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Geissler | Wird Zeit, dass wir leben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 358 Seiten

Reihe: Christian Geissler Werke

Geissler Wird Zeit, dass wir leben

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-943167-58-0
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, Band 1, 358 Seiten

Reihe: Christian Geissler Werke

ISBN: 978-3-943167-58-0
Verlag: Verbrecher
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Schlosser ist Funktionär der KPD. Bis zu seiner Verhaftung bremst er den Eifer der Genossen im Kampf gegen die Nazis, verweigert die Waffen und pocht auf Disziplin. Die Genossen von der Basis aber wollen kämpfen. Kämpfen bedeutet für sie Lust und Leben. Vor allem für Karo, aber auch für Leo, der noch 1930 zur Polizei geht, aber später begreift, dass er auf der falschen Seite steht. In 'Wird Zeit, dass wir leben' erzählt Christian Geissler mit 'balladenhaft-lyrischer Präzision' (Heinrich Böll) vom Widerstand der Kommunisten gegen die Nazis in Hamburg. Als ob er mitten im Geschehen steckt, begleitet er seine Figuren durch die Kämpfe vor und nach 1933. Er erzählt von Gewalt von oben und Gegenwehr von unten, vom Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum, zwischen Disziplin und Eigensinn - und zieht den Leser in die immer noch aktuellen Debatten mit hinein. Geisslers Roman basiert auf einer wahren Geschichte: Das Vorbild für Leo war der Hamburger Polizist Bruno Meyer, der Anfang 1935 die Widerstandskämpfer Fiete Schulze und Etkar André aus dem Gefängnis befreien wollte. Detlef Grumbach recherchierte umfassend und erzählt in seinem Nachwort erstmals vom Schicksal Bruno Meyers.

Christian Geissler wurde am 25. Dezember 1928 in Hamburg geboren. Nach einem nie abgeschlossenen Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie in Hamburg, Tübingen und München arbeitete er ab 1956 als freier Schriftsteller. Geissler arbeitete u. a. beim NDR, war Mitherausgeber der linken Literaturzeitschrift Kürbiskern, Dokumentarfilmer und Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Neben seinem Debüt 'Anfrage' (1960) ist 'kamalatta' (1988) sein bekanntester Roman. Er lebte zumeist in Hamburg und Ostfriesland und starb am 26. August 2008. Außer seinen Romanen veröffentlichte Geissler zahlreiche Hörspiele, Dokumentarfilme und Lyrik-Bände.

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I
Vorläufige Erinnerung Als sie an jenem Ostermontag aus dem Schatten der Höfe, aus der Deckung all dieser Gesichter bewaffnet über ihn herfielen, war er nicht überrascht, hatte gegen sie aber nichts in der Hand. Er war ein Mann aus der Leitung, fast vierzig Jahre alt, zwanzig Arbeitsjahre als Schlosser im Dock, Arbeiterkampfjahre bis jetzt hierher, leere Hände, nach hinten gedreht, ins Eisen, für Arbeit und Brot*. Er war nicht überrascht. Er kannte die Straßen. Sie fuhren zum Stadthaus. Er lief ihnen an der Kette die Stadthaustreppe hinauf, an der Kette durch kleine Büros, an der Kette bis an den Stuhl. Dort solle er, sagten sie, nachdenken »bis du tot bist«, und verließen die Zelle, in Eile, polternd. Er horchte ihnen nach. Er war überrascht von ihrer Angst. Er hatte jetzt plötzlich Durst. * Schlosser war der aus der Weihnachtsgeschichte* am wassergekühlten Maschinengewehr, hinter Zeitungsballen und Pissbudeneck, mit pflaumigem Homburger auf, nur dass Berlin seine Stadt nicht war, sondern Hamburg, Türme und Masten, Arbeit und Kinder und Stehbier und Kampf: vom Arbeiterrathaus bewaffnet gegen den Bullenförster aus Daressalam*, paar Jahre später aus Hungerdachluken* gegen die Ordnungspanzer von Obertier Danner*, nicht unser Ober, nicht unser Panzer, nicht unsere Ordnung, bloß unser Hunger, und klar auch erst mal den Knast aufreißen, los komm, ja, du auch, aller Anfang ist Knast, also weg damit, lachen, endlich mal rot und nicht tot, in all diesem Krieg von Holstenglacis* bis Billstedter Jute*, rede, Genosse Mauser*. Er richtete sich streng auf. Er wusste aus seiner Kindheit, dass er nicht hatte einschlafen können, solange das Trinkgefäß im Kanarienbauer nicht regelrecht eingehängt saß, sondern achtlos, in Eile, verklemmt. Achtung, Richtung, Ordnung. Regel und Recht. Auch hatte er nur mit Widerwillen an seiner Schulaufgabe weitergearbeitet, sobald ein Fehler, auch nur ein Verschreiber passiert war. Auf einer neuen Seite sofort, am liebsten kariertes Papier, aber woher für Arbeiterschulkinder all das Geld, pass besser auf, »pass bloß auf!«: Ordnung als Drohung und als Beschämung noch überall hinter der Ordnung. Und irgendwann willst du das selbst. Wasser verschluckt dich, treibt weg, lockt dich runter in offene Arme, in alles verhextes Glück, fließt also nützlich nur zwischen Mauern nach Maß, aber nach wessen Maß. Er war bemüht, für dieses letzte Stück Weg alles Fragliche abschließend klarzustellen, richtigzustellen, sicherzustellen, möglichst kühl festzustellen. Aber der brennende Durst, die leeren Hände im Rücken, die Beine im Gittermuster all dieser Fenster. Draußen waren Sonne, die Stadt, das Wasser. Die Stadt aber glatt und matt. In der Hitze unter der Zellendecke glitten unhörbar Fliegen im Schwarm, wehten zart zueinander hin, stießen weg voneinander in rasendem Zickzack, wozu, und wie viele sind das, er suchte die richtige Zahl, er würde dann sicherer schweigen, nachdenken, bis du tot bist. Wann fängt dein Sterben denn an? * »Unsern Tod bestimmen wir selbst.« Das hatte ihm Schupofips* Leo gesagt. Der hatte die letzten Jahre, auf Zeit, mal Wachdienst im Stadtteil St. Georg gehabt, den mochten sie gern, trotz Schlagstock und Blaurock, den fanden sie alle so lieb und fein, und auch fuchsig gelernter Mann, der Rekrut, mit beinah schon mal Abitur gemacht, und selbergebauten Negertrommeln, »und kannst dich trotzdem auf ihn verlassen«, »mach klar, Leo, dass sie den Schlosser nicht fangen!«, und war ihm auch meistens geglückt. Und Pudel lacht ihn sich an und legt ihn sich griffig zurecht, kostenlos, sonst steht sie Hansaplatz, für meistens nur Bessergestellte. Und kommt bei ihm zärtlich ins Hemd. Und stolziert danach wippend um Schlosser. Aber Schlosser fasst Nutten nicht an. Vielleicht auch nur wegen Bürobeschluss. Denn das Lachen von Pudel, der Schönsten vom Kiez, war der Leitung verdächtig gewesen, »unser Kampf ist kein Witz und bestimmt keine Zote«. Aber doch auch kein Schulstundentag mit Gradesitzen und Eckestehen, wenn du am liebsten mal lachst. Sie hatten sie in die Ecke gestellt. Und Pudel hatte zu ihnen gesagt, dass Genossen was mit Genießen zu tun hat, »sonst alles bald bloß nur noch Krampf. Klar kann man dem Kantfisch trauen«. Sie trauten ihr nun erst recht nicht mehr. Leo Kantfisch war Polizist. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – als gar nichts. Also fast nur noch Kontrolle. Wo sind wir selbst? Da fängt dein Sterben schon an. Schlosser hatte mit Leo unlängst noch nachts über Frauen gesprochen, im Hausflur Danziger Straße. Geruch aus den Abfalleimern, das Abstellen und das Spielen von Kindern der Eigentümer, die schwache Bewegung der Tabakglut. Draußen die Razzia nach Maß, nach wessen Maß, Waffenträger schlägt Zettelkleber, schlägt diesmal haarscharf daneben. Pudel hat lachend aufgepasst, trotz Verbot noch lange nicht tot, hat den Schlägertrupp rechtzeitig durchgepfiffen an alle, »sowas macht die aus Spielerei«, »lach du doch auch«, »das ist keine Frau«, »und wir hier bei Nagel und Blohm und Danner, ihr verkauft euch doch jeden Tag auch«, »aber nicht so«, »nur jeden Tag euer Leben«, »unser Leben ist die Partei«. Schlosser hatte sich paar Stufen höher gesetzt als der Schupo, besseren Überblick durch die Flurfensterklappe, »bei der Frau muss man Angst haben, dass du dich ansteckst«, Leo drehte sich nach ihm um, »mitten im Dreck dein Stück saubere Ordnung. Hast Angst vor den Menschen, Schlosser«. Da fängt dein Sterben dann an. Er saß nun leer für sich selbst, aber wer, aber ich, aber was, aber nichts in der Hand, aber wir, aber wann, aber jetzt, aber alles entrissen, trocken und taub. Nicht mal mehr endlich noch Blut in deinen hängenden Fäusten. Was haben wir falsch gemacht? * »Mitten im Krieg dein Kampf ohne Waffen. Das darfst du nie machen.« Das war vor sechs Jahren das Knechtemädchen im Gutswald derer von Zachun*, der Herr Alexander nannte sie Karo, zärtlich mit seiner Peitsche gegen den Hass dieses Kindes. »Wir könnten ihn fangen. Die sagen, ich bin seine Tochter. Er soll uns alles bezahlen. Und dann paar Steine am Hals. Das Wasser dort draußen ist tief.« »Wir sind keine Mörder.« »Jonny sagt, ich bin ein Indianer. Wir sagen, im Schloss sind die Weißen.« »Wer ist Jonny?« »Der Vater von meiner Mutter. Die hilft in der Küche. Die könnte auch Feuer legen, wenn wir das wollen.« »Wir dürfen nichts provozieren.« »Rede nicht wie die Weißen. Dann versteh ich dich nicht.« Das Mädchen hielt gegen ihn starr seinen Kopf gesenkt, aber die Hände als Fäuste. Auf so einfachen Hass, auf die Schönheit einer so selbstständigen Gewalt war er nicht mehr gefasst, erst recht nicht hier oben in Herrschaftswäldern über all diesen Seen. Er war mit dem Fahrrad im Auftrag der Leitung für Tage und Nächte dort draußen in Scheunen und Hütten, trotz Regen im Hemd und Dreck an den Beinen und Hunger, die Augen scharf auf, den Kopf klipp und klar gegen Waffen gerichtet, die hier im Gelände der Eigentümer als Übungswaffen im Einsatz waren für deren Innere Sicherheit, für heimliche Truppen gegen die Stadt, Häuserkampf um Schafstallmauern, Vorhaltegrad zwischen Raps und Lupinen, die Ziegelei als rote Fabrik, die Baronin als Krankenschwester. Er hatte alles notiert. In der letzten Nacht saß er heimlich im Häuslerwinkel bei Karos Mutter und Jonny, »die drüben damals, die Roten gegen die States, die konnten nicht schreiben, die hatten nichts für Notizen und Zeitung, die haben niedergestochen und ausgebrannt und vernichtet«. »Warst du selber dabei?« »Nicht bei den Weißen. Und auch schon bald sechzig Jahre vorbei, inzwischen.« »Und die Roten drüben sind jetzt an der Macht?« »Alles vernichtet. Alles nie einig gewesen. Alles dann doch noch geglaubt, und Briefe geschrieben von weißen Agenten, und Verträge gemacht mit dem weißen Vater. So dumm bist du auch schon bald, sieht man.« Der Alte stieß seine Tochter an, die junge krumme Mutter des Mädchens, »sag ihm mal, was er hier aufschreiben soll«. »Dass wir sie in die Scheune treiben, und Steine vors Tor bis an den Hals, und dann lebendig verbrennen.« Sie kam um den Tisch an Schlosser ran, packte ihn mit ihren grauen Fäusten an beiden Ohren wie einen Sohn, sie war im Stehen vor ihm noch kleiner als er im Sitzen, »komm, Karo, bring ihm mal Schnaps, dann schreibt er nichts mehr und bleibt er bei uns, und morgen machen wir Feuerchen an, morgen ist Sonntag, den Wächter gleich mit, den...


Christian Geissler wurde am 25. Dezember 1928 in Hamburg geboren. Nach einem nie abgeschlossenen Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie in Hamburg, Tübingen und München arbeitete er ab 1956 als freier Schriftsteller. Geissler arbeitete u. a. beim NDR, war Mitherausgeber der linken Literaturzeitschrift Kürbiskern, Dokumentarfilmer und Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

Neben seinem Debüt "Anfrage" (1960) ist "kamalatta" (1988) sein bekanntester Roman. Er lebte zumeist in Hamburg und Ostfriesland und starb am 26. August 2008. Außer seinen Romanen veröffentlichte Geissler zahlreiche Hörspiele, Dokumentarfilme und Lyrik-Bände.



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