichte und auf dem Gerüst in Vorahnung des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders traurige Gedichte geschrieben, aber dem ist nicht so. Sonst wäre dadurch ja auch der realistische Sozialismus bestätigt. BIENEK Können Sie mir sagen, wer Ihnen literarisch die ersten Anregungen gegeben hat? GRASS Ja, ich sehe in der Entwicklung drei Stadien. Das erste Stadium war der Bücherschrank meiner Mutter, als ich ungefähr vierzehn Jahre alt war. Den habe ich planlos von oben nach unten durchgelesen. Das fing an mit Vicki Baum, ging über Dostojewski, Tolstoi und was nicht alles von der Deutschen Buchgemeinschaft. Das habe ich als erstes gelesen. Nach dem Krieg kam das Nachholbedürfnis; man kannte ja nichts, ich kannte kaum etwas von der modernen Literatur. Dann kamen Rilke, Ringelnatz, Apollinaire in der Übersetzung, Lyrik, Prosa, später Hemingway, Kafka, Faulkner. Wie den Bücherschrank meiner Mutter habe ich weiter kunterbunt durcheinander gelesen. Erst später fing ich dann an, etwas wählerisch zu werden, weil ich merkte, daß sich übersetzte Literatur kaum als Basis für eigene Versuche verwenden läßt. Dann las ich deutsche Klassiker. Also ein umgekehrter Bildungsweg: erstmal der Heißhunger auf die ausländische Literatur und dann Jean Paul, Goethe, Hoffmann und Keller. BIENEK Sie haben zunächst Gedichte veröffentlicht. Nun hätte man erwarten können, daß Sie dann kurze Prosa schreiben, Erzählungen oder einen Roman. Sie aber haben gleich ein gewaltiges episches Werk mit über 750 Seiten geschrieben. War das nun von Anfang an so geplant oder haben sich Form und Umfang erst bei der Niederschrift, gleichsam wie von selbst ergeben? GRASS Nein, ich habe mich eigentlich immer für einen Theaterautor gehalten, während ich Lyrik schrieb, von den Gedichten auf dem Friedhof angefangen, und habe lange versucht, diesen gesamten Stoffkomplex der »Blechtrommel« mit dem Dialog anzugehen. Aber diese Stoffe waren zu breit, flossen auseinander, und die Figur des Oskar Matzerath ließ sich durch den Dialog alleine nicht deutlich machen. Bei der Aufführung des Theaterstücks »Onkel, Onkel« in Köln, das nichts mit der »Blechtrommel« zu tun hat, erfaßte mich über den Betrieb des deutschen, subventionierten Theaters ein solcher gerechter oder ungerechter Zorn … Jedenfalls hat mir dieser Zorn geholfen, vom Dialogschreiben, vom Theaterschreiben vorübergehend Abstand zu nehmen. Ich habe es aus Wut gewagt, einen Roman zu schreiben, um es den Leuten vom Theater zu zeigen, mit der Vermessenheit, »ich werd’s euch mal zeigen, schreibt eure Stücke selber, ich schreibe jetzt Prosa«. BIENEK Wie kamen Sie überhaupt zum Thema der »Blechtrommel«? Und da muß man gleich fragen: Wie kamen Sie zu der Figur des Zwerges Oskar, denn ohne ihn ist ja der Roman nicht denkbar? GRASS Da muß ich schon wieder bei der Lyrik anfangen. Etwa 1950/51 fuhr ich das erste Mal nach Frankreich und habe dort einen sehr langen, metapherngeladenen, aber nicht sehr guten Zyklus geschrieben. Dieser Zyklus hieß: »Der Säulenheilige«. Es handelte sich um einen jungen Mann – heutzutage sollte das spielen –, einen Maurer, der plötzlich genug hatte vom Leben in seinem Dorf und sich mit Hilfe seines Handwerks, seines Könnens, eine Säule mauerte, auf diese Säule stieg und sich von seiner Mutter ernähren ließ, die ihm an einer Stange sein Frühstück brachte. Von dort oben herab, aus dieser Perspektive hat der junge Mann – lyrisch, wie ich es geplant hatte – das Leben im Dorf beschrieben. Aus Oskar ist dann später ein umgekehrter Säulenheiliger geworden. Es erwies sich, daß der Mann auf der Säule zu statisch ist, um ihn Prosa sprechen zu lassen. Deswegen ist Oskar von der Säule heruntergestiegen. Es blieb nicht bei der normalen Größe, sondern er ist noch ein bißchen mehr in die Erde gegangen und hatte schließlich einen Blickwinkel, der dem Blickwinkel des Säulenheiligen entgegengesetzt ist. BIENEK Also hat er die Welt dann sozusagen aus der Froschperspektive gesehen? GRASS Ja, er ist zwar ein großer Frosch, aber nennen wir es so. BIENEK Herr Grass, darf ich Ihnen ein paar detaillierte Fragen zur Form stellen? Machten Sie sich einen genauen Plan, bevor Sie an die »Blechtrommel« herangingen, eine Art architektonischen Grundriß? GRASS Ja, aber die erste Frage war für mich, den Ton zu finden. Zuerst war da der erste Satz des Romans, dieses ›Zugegeben‹, Doppelpunkt, dann gleich Oskars verschlagenes Bekenntnis, er sei Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt. Dann begann ich, weil ich den ganzen Stoffkomplex ja seit Jahren parat hatte, Kapitelpläne zu machen und den Stoff zu raffen, weil er immer schon zu Überschwemmungen neigte. Ich mußte ihn eindämmen, mußte Deiche bauen. Das war, so wie Sie es nennen, die architektonische Vorarbeit. BIENEK Standen die Figuren, sagen wir die Hauptfiguren, von Anfang an fest, auch in deren Entwicklung? GRASS Nein, es stand nur eine Figur fest, und das war Oskar Matzerath mit seiner Entwicklung, daß er im Alter von drei Jahren das Wachstum einstellt, mit 21 Jahren der Normalentwicklung gemäß beschließt, ein Stückchen zu wachsen und zum Buckel kommt. Und es stand fest, daß das Buch mit seinem 30. Geburtstag endet. BIENEK Darf ich fragen, wie Sie auf die Idee kamen, den Oskar im dritten Lebensjahr nicht mehr wachsen zu lassen? Das ist ja immerhin ungewöhnlich. Wollten Sie damit einen bestimmten Blickwinkel und eine bestimme Naivität erreichen, in der er die Welt beobachtete? GRASS Ja, das ist der eine Grund, warum er in dieser Höhe stehenbleibt, aber gleichzeitig hat er von der Geburt an, vom ersten Augenblick an, den Verstand und die Hellsicht eines Erwachsenen, mit allen Fehlern und Fehlspekulationen. Von den Erwachsenen wird er aber später nicht als Erwachsener erkannt, sondern bleibt immer der Dreikäsehoch. Dazu kommt natürlich der Reiz, daß er alles aus dieser Perspektive, von unten nach oben sieht, nicht nur die Leute um sich herum, sondern die gesamte Epoche. BIENEK Kann es Ihnen passieren, daß Sie mitten im Schreiben ins Fabulieren kommen? Plötzlich merken Sie, daß Sie eine Figur eingeführt haben, die Sie eigentlich nur beschreiben, mit ein paar Beispiel charakterisieren wollten, und nun wird sie gewaltig und sprengt den Rahmen? GRASS Nein, dazu darf es nicht kommen, daß sie den Rahmen sprengt. Sie muß – in begrenztem Maß – natürlich Zügel haben. In einer Konzeption muß die Zügellosigkeit der Nebenfiguren, muß das Wuchern eingeplant sein, muß der Zufall eingeplant sein. Eine starke, durchgeplante Konzeption bis zum Schluß des Romans schließt nicht aus, daß es innerhalb der Konzeption sehr viel Spielraum und Entwicklungsmöglichkeit für die Nebenfiguren, die Handlung, den Zuwachs an Schauplätzen gibt. Das muß alles in der Konzeption enthalten sein – im Grunde ist es eine Konzeption der Konzeptionslosigkeit. BIENEK Ich frage deshalb, weil man die Vermutung geäußert hat, daß die Figur des Joachim Mahlke in Ihrer neuen Novelle »Katz und Maus« vielleicht eine Nebenfigur aus der »Blechtrommel« sei, die dort den Rahmen gesprengt hätte und die im Grunde einer eigenen Form bedurfte. GRASS Ja, das stimmt. Nur hat es wenig mit der »Blechtrommel« zu tun. Ich stieß auf diesen Komplex, diesen Fall Joachim Mahlke, bei der Arbeit am neuen Roman. Zu Anfang dachte ich, es handelte sich um eine Episode, um ein Kapitel vielleicht, um eine Figur, die dann und wann wieder auftaucht. Ich merkte aber bald, daß der Fall Mahlke zu gewichtig war und die Gefahr bestand, daß er den Rahmen des neuen Romans sprengt. Also habe ich ihn ausgeklammert und eine Novelle aus ihm gemacht. In dieser Novelle gibt es nun ein paar Nebenfiguren, die Hauptfiguren in dem neuen Roman sind. BIENEK Haben Sie bewußt die Arbeit an dem neuen, großen Roman unterbrochen, um diese Novelle zu schreiben oder stand die Idee schon vorher fest? GRASS Nein, sie war mir während der Arbeit im Wege. Ich mußte sie erst schreiben, und jetzt kann ich am Roman weiterarbeiten. BIENEK Sie hat Ihnen sozusagen geholfen, sich freizumachen und das andere Vorhaben fortzusetzen. Inwieweit ist die »Blechtrommel« biographisch oder sogar autobiographisch? Wie sehr brauchen Sie tatsächliche, selbst erlebte Ereignisse als Vorwand zum Schreiben? GRASS Soweit ich mich an mein eigenes Leben zurückerinnern kann, finde ich weder in der »Blechtrommel« noch in der Novelle »Katz und Maus« Passagen...


Grass, Günter
Günter Grass, 1927 bis 2015, wurde in Danzig geboren und war Schriftsteller, Bildhauer und Graphiker. 1999 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm u. a. Grimms Wörter, der Gedichtband Eintagsfliegen und die illustrierte Jubiläums-Ausgabe seines 1963 erstmals publizierten Romans Hundejahre. Bis kurz vor seinem Tod am 13. April 2015 arbeitete Grass noch intensiv an seinem Buch Vonne Endlichkait und nahm Korrekturen letzter Hand vor.

Pietsch, Timm Niklas
Timm Niklas Pietsch, geb. 1976 in Neuss, studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaften und Medienwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promovierte dort mit einer Arbeit unter dem Titel »Wer hört noch zu?« Günter Grass als politischer Redner und Essayist. Er lebt mit seiner Familie im Rheinland.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.