E-Book, Deutsch, 205 Seiten
Gerhards / Thiemeyer / Henrich-Franke Staat, Nation und Moderne: Europa 1870-1920
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-037743-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-17-037743-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Jahrzehnte zwischen 1870 und 1920 markieren Höhepunkt und Abschluss der europäischen Vorherrschaft in der Welt. Die Epoche ist gekennzeichnet von Phänomenen wie Kapitalismus, Technisierung und Demokratisierung, die neben ihrer Fortschrittlichkeit zugleich ein bisweilen grelles Schlaglicht auf gegenläufige Beharrungskräfte sowie die vielfältigen sozialen und politischen Kosten dieser schier grenzenlosen Dynamiken werfen. Europa bleibt aber ein heterogener Kontinent mit zum Teil scharfen Trennlinien zwischen Ost und West, Stadt und Land, Bürgertum und Arbeiterschaft.
Anhand der Analyse von sechs zentralen Kategorien (Staat, Recht, Wirtschaft, Technik, Gewalt, Gesellschaft) wird die Janusköpfigkeit eines Zeitalters erkennbar, das in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges sein Ende fand.
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2 Staat
2.1 Vorbemerkungen
Neben der Transformation der feudalen Agrar- zu kapitalistischen Industriegesellschaften ist die fortschreitende Herausbildung moderner Staatlichkeit einer der bestimmenden Prozesse des 19. Jahrhunderts, die bis heute wirksam sind. Auch hier bildet die Französische Revolution eine markante Epochenscheide, da sich in ihrem Gefolge – mal schneller, mal sehr langsam – die staatlichen Strukturen in Regierung und Verwaltung nachhaltig wandelten. Insbesondere rückte mit dem Vordringen moderner Verfassungsstaatlichkeit ( Kap. 3.3) überall die Frage nach politischer Partizipation der Bürger in den Vordergrund. Diese Prozesse waren bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gang gekommen und beschleunigten sich vor allem in West- und Mitteleuropa im Verbund mit der wirtschaftlichen Transformation, dem Bevölkerungswachstum und der Herausbildung weiterer Nationalstaaten in der zweiten Jahrhunderthälfte. In den sich herausbildenden Massengesellschaften entstand ein vielfacher Regulierungsbedarf, dessen Bewältigung man nicht länger alleine den freien Kräften des Marktes zutraute. Auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik verschafften sich selbst im liberal-konservativen Bürgertum immer mehr Stimmen Gehör, die nach mehr staatlichem Engagement verlangten, um die schlimmsten Auswüchse einer rechtlich noch kaum eingehegten Industrialisierung zu begrenzen. Dieser Prozess hatte früh mit der Einschränkung der Kinderarbeit begonnen, erreichte in den 1880er Jahren mit der Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches aber eine neue Qualität. Bevor wir uns diesen Fragen widmen und dazu die wesentlichen Staatsformen analysieren, soll es zunächst um die Klärung der Frage gehen, was einen (modernen) Staat überhaupt ausmacht und wie er sich bis 1870 entwickelte. 2.2 Die Entstehung des modernen Staates
Es gibt keine verbindliche Definition für die politische Ordnung, die seit der Antike »Staat« genannt wird. Zu viele Wissenschaften – von der Jurisprudenz und Philosophie über die Geschichte bis hin zu den ausdifferenzierten Sozialwissenschaften (vor allem Politologie und Soziologie) – sind an der Debatte beteiligt, als dass sich Einigkeit erzielen ließe. Erschwerend hinzu kommt, dass im deutschen Staatsbegriff traditionell ein viel größerer Subtext mitgedacht wird als in den meisten anderen europäischen Sprachen; gerade in deutschen Texten des 19. Jahrhunderts wird dem Staat, in Tradition des hegelianischen Idealismus, eine spezifische »Würde« zuerkannt, die ihm in anderen Ländern nicht beigemessen wurde. Worauf beruht nun dieses »moderne« Staatsverständnis? Es nicht überraschend, dass zentrale Elemente dieser Auffassungen erst um 1900 entwickelt wurden. Aus juristischer Sicht ist die Definition des Heidelberger Staatsrechtslehrers Georg Jellinek bedeutsam geworden. Laut seiner »Drei-Elemente-Lehre« wird ein Staat durch ein dauerhaft zusammenlebendes Staatsvolk konstituiert, das auf einem festgelegten Territorium existiert und durch eine allseits anerkannte Regierung geleitet wird. Aus soziologischer Sicht hat Max Weber diese Definition um das Element der legitimen Herrschaft erweitert und damit das Monopol physischer Gewaltanwendung hervorgehoben, das im Gegensatz zu früheren Zeiten nun alleine dem zentralisierten Staat zustehe. Für einen historisch-konkreten Staatsbegriff lassen sich daher mindestens fünf hauptsächliche Eigenschaften herausarbeiten, die den modernen Staat von vormodernen politischen Gemeinschaften (transhistorisch-universaler Staatsbegriff) unterscheiden: Die Einheitlichkeit von (1) Staatsgebiet (klare Außengrenzen), (2) Staatsvolk (Sesshaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Mitglieder) und (3) Staatsgewalt (Souveränität eines zentralen Herrschaftsträgers) – sowie schließlich das Monopol legitimer physischer Gewaltanwendung (4) nach innen (Verwaltung, Polizei, Justiz) und (5) nach außen (Kriegsführung). Nimmt man diese Kernelemente als Ausgangspunkt, dann erschließt sich beispielsweise, dass weder das Heilige Römische Reich noch der Deutsche Bund Staaten waren, da ihnen die Einheitlichkeit der Staatsgewalt fehlte. Die dreifache Betonung des Prinzips der Einheitlichkeit verweist bereits hier auf ein zentrales Problem moderner (National-)?Staatlichkeit: den homogenisierenden Anspruch des Nationalstaates mit seinem Drang zur Vereinheitlichung seiner Bürger. Weitere politische und rechtliche Qualitäten treten hinzu: So ist er im Normalfall Rechts- und Verfassungsstaat ( Kap. 3.3), entwickelt sich im 19. und 20. Jahrhundert zum Nationalstaat und bekennt sich in ganz unterschiedlichen formalen Graden (mit noch größeren Unterschieden in der Verfassungsrealität) zu demokratischen Prinzipien wie dem allgemeinen Wahlrecht. Insbesondere die Verfassungsstaatlichkeit änderte das politische Beziehungsgefüge in den Staaten entscheidend, worauf weiter unten genauer einzugehen ist. Alleine Russland erhielt erst 1906 eine Verfassung, die die traditionellen Rechte des Zaren aber kaum einschränkte. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfältig und von Land zu Land recht unterschiedlich, sie können hier nur idealtypisch vereinheitlichend für Europa kurz rekapituliert werden. Die Etablierung stehender Heere wie überhaupt Militär und Kriegsführung hatten einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Herausbildung moderner Staatlichkeit seit dem 16. Jahrhundert, als sich allmählich ein europäisches Staatensystem ausbildete, das beständig in Kriege verwickelt war. Der Politikwissenschaftler Charles Tilly hat das auf die einfache Formel gebracht: Der Krieg machte den Staat und der Staat machte den Krieg. Im Grunde knüpfte er damit an den deutschen Verfassungshistoriker Otto Hintze an, für den der Krieg »das große Schwungrad für den gesamten politischen Betrieb des modernen Staates« geworden sei. Das heißt: Im Zuge der Modernisierung der Kriegsführung in der Frühen Neuzeit erstrebten die europäischen Staaten ein Gewaltmonopol, das lokale oder Infobox 1: Otto Hintze über die Herausbildung des modernen Staates
»In den Feudalreichen des Mittelalters hat sich der grundbesitzende Kriegerstand neben der Geistlichkeit die Ausübung der wichtigsten politischen Funktionen vorbehalten oder angeeignet, und die Entstehung des modernen Staates ist im wesentlichen nichts anderes als der Vorgang einer Verstaatlichung dieser feudalen Gesellschaftsorganisation. Dabei entsteht dann unter der Botmäßigkeit der souveränen, d. h. absoluten Staatsgewalt, eine neue individualistisch aufgebaute bürgerliche Gesellschaft, die den Normen eines allgemeinen Privatrechts unterworfen ist; und diese bürgerliche Gesellschaft emanzipiert sich schließlich weitgehend von der Botmäßigkeit des absoluten Staates und steht dem voll entwickelten modernen Staat, dem liberalen Staat des 19. Jahrhunderts als eine ebenbürtige Organisation des Volkes auf individualistischer Basis gegenüber, durch die parlamentarische Repräsentativverfassung mit ihm verknüpft, aber sonst in einer staatsfreien Sphäre sich bewegend.« Quelle: O. Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats [1931], in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von G. Oestreich, 2. Aufl. Göttingen 1962, S. 470–496, hier S. 473. private Gewaltakteure auszuschließen versuchte. Die Unabhängigkeit nach außen sowie das Gewaltmonopol im Inneren wurden nun zum Nachweis staatlicher Souveränität. Zur Finanzierung der wachsenden Heere war eine Intensivierung und Rationalisierung der Steuererhebung notwendig, die zum Aufbau staatlicher Bürokratien führte. Dieser Prozess intensivierte sich seit dem 18. Jahrhundert, indem der Staat immer weitere Aufgaben an sich zog und diese mithilfe professioneller Beamter seiner Regelungskompetenz unterwarf. Entscheidend für diese Entwicklungen war schlicht die Existenz mehrerer rivalisierender Staaten, so dass ein souveräner Staat zum Machtstaat werden musste, um sich behaupten zu können; das galt zunehmend auch für den internationalen Handelsverkehr, der bis zur Französischen Revolution immer wieder ein wichtiger Kriegsgrund war. Trotz dieser dauerhaften Rivalität, bei der Krieg stets ultima ratio blieb, stellte sich eine Machtbalance der Großmächte ein, die zunächst nur durch Napoleons hegemoniale Ansprüche temporär erschüttert wurde. Nach 1815 kam es bis zum Ersten Weltkrieg nicht mehr zu Kriegen zwischen mehr als zwei Großmächten in Europa ( Kap. 7.5) – das war eine...