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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Gailus Gläubige Zeiten

Religiosität im Dritten Reich

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-451-82495-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Woran glaubten die 65 Millionen Deutschen im Dritten Reich? Welche Rolle spielte die "religiöse Frage" für Bestand und Stabilität des NS-Regimes? Wie dieses Buch zeigt, war die Hitlerzeit nicht, wie bisher weithin angenommen, von Säkularisierungsprozessen oder sogar von "Gottlosigkeit" bestimmt, sondern vielmehr von multiplen religiösen Erneuerungen geprägt. Bereits das politische Umbruchsjahr 1933 war von einem tiefgehenden "religious revival" begleitet. Eine uns heute paradox anmutende Gemengelage von christlichen Traditionsbeständen und einem völkisch-politischen Neuglaube spielte eine wesentliche Rolle im Nationalsozialismus.
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1933 als religiöses Erlebnis
Als Hitler zur Macht gelangte, hatten Glaube und religiöses Bekenntnis Hochkonjunktur. Denn viele Zeitgenossen erfuhren das Umbruchjahr 1933 nicht allein als politische Zäsur, sondern zugleich als Auftakt eines religious revival, als wundergleiche Erfüllung lang gehegter Erwartungen. Als pars pro toto für die gehobene Stimmungslage dieses religiösen Aufbruchs kann der reichsweit gefeierte „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 gelten. An diesem zugleich national-konservativ wie religiös geprägten Jubeltag verabschiedete eine knappe Majorität der Deutschen die ungeliebte Weimarer Republik mit Dankgottesdiensten, Glockengeläut, Militärparaden und nächtlichen Freudenfeuern. Das geschah nicht allein in Potsdam, sondern in landesweit zelebrierten Feiern und Zeremonien. Nicht zufällig fand die maßgebliche staatspolitische Symbolhandlung dieses Tages mit kirchlichem Segen in der traditionsreichsten preußischen Militärkirche in Potsdam statt.[1] Tonangebend von kirchlicher Seite wirkte an diesem Festtag Otto Dibelius mit. Der einflussreiche preußische Generalsuperintendent der Kurmark predigte vor Reichspräsident Paul von Hindenburg sowie einem Großteil der soeben neu gewählten protestantischen Reichstagsabgeordneten von Nationalsozialisten und Deutschnationalen in der Potsdamer Nikolaikirche. „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ – so lautete nach Römer 8, Vers 31, das Predigtmotiv des prominenten preußischen Kirchenführers. Es war exakt jener Text, über den am 4. August 1914 Hofprediger Ernst von Dryander in Berlin zum Auftakt des Ersten Weltkriegs gepredigt hatte. Dibelius’ Textwahl war gewiss eine Reverenz an die hochpatriotische Gott ist mit uns-Stimmung vom August 1914, die viele Protestanten während des Umbruchjahres 1933 aufs Neue empfanden. Auch jetzt riefen Dibelius und mit ihm Reichspräsident Hindenburg sowie das vereinte nationale Lager auf der politischen Rechten Gott als ihren Alliierten im „nationalen Aufbruch“ von 1933 an. Wenngleich Dibelius’ Predigt auch leicht kritische Untertöne gegenüber der nicht zu übersehenden Gewaltpraxis der neuen Machthaber enthielt, so erlag er doch im Ganzen der euphorischen Aufbruchsstimmung der Bürgerlichen und Konservativen, der Nationalen und Völkischen sowie der kräftig anschwellenden NS-Bewegung. Die Kirche dürfe, so meinte Dibelius unter Verweis auf Luther, der „rechtmäßigen staatlichen Gewalt“ nicht in den Arm fallen, wenn sie das tue, wozu sie berufen sei. Wenn der Staat gegen die Feinde der staatlichen Ordnung vorgehe, dann möge er in Gottes Namen seines Amtes walten. Sollte „die Ordnung“ wiederhergestellt sein, meinte der Prediger an diesem strahlenden Frühlingstag des März 1933, dann müsse wieder Gerechtigkeit und Liebe walten. In Oranienburg unweit von Berlin wurde am selben Tag das Konzentrationslager für die Hauptstadtregion eröffnet.[2] Der anschließende Staatsakt in der Garnisonkirche begann mit dem Choral „Nun lob, mein Seel, den Herren“ des Königsberger Pfarrers Johann Gramann (Text um 1540). Nach kurzer Ansprache Hindenburgs gab Hitler eine Art Regierungserklärung, sehr vage und im Ton moderat. Es war – soweit bisher bekannt – die einzige Rede, die Hitler jemals in einer Kirche hielt. Der Reichskanzler dankte dem Reichspräsidenten für seinen Entschluss, am 30. Januar das „junge Deutschland“ mit der Staatsführung zu betrauen. Was während dieser gleichermaßen politischen wie kirchlichen Zeremonie in der Garnisonkirche vor sich ging, bezeichnete der Reichskanzler als „die Vermählung […] zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft“. Preußen und Hitlerbewegung reichten sich die Hand. Nach Aufzählung allgemein gehaltener Zielsetzungen des von Deutschnationalen und Nationalsozialisten gebildeten neuen Kabinetts der „nationalen Konzentration“ wandte sich Hitler erneut mit Dank an den greisen Reichspräsidenten: „Heute, Herr Generalfeldmarschall, lässt Sie die Vorsehung Schirmherr sein über die neue Erhebung unseres Volkes. Dieses Ihr wundersames Leben ist für uns alle ein Symbol der unzerstörbaren Lebenskraft der deutschen Nation. So dankt Ihnen heute des deutschen Volkes Jugend, und wir alle mit, die wir Ihre Zustimmung zum Werk der deutschen Erhebung als Segnung empfinden.“[3] Otto Dibelius hatte während dieser Zeremonie als hoher preußischer Kirchenvertreter in der ersten Reihe gesessen. Wenige Tage später schilderte er die Szene im kirchlichen Sonntagsblatt: Würdig, ernst und eindrucksvoll seien Hitlers Worte gewesen. „Zum Schluss der Rede die Kundgebung an den Reichspräsidenten. Alles erhebt sich. Als das letzte Wort gesprochen ist, tritt Hitler von dem Pult zurück. Der Reichspräsident tut einen Schritt nach vorn und streckt ihm die Hand entgegen. Hitler ergreift sie und beugt sich tief, wie zum Kuss, über die Hand des greisen Feldmarschalls. Es ist eine Huldigung in Dank und Liebe, die jeden ergriffen hat, der sie mit ansah.“[4]   *   Protestanten wie Katholiken feierten im Umbruchjahr 1933 das Ende der Weimarer Republik, die Protestanten mit deutlich mehr Emphase und Euphorie als die emotional weniger bewegten Katholiken. Die demokratische Republik, vielfach wegen der religionsneutralen Haltung des Weimarer Staates in kirchlichen Polemiken auch als „Gottlosenrepublik“ geschmäht, war ihnen zum Sinnbild für die verhasste Säkularisierung schlechthin geworden. Man hatte, das war offenkundig, unter wachsender Entkirchlichung und Entchristlichung gelitten. Liberale und Freidenker, Sozialisten und Kommunisten propagierten den Kirchenaustritt, etliche unter den „Gottlosen“ die Feuerbestattung und weltliche Schulen mit moderner reformpädagogischer Orientierung, Koedukation und ohne Religionsunterricht. Auch von einer angeblich ins Unerträgliche gewachsenen ‚Verjudung‘ in Staat, Kultur und Gesellschaft war bei Protestanten und Katholiken hier und da die Rede.[5] Und nun dagegen das Erlebnis 1933: Die Kirchenaustritte hörten plötzlich auf. In protestantischen Großstädten und Industrieregionen hatten sie bis 1933 ein bedrohlich erscheinendes Ausmaß angenommen. So verließen in Berlin in den letzten Jahren der Weimarer Republik jährlich Zehntausende die evangelische Kirche. In der protestantischen Großstadt Hamburg sah es kaum besser aus. Daher freuten sich besonders die evangelischen Kirchen seit dem Wendejahr 1933 über eine Welle von Wiedereintritten. Ein kollektives Gefühl von Umkehr, von anhebender Rechristianisierung griff um sich. „Volksmission“ lautete nun das kirchliche Gebot der Stunde.[6] Symptomatisch war eine Episode in Berlin: Zwei vom Nationalsozialismus begeisterte evangelische Pfarrer besetzten mit einem Trupp SA im März 1933 die Berliner Zentrale der Freidenkerbewegung und eröffneten dort ein Büro zum Wiedereintritt in die Kirche.[7] In der nun anbrechenden neuen Zeit musste man Konfession haben. Wer konfessionslos war im „Dritten Reich“, der geriet rasch in den Geruch einer marxistisch kontaminierten „Gottlosigkeit“ aus vergangenen Klassenkampfzeiten. Organisationen von Freidenkern, Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Kommunisten, die allesamt nicht kirchenfreundlich waren, wurden sofort verboten. An den pädagogisch modernen, konfessionsneutralen Reformschulen aus der Republikzeit wurde umgehend der christliche Religionsunterricht wieder eingeführt und schon bald kam das neue Schulfach „Rassenkunde“ hinzu. Liberale, konfessionslose und politisch linksorientierte Pädagoginnen und Pädagogen, darunter vor allem Schulleiter und Lehrer jüdischer Herkunft, wurden entlassen.[8] Am 10. Mai 1933 brannten im Verlauf einer von nationalen Studenten reichsweit inspirierten Kampagne „Wider den undeutschen Geist“ die Schriften modern-liberaler, marxistischer, teilweise auch jüdischer Autoren auf dem Berliner Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz. Bücher von Karl Marx und Karl Kautsky, Heinrich Mann und Sigmund Freud, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky landeten unter martialischen „Feuersprüchen“ in den Flammen. Hier wurde in symbolischer Aktion der angeblich „marxistische“ und „liberalistische“ Geist der Weimarer Republik dem Feuer übergeben. Erich Kästner, dessen eigene Schriften ebenfalls ein Raub der Flammen wurden, hat als Augenzeuge die barbarischen Szenen des Berliner Autodafés geschildert.[9] In Frankfurt am Main tat sich ein evangelischer Pfarrer hervor, der am 10. Mai auf dem Römerberg die Brandrede hielt. Er rief die Versammelten zu einem „Bekenntnis zum deutschen Wesen“ auf und ermahnte die Jubelmenge, sich für immer von jenen „undeutschen“ und „zersetzenden“ Schriften zu befreien.[10] Zu gleicher Zeit schossen religiöse Bekenntnisse, Grundsätze und Thesen in Form von Artikeln, Flugschriften, Heftchen und Büchern wie Pilze aus dem Boden. Diese Publikationsflut war Bestandteil einer geistig-weltanschaulichen Gegenoffensive. Sie repräsentiert so etwas wie die völkisch-religiöse Antithese zum säkularen Geist der verbrannten Bücher. Einige einschlägige Statements aus dem protestantischen Kirchenbereich seien namentlich genannt: Da gab es ein Osnabrücker Bekenntnis, ein Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren, das umfangreiche und grundsätzliche Tecklenburger Bekenntnis ostwestfälischer Pfarrer, das Loccumer Manifest zur Vorbereitung einer evangelischen Reichskirche, das Güstrower Bekenntnis, die...


Manfred Gailus, Prof. Dr., geb. 1949, studierte Bildende Künste in Nürnberg und Düsseldorf und Geschichte und Politische Wissenschaften an der FU Berlin. 1988 promovierte er über sozialen Protest in der Revolution von 1848/49, 1999 folgte die Habilitation an der TU Berlin über Protestantismus und Nationalsozialismus am Beispiel Berlins. Seit 2006 ist Gailus apl. Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, zuletzt am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.


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