E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Die Kunstwirker-Chronik
Gladstone Letzter Erster Schnee - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik
Neuauflage 2023
ISBN: 978-3-7569-9997-2
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Die Kunstwirker-Chronik
ISBN: 978-3-7569-9997-2
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vierzig Jahre nach den Götterkriegen trägt die Stadt Dresediel Lex weiterhin die Narben der Befreiung - vor allem in einem Armenviertel, das noch immer unter den maroden Edikten der gefallenen Götter steht. Solange die göttlichen Schutzwälle bestehen, wird jede Entwicklung im Keim erstickt - sollten sie hingegen versagen, werden Dämonen auf die Stadt losgelassen.
Max Gladstone: Ich habe mit der Kunstwirker-Chronik eine Saga erschaffen, die in einer postindustriellen (und Nachkriegs-) Fantasywelt spielt, wo schwarze Magie ein Riesengeschäft ist, Zauberer Nadelstreifenanzüge tragen, nekromantische Prozeduren an toten Göttern durchgeführt werden und der alltägliche Handel darauf beruht, dass Menschen Teile ihrer Seelen für Waren und Dienstleistungen eintauschen. Die Kunstwirker-Chronik-Romane sind sowohl juristische Thriller über den Glauben als auch religiöse Thriller über Justiz und Finanzen. Außerdem gibt es Polizeikräfte mit verbundenem Bewusstsein, dichtende Wasserspeier, gehirnwaschende Golems, Alptraumtelegrafen, überraschend sympathische Dämonen, weltzerstörende Magie, Umweltzerstörung und das tiefste und dunkelste Übel von allen: BAFÖG. Also, im Grunde alles wie im richtigen Leben!
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2 Am nächsten Tag vor Sonnenaufgang nahm Elayne eine fahrerlose Kutsche und fuhr nach Süden zum Chakal-Platz in Huschbank. Glastürme und klobige, umfunktionierte Pyramiden wichen gedrungenen Einkaufszentren, Palmen und winzigen Bungalows. Optera summten umher und Luftbusse schwebten am blauen Himmel. Straßenschilder warben für Sandwich-Läden, Kutschenmechaniker, Pfandleiher und Rasenpflege. Einige große Art-déco-Plakate des Rotkönigs, die in den Schaufenstern der Geschäfte hingen, mahnten die Bürger zur Vorsicht vor Bränden. In der Nähe von Huschbank änderten sich die Gebäude erneut – Lehm und Putz wichen Reihenhäusern aus Schindeln, die in Pastellgrün und Rosa gestrichen waren. Die Straßen wurden schmaler und die Bürgersteige breiter; unebenes Kopfsteinpflaster ließ die Kutsche hin- und herschaukeln. Schließlich stieg sie aus, bezahlte das Fahrgeld von ihrem Spesenkonto und setzte ihren Weg zu Fuß fort. Zwei Blocks weiter hörte sie den Protest. Keine Rufe, keine Sprechchöre, nicht so früh – nur Bewegung. Wie viele Körper? Hunderte, wenn nicht Tausende, die atmeten, sich im Schlaf wälzten oder sich murrend in einen neuen, unsicheren Wachzustand versetzten. Gemurmelte Gespräche verschmolzen zu einem Brandungsrauschen. Zusammengemischt klangen alle Sprachen gleich. Sie roch den Duft von gebratenem Brot und Eiern, vor allem aber roch sie Menschen. Dann kreuzte die Aderlassstraße die Krähe, und der Chakal-Platz öffnete sich nach Süden und Osten. Der Chakal-Platz war ein Rechteck, zweihundert Meter lang und einhundert breit, mit einem Brunnen in der Mitte, der Chakal selbst gewidmet war – einer Quechal-Gottheit, die früh in den Götterkriegen getötet worden war, ein Opfer der Scharmützel im Süden Oxulhats. Die Statue war verunstaltet, der Gott war tot, aber der Name war geblieben, und zwar auf einer steinernen Fläche zwischen hölzernen Gebäuden, auf der an den meisten Tagen ein Markt unter freiem Himmel stattfand, einem Ort für Feste und Konzerte. Das örtliche Büro des Rotkönig-Konsortiums brütete im Osten. Die Menschen drängten sich auf dem Chakal-Platz. Der Rauch von Campingkochern waberte über kreisrunden Zelten. Die Menge in der Nähe des Brunnens, neben dem eine baufällige Bühne stand, hatte viele Fahnen und Protestschilder auf Kathisch und Nieder-Quechal bei sich. Noch hatte niemand die Bühne betreten. Die Reden würden später kommen. Eine lockere Reihe von Männern saß oder stand am Rande der Menge, die Gesichter nach außen gewandt. Sie trugen keine Waffen, die Elayne sehen konnte, und viele dösten, aber sie hielten so etwas wie Wache. Elayne sah in beide Richtungen die leere Krähe entlang und überquerte die Straße. Die Wache vor ihr schlief, aber eine Handvoll anderer schüttelte den Schlaf ab und rannte auf sie zu, um sie abzufangen, wobei sie sich in einem lockeren Bogen aufstellten. Ein dicker junger Mann mit einer gebrochenen, schief sitzenden Nase sprach als Erster. »Du gehörst nicht hierher.« »Das ist richtig«, sagte sie. »Ich bin eine Botin.« »Du siehst aus wie eine Kunstwirkerin.« Sie erinnerte sich an diesen Tonfall; ein Echo aus der Zeit vor den Kriegen – vor ihren Kriegen jedenfalls –, als sie noch schwach gewesen war, als sie mit zwölf Jahren vor Männern mit Fackeln und Mistgabeln floh und sich in einem schlammigen Teich versteckte, durch ein Schilfrohr atmete, während Blutegel sich an ihrem Blut labten. Nur Erinnerungen, die Vergangenheit längst vergangen und doch gegenwärtig. Seit jener Nacht der Fackeln, Mistgabeln und Zähne hatte sie gelernt, mit Macht umzugehen. Sie hatte weder von diesem Kind mit der gebrochenen Nase noch von der Menge in seinem Rücken etwas zu befürchten. »Mein Name ist Elayne Kevarian. Der Rotkönig hat mich gesandt, um mit euren Anführern zu sprechen.« »Um sie zu verhaften.« »Zum Reden.« »Kunstwirkergerede hat Ketten in sich.« »Diesmal nicht. Ich bin gekommen, um ihre Forderungen zu hören.« »Forderungen«, sagte Schiefnase, und seinem Tonfall entnahm Elayne, dass dies vielleicht doch ein kurzes Treffen werden würde. »Hier ist eine Forderung: Geh zurück und sag deinem Boss …« »Tay!« Die Stimme einer Frau. Schiefnase drehte sich um. Diejenige, die gesprochen hatte, rannte von weiter hinten auf die Wache zu. Die Wachen veränderten ihre Haltung, als sie sich näherte. Vielleicht war es ihnen peinlich. »Was ist hier los?« Schiefnase-Tay deutete auf Elayne. »Sie sagt, der Rotkönig hätte sie geschickt.« Elayne musterte den Neuankömmling – kurzes Haar, lockerer Pullover, breite Statur. Vielversprechend. »Ich bin Elayne Kevarian.« Sie zückte eine Visitenkarte. »Von Kelethras, Albrecht und Ao. Ich wurde vom Rotkönig und Tan Batac in der Angelegenheit des Huschbank-Schutzzauber-Projekts beauftragt. Ich bin hier, um mich mit Ihren Anführern zu treffen.« Die tiefbraunen Augen der Frau musterten sie abwägend. »Woher wissen wir, dass Sie keinen Ärger machen werden? In den letzten Tagen sind Leute ins Lager gekommen, nur um Streit anzufangen.« »Ich habe kein Interesse daran, Streit anzufangen. Ich hoffe, dass ich ihn verhindern kann.« »Wir werden uns nicht vor Ihnen verbeugen«, sagte Tay, aber die Frau streckte eine Hand mit der Handfläche nach unten aus. Er klappte den Mund zu, entspannte sich jedoch nicht. Seine Muskeln hielt er für einen Kampf oder einen Schlag angespannt. »Chel, wir müssen nicht zuhören …« »Sieht sie aus wie eine der Axtträgerinnen von Batac?« »Sie sieht gefährlich aus.« »Sie ist gefährlich. Aber vielleicht auch aufrichtig.« Chel wandte sich wieder an Elayne. »Sind Sie das?« Und das war die Kunst, die man nicht lernen konnte: klar und ehrlich zu antworten, den Anschein zu erwecken, als würde man die Wahrheit sagen, vor allem, wenn man es tat. »Ja.« »Keine Waffen?« Sie öffnete ihre Aktentasche und zeigte ihnen die darin befindlichen Dokumente und die wenigen Stifte, die in Lederschlaufen steckten. Amulette und Werkzeuge, Instrumente der hohen Kunstwirkerei, fehlten. Sie hatte sie heute Morgen für den Fall der Fälle herausgenommen. Es hatte keinen Sinn, die Einheimischen zu erschrecken. »Wen wollen Sie sehen?« »Jeden«, entgegnete Elayne, »der die Autorität und den Willen hat, zu reden.« Chel sah von ihr zu Tay und zu den anderen Versammelten. Schließlich nickte sie. »Kommen Sie mit mir.« »Danke«, sagte Elayne, als sie die Wachen hinter sich gelassen, aber noch nicht den Hauptteil des Lagers erreicht hatten. »Wofür? Tay hätte gar nichts angefangen. Er tut nur so, wenn er aufgeregt ist.« »Wenn er nichts angefangen hätte, warum sind Sie dann herübergelaufen, um ihn aufzuhalten?« »Es waren ein paar lange Tage«, sagte Chel, und das war eine Antwort oder auch nicht. »Sind Wachen nicht ein bisschen exklusiv für eine populistische Bewegung?« »Wir hatten Probleme. Verbrannte Lebensmittelläden, Kämpfe. Die Leute, die die Kämpfe angefangen haben, kannte niemand – Batacs Schläger.« »Eine schwere Anschuldigung.« »Die Bosse haben das Gleiche während des Hafenarbeiterstreiks getan. Viele meiner Freunde wurden verhaftet. Diejenigen von uns, die das miterlebt haben, dachten, wir könnten die Dinge vielleicht beruhigen oder niederringen, wenn Niederringen nötig wäre.« Sie klang stolz. »Also halten wir Wache.« »Sie sind Hafenarbeiterin?« »Dort geboren und aufgewachsen. Etwa die Hälfte von Huschbank arbeitet im Hafen von Langensande oder hat dort Familie.« »Und Ihre Arbeitgeber haben Ihnen erlaubt, zu protestieren?« Auf ihre Frage folgte betretenes Schweigen, und das war die einzige Antwort, die Elayne brauchte. »Ich schätze, Sie sind nicht von hier«, sagte Chel. »Ich habe vor einiger Zeit kurz in DL gelebt. Jetzt bin ich zu Gast.« »Vielleicht haben Sie noch nichts von dem Streik gehört. Das war im letzten Winter. Wir hatten mit Lohnkürzungen, unsicheren Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten zu kämpfen. Menschen starben. Wir sind in den Streik getreten. Es hat sich herausgestellt, dass Streiks gegen Leute wie Sie nicht so gut funktionieren.« Elayne erkannte diesen Tonfall – schwer und sachlich wie ein an den Knöchel gefesselter Stein. Sie hatte auch einmal so gesprochen, als sie jünger gewesen war als diese Frau. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie denselben Gang gehabt: die Hände in den Taschen, nach vorn gebeugt, als würde sie sich gegen den Wind stemmen. »Wir haben uns nicht beurlauben lassen«, fuhr Chel fort. »Seit dem Streik ist die Lage schwierig. Wir lesen die Flugblätter, wie alle anderen auch. Wenn dieses Geschäft zustande kommt und unsere Miete steigt, können wir hier nicht mehr wohnen. Umzugskosten. Kosten für die Fahrt zur Arbeit. Schlimmer noch, wenn man eine Familie hat. Dies war die beste schlechte Wahl. Sie wissen ja, wie das läuft.« »Ja«, sagte Elayne, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, etwas zu sagen. »Was meinen Sie mit den Flugblättern?« Chel hob ein Stück Zeitungspapier vom Boden auf. Die Schlagzeile lautete: »Kabale plant den Tod des Distrikts«, darüber Karikaturen des Rotkönigs und Tan Batacs. Elayne las die ersten Zeilen des Artikels, faltete das Blatt zusammen und reichte es Chel wieder. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchen musste, sah sie weitere Kopien, die an die Seiten der Zelte geklebt waren. Sie konnte nirgends einen Schriftzug oder ein Druckersymbol...