Grainville | Der letzte Mensch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 257 Seiten

Grainville Der letzte Mensch


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-206-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 257 Seiten

ISBN: 978-3-95757-206-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Omégare und Sydérie sind die beiden letzten Menschen. Und sie sind die letzte Hoffnung der aussterbenden Menschheit, denn aus ihrer Verbindung könnten Kinder hervorgehen, die die ausgelaugte Erde unter einer erkalteten Sonne weiter bevölkern würden. In einem epischen Text von biblischer Schlichtheit wird der Leser Zeuge und Richter über das unausweichliche Schicksal dieses Liebespaars, das in der Begegnung mit dem Urvater Adam seinen verhängnisvollen Höhepunkt fi ndet: Omégare muss entscheiden, ob er dem Befehl Gottes folgt und damit nicht nur den eigenen Tod, sondern auch den der schwangeren Geliebten beschließt, und so das grausame Finale, den Kampf des Weltengenius mit dem Tod, den Untergang allen menschlichen Lebens auf dem Planeten herbeiführt.

Jean-Baptiste Cousin de Grainville, geboren 1746 in Le Havre als Sohn eines Stabsoffi ziers. Nach der Schulzeit in Caen und später in Paris erhielt er 1766 die für ihn vorgesehene Priesterweihe, gab aber schon während der Französischen Revolution das Priesteramt wieder auf. Er verfasst mehrere Dramen, die im Théâtre National zur Aufführung kommen. Das Vorhaben, sein Epos 'Der Letzte Mensch' in Verse zu bringen, setzt er nicht mehr um: 1805 stirbt er durch eigene Hand. Noch im selben Jahr wird 'Der Letzte Mensch' zum ersten Mal veröffentlicht. Ungeachtet der kaum vierzig verkauften Exemplare erscheint bereits ein Jahr später in London eine anonyme englische Übersetzung, ein Jahr darauf in Leipzig eine deutsche Übertragung. Sylvia Schiewe, geboren 1971, ist Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen. Zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin: Paul de Mans 'Allegorien des Lesens'.

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Erster Gesang
Nahe den Ruinen von Palmyra liegt eine einsame Höhle, so gefürchtet von den Syrern, dass sie sie die Kaverne des Todes genannt haben. Niemals sind Menschen dort eingetreten, ohne sogleich die Strafe für ihre Kühnheit zu empfangen. Man erzählt, furchtlose Franzosen hätten es gewagt, mit gezückten Waffen dort einzudringen, darinnen seien ihre Kehlen durchschnitten worden, und bei Wiederkehr der Morgenröte habe man in den umliegenden Wüsten ihre verstreuten Gliedmaßen gefunden. Sind die Nächte friedlich und still, so hört man diese Kaverne ächzen; oftmals entsteigen ihr laute Klagerufe, die dem Geschrei einer großen Menge gleichen; zuweilen spuckt sie Flammenwirbel, die Erde bebt, und die Ruinen von Palmyra werden durchwogt wie die Fluten des Meeres. Ich hatte Afrika durchmessen, die Ufer des Roten Meeres gekreuzt und Palästina durchquert. Ich weiß nicht, welche geheime Inspiration mich leitete; ich wollte jene prachtvolle Stadt sehen, in der einst Zenobia herrschte, und vor allem die furchterregende Höhle, die man vom Tode bewohnt glaubte. Dorthin begab ich mich in Begleitung einiger Syrer. Der Anblick dieser Kaverne bot nichts, was mich schreckte: das stets offene, von den Ranken einer Wilden Weinrebe beschattete Tor lud den Reisenden ein, sich unter seiner tiefen Wölbung auszuruhen; kein Ungeheuer verteidigte ihren Eingang, einzig der Schrecken, der zu ihrem Schutz über sie wachte, machte sie unzugänglich. Während ich den Eingang wachsamen Auges betrachtete, sah ich in der Tiefe der Höhle einen mit einer Fackel bewehrten Mann auftauchen: seine Augen waren lebhaft und durchdringend, seine majestätische Stirn schien der Sitz des Friedens zu sein; man hätte meinen können, er erfreue sich einer vollkommenen Gelassenheit, so als habe er immer in der Gegenwart gelebt, ohne Furcht und Hoffnung zu kennen. Ich weiß nicht, auf welche Weise er mir seine Gedanken mitteilte; aber ich verstand, dass er mich in diesen Ort hineinrief. Ich fühlte mich von einer jähen, unwiderstehlichen Kraft dorthin gezogen. Und ungeachtet des Schreckens und der Schreie der Syrer, die mich aufhalten wollten, stürzte ich mich in die Kaverne. Lange Zeit wanderte ich dort inmitten tiefer Finsternis, selbst erstaunt über meinen Wagemut, der in dem Maße wuchs, wie ich weiter in diesen schrecklichen Ort vordrang. Plötzlich verliere ich die Kontrolle über meinen Körper; meine Füße weigern sich, mir zu gehorchen; ich werde regungslos wie eine Statue; die Luft, die ich zuvor eingeatmet hatte, entweicht meinen Lungen; es kommt mir vor, als befinde ich mich in einer Leere, in der ich, lebendig und ohne handeln zu können, eine vollkommene Ruhe genieße. Ein dem Menschen unbekanntes Vergnügen, so köstlich, dass es die süßesten Wonnen übertrifft! mit einem Mal verflüchtigt sich die Nacht, in die ich gehüllt war; ein reiner Tag leuchtet mir, und ich sehe die Dinge, die mich umgeben. Ich befinde mich in einem aus härtestem Felsgestein gefertigten Kessel, einem Thron aus Saphir gegenüber, der der Form nach dem berühmten Dreifuß der Priesterinnen des Apollon gleicht. Dieser Thron ist von goldenen und azurblauen Wolken gekrönt, die eine unsichtbare Macht in der Schwebe hält; eine unbewegliche, rauchfreie Flamme strahlt über einer Unzahl von Fackeln, die Wände des Felsenkessels sind mit magischen Spiegeln bedeckt, in denen das darin eintauchende Auge einen unendlichen Horizont wahrnimmt. Zu meiner Rechten, am Fuß einer diamantenen Säule, ist ein kräftiger alter Mann angekettet, dessen Schultern verstümmelt sind, und der voll Schmerz die Scherben einer zerbrochenen Uhr und zwei blutige, auf dem Boden ausgebreitete Flügel betrachtet. Da sprach ohne Stimme und mit mir unbekannten Mitteln ein Geist, der in dem Dreifuß wohnte: »Mit dem Tode habe ich die Verwegenen bestraft, die die Furcht, welche meine Behausung einflößt, missachteten und glaubten, ihre Kühnheit könne den Eintritt bahnen; fürchte nicht das gleiche Schicksal, du, den ich soeben hereinrief: ich bin der himmlische Geist, dem die ewige Zukunft bekannt ist; alle Ereignisse sind für mich so, als wären sie bereits vergangen. Hier liegt die Zeit in Ketten, und ihre Macht ist zerstört. Ich bin der Vater der Vorahnungen und Träume; ich diktierte die Orakel, ich inspirierte die Handlungen berühmter Politiker. Sobald ein Sterblicher seine Hände durch eine Schandtat besudelt, lasse ich vor seinen Augen den ganzen Apparat an Strafen vorbeiziehen, die die menschliche Gerichtsbarkeit für ihn vorsieht, und um ihn zu peinigen, mache ich ihn zum Propheten seiner Qualen und seines Todes. Wenn ich deine Schritte in diese Kaverne gelenkt habe, so geschah es, weil ich für dich den Schleier, der den Sterblichen die düstere Zukunft verhüllt, lüften und dich zum Zuschauer der Szene machen wollte, die die Geschicke des Universums beschließen wird. In diesen magischen Spiegeln, die dich umgeben, wird vor deinen Augen der letzte Mensch erscheinen. Wie auf einer Bühne, wo die Schauspieler Helden darstellen, die nicht mehr sind, wirst du ihn sich dort mit den berühmtesten Personen des letzten Zeitalters der Erde unterhalten hören; du wirst in seiner Seele seine geheimsten Gedanken lesen, und du wirst der Zeuge und der Richter seiner Handlungen sein. Es ist mir nicht darum zu tun, mit diesem Schauspiel allein deine Neugier zu befriedigen; eine edlere Absicht treibt mich an; dem letzten Menschen wird eine Nachwelt fehlen, die ihn kennte und bewunderte. Ich will, dass er schon vor seiner Geburt in der Erinnerung lebendig ist. Verherrliche seine Kämpfe und seinen Sieg über sich selbst. Sage, welche Leiden er erdulden wird, um die Übel des Menschengeschlechts zu verkürzen, die Herrschaft der Zeit zu beenden und den Tag der ewigen Vergeltung schneller herbeizuführen, den die Gerechten erwarten; offenbare den Menschen diese Geschichte, die es wert ist, dass man sie ihnen erzähle; aber sei wachsam, dieses große Schauspiel wird rasch an dir vorüberziehen und dann auf immer entschwinden.« Nachdem der himmlische Geist mir seine Absichten entdeckt hat, kehrt die Luft lärmend in den Saal zurück, in dem ich mich befinde; ich spüre sie, ich atme sie ein, sie strömt durch meine Adern und gibt mir die Bewegung zurück, die ich verloren hatte: ebenso verändert sich, belebt sich alles um mich herum; die Flamme der Fackeln flackert, die über dem Thron schwebenden Wolken wiegen sich anmutig hin und her, der angekettete Greis zerreißt seine Fesseln, streift seine Flügel wieder an und fliegt davon. Sogleich erhebt sich in dem vor mir aufgestellten magischen Spiegel ein prachtvoller Palast, das Werk der mächtigsten Herrscher der Erde, das die Zeit jedoch zu zerstören begann. Unter einem seiner Peristyle sehe ich langsamen Schrittes eine Frau heraustreten, die ich aufgrund ihrer Anmut, des Zaubers ihres himmlischen Antlitzes nicht für eine Sterbliche hätte halten können, wenn ich nicht angesichts ihrer traurigen Blicke zu dem Urteil gekommen wäre, dass sie unglücklich sei. Ein junger Mann geht an ihrer Seite; er hält seine Augen gesenkt und scheint wie sie in tiefen Schmerz gehüllt. Da sagte mir eine Stimme, die aus dem Dreifuß zu kommen schien: »Der junge Mann, den du erblickst, heißt Omégare; Sydérie ist der Name der Frau, deren anrührende Schönheit dir bereits zu Herzen geht. Dies sind die letzten Bewohner der Erde; es sind jene, die deine Stimme preisen soll. Dieses Unterfangen wird deinen Geist oft in Erstaunen versetzen, und in dem Glauben, dass es deine Kräfte übersteigt, wirst du versucht sein, es aufzugeben. Jedoch verzweifle nie an deinem Genie: ich werde deinen Mut unterstützen, und bedenke, dass es keine Hindernisse gibt, die die Beharrlichkeit nicht überwindet.« Sobald die Stimme mich darüber belehrt hatte, dass ich in Omégare und Sydérie die kostbaren Hinterbliebenen des Menschengeschlechts erblickte, fühlte ich mich ergriffen wie ein Reisender, der unter dornigem Gestrüpp die letzten Überreste einer berühmten Stadt entdeckt: ich betrachtete sie abwechselnd mit begierigem Auge. Wenn Omégare meine Aufmerksamkeit völlig auf sich zog, bedauerte ich es, sie nicht Sydérie zu schenken, und ich hätte sie alle beide unter einem einzigen Blick vereinen mögen. Schon begann ich, sie zu lieben, ihre Traurigkeit ging mir nahe, und neugierig, deren Grund zu erfahren, rief ich den himmlischen Geist mit diesen Worten an: »Dir, der du mich das letzte Zeitalter der Erde schauen lässt, danke ich dafür, mich auserwählt zu haben, damit ich Omégare und Sydérie preise, dieser Aufgabe will ich den Rest meines Lebens widmen! Gib mir deinen Geist und deine Gedanken ein, entfache in meiner Seele das Feuer der Propheten und verleihe meiner Stimme den mächtigen Klang der Posaune. Doch was sage ich? werde ich deine Hilfe benötigen, um mir bei den Menschen Gehör zu verschaffen, wenn ich sie lehre, welches Schicksal der Erde und ihren Abkömmlingen eines Tages...


Jean-Baptiste Cousin de Grainville, geboren 1746 in Le Havre als Sohn eines Stabsoffi ziers. Nach der Schulzeit in Caen und später in Paris erhielt er 1766 die für ihn vorgesehene Priesterweihe, gab aber schon während der Französischen Revolution das Priesteramt wieder auf. Er verfasst mehrere Dramen, die im Théâtre National zur Aufführung kommen. Das Vorhaben, sein Epos "Der Letzte Mensch" in Verse zu bringen, setzt er nicht mehr um: 1805 stirbt er durch eigene Hand. Noch im selben Jahr wird "Der Letzte Mensch" zum ersten Mal veröffentlicht. Ungeachtet der kaum vierzig verkauften Exemplare erscheint bereits ein Jahr später in London eine anonyme englische Übersetzung, ein Jahr darauf in Leipzig eine deutsche Übertragung.

Sylvia Schiewe, geboren 1971, ist Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen. Zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin: Paul de Mans "Allegorien des Lesens".



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