E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Nautilus Flugschrift
Fritzsche Oben ohne
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96054-347-3
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Nautilus Flugschrift
ISBN: 978-3-96054-347-3
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nippel sind banal – oder erotisch. Normal – oder skandalös. Alltag – oder Gerichtssache. Was den feinen Unterschied macht, ist das (zugeschriebene) Geschlecht des Menschen, zu dem die Nippel gehören. Und es ist auch dieser feine Unterschied, der den Nippel immer wieder zu einem Politikum macht.
Als Gabrielle Lebreton sich 2021 an einem Berliner Wasserspielplatz oben ohne neben ebenfalls halbnackten Männern sonnen will, wird sie ermahnt, die Polizei wird gerufen und sie verliert im Nachgang vor Gericht – zumindest in erster Instanz. Im gleichen Jahr erstreiten Aktivist*innen in Göttingen, dass in Schwimmbädern alle Geschlechter oben ohne baden dürfen – allerdings nicht am Wochenende. Und während Social-Media-Konzerne sich beim Eindämmen von Hate Speech und Fake News schwer tun, müssen weibliche Nippel sorgfältig zensiert werden. Aus Angst wovor eigentlich?
Julia Fritzsche blickt zurück in die Geschichte der Ver- und Enthüllung menschlicher Körper, um Rückschlüsse auf einen politischen Kampf im Heute zu ziehen. Wann wurde die weibliche Brust erotisch, wann dominierte historisch Scham und wann Befreiungsdrang? Lassen sich weibliche Nippel im öffentlichen Raum entskandalisieren ? Wie die aktuellen Kämpfe um #FreeTheNipple ausgehen, ist offen. Klar ist aber: Der Umgang mit unseren Brüsten ist politisch – und es geht um mehr als um die Badeordnung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Von Strand bis Social Media – #freethenipple vs. Vielfachkrise – Gesetze und Blicke – Nackt und gleich – Obenrum frei? – Male gaze & Money – Was tun?
Wessen Brüste stören? Cartoon von Scott Metzger We live in a culture that allows every inch of a woman’s body to be shown except a nipple. (…) Can’t a man’s nipple be experienced as erotic??!! MADONNA AUF UND ÜBER INSTAGRAM, 2021 Von Strand bis Social Media
Wo wessen Brüste stören Sommer in Deutschland. Ich stehe in der Schlange vor dem Freibad. Und ich möchte schwimmen. Und zwar oben ohne. Schaffe ich das? Schaffe ich es, mich obenrum auszuziehen und vom Handtuch oben ohne bis ins Becken und zurück? Eine kleine Frage für die Menschheit, eine große Frage für mich. Denn ich ahne, dass ich scheitern könnte. Nicht an meinem BH-Verschluss. Sondern an meiner mangelnden Entschiedenheit. Entschiedenheit im Kampf gegen die Cancel Culture. Und zwar eine Cancel Culture für »weibliche« Nippel. Denn anders als AfD und Trump-Fans behaupten, darf man zwar in unserer Gesellschaft so gut wie alles sagen. Man darf aber in unserer Gesellschaft nicht alles tragen: Wer als Frau gilt, wie ich, darf keine nackten Nippel tragen. »Oben ohne« ist ein Privileg für Typen! Während männlich gelesene Brustwarzen einfach nur zwei banale dunkle Flecken auf ei nem Oberkörper sind, sind weiblich gelesene Brustwarzen zwei Steine des Anstoßes. Sie stören. Sie stören Ordnungsdienste, Instagram und Freibadgäste in der Regel mehr als ein Rammstein-Tattoo, schuppiges Haar oder labbrige Pommes. Und wie diese Ordnungshüter*innen sowie weite Teile unserer Gesellschaft mit weiblich oder männlich gelesenen Nippeln umgehen, ist Ausdruck unserer jeweiligen Freiheit. Ausdruck unserer Rolle in der Gesellschaft. Ausdruck unseres Platzes in der Welt. Ich nähere mich der Kasse. Ich will heute einfach nur baden wie die Typen. Dass mein Versuch in der lokalen Presse und rechten Blogs landen wird, und die Freibadregeln im Stadtrat, ahne ich da noch nicht. Ich werfe einen Blick ins Bad. Noch 100 Meter bis zum Schwimmbecken. Dieses Schwimmbecken ist mein Ziel. Da möchte ich rein. Bahnen schwimmen. Nur in Badehose. Warum? Weil ich es mag, wenn meine Brüste im Wasser zu schweben beginnen. Und weil ich es mag, wenn hierarchische Ordnungen ins Wanken geraten. Und in den letzten Jahren gerät in Sachen Nippel einiges ins Wanken. Denn während einige sich an »weiblichen« Nippeln stören, stören andere sich an eben dieser bisherigen Ordnung. Viele Frauen und Nicht-Binäre kämpfen deshalb in den letzten Jahren um ihre nackte Würde. Ein paar Beispiele: Seit 2022 führen Frauen und queere Menschen in vielen deutschen Städten Prozesse für die Gleichberechtigung ihrer Brüste gegenüber Brüsten, die als männlich gelten. So unter anderem die Berlinerin Gabrielle Lebreton, deren Prozess in die Rechtsgeschichte eingehen könnte und die ich deswegen für dieses Buch begleitet habe. Neben Prozessen wie diesen fordert auch eine Petition mit dem Titel Gleiche Brust für alle das Recht auf nackte Brüste überall dort, wo Männer das auch dürfen. Und abseits solch rechtlicher Gegenwehr machen manche ihrem Ärger ganz praktisch Luft und lassen ihre Brüste an die Luft, quasi in Direkter Aktion. In Berlin, Dresden, Freiburg und Hannover radelten Menschen bei Fahrraddemos 2021 und 2022 oben ohne und mit »Free the nipple«-Aufschriften durch die Stadt. In Bremen stürmte 2022 ein Oben-ohne-Flashmob unter dem Motto »Brüste desexualisieren« ein Freibad. Auf Instagram postete Madonna 2021 eine Reihe von Fotos, die ihre nackten Nippel zeigten, und fragte verärgert, nachdem Instagram sie löschte, »Was ist mit dem Arsch einer Frau?«, schließlich würden Fotos von Ärschen nicht entfernt. Die einflussreiche Modebloggerin Chiara Ferragni postete 2023 aus Protest auf Instagram ein Foto von sich im sogenannten Shameless Dress, einem eleganten bestickten Kleid, das ihren nackten Körper nachahmt, vor allem nackte Nippel. Und in Nordspanien ging die Sängerin Eva Amaral 2023 oben ohne auf die Bühne, aus Solidarität mit anderen Sängerinnen, die sich zuvor hatten bedecken müssen, obwohl männliche Musiker seit Jahrzehnten ihre Brüste zeigen – vor Teenies, Volksfesten, Fernsehkameras. Manche Locations gehen, wie einige Bars auf dem Fusion Festival seit ein paar Jahren, den umgekehrten Weg und empfehlen Männern das Tragen von T-Shirts oder liefern mit »No shirt, no beer« Argumentationshilfe für die Männerseele. Sie fordern also Solidarität und tragen damit der Tatsache Rechnung, dass weiblich gelesene Menschen mit nackten Brüsten – auch wenn ein Event es ihnen erlauben würde – dennoch riskieren, belästigt zu werden, beschämt, begafft, gegen ihren Willen fotografiert oder gefilmt. All diese Maßnahmen gegen unser Oben-ohne-Privileg haben in den letzten Jahren einiges in Bewegung gebracht. Medien befassen sich seit ein paar Jahren häufiger damit. So machten Guardian und ARD 2023 mit Recherchen öffentlich, wie Algorithmen bei Instagram und Microsoft die Nacktheit von weiblich gelesenen und männlich gelesenen Menschen bewerten und entsprechend unterschiedlich sanktionieren. Und auch die Politik zog ein My nach. Zumindest was Freibäder angeht, sahen sich einige Verantwortliche auf kommunaler Ebene veranlasst, ihre Badeordnungen zu überdenken. In manchen europäischen Städten wie Barcelona, Grenoble, Berlin, Köln oder Chemnitz ist seit 2021 bzw. 2022 »oben ohne« nun in Freibädern dezidiert für alle erlaubt. Doch abseits von Freibädern stellt sich die Frage, wer sich entblößen darf, weiterhin auch an vielen anderen Orten. Genauer gesagt: an fast allen Orten unseres Lebens. »Kaum denke ich an Boulderhallen, denke ich an die Oben-Ohne-Pauls und rege mich auf, als stünde gerade einer vor mir.« Das schreibt die Autorin Sibel Schick 2023 in ihrem Buch Weißen Feminismus canceln und malt sich aus, wie es wäre, als Frau oben ohne an der Kletterwand zu hängen. »Ich stelle mir vor, wie das Personal der Boulderhalle panisch zu uns eilt, um mich zu bitten, mich entweder sofort wieder anzuziehen oder die Halle zu verlassen, was sie bei Paul natürlich nicht getan haben, sonst wäre er ja entweder nicht mehr nackt oder weg. Und wie ich mich wehre, nur um im Anschluss rausgeworfen zu werden und Hausverbot zu bekommen. Oben-Ohne-Paul darf die Boulderhalle weiterhin betreten, schließlich ist er nicht so ›verrückt‹ wie ich. Wenn er in der Öffentlichkeit seinen Körper halb nackt präsentiert, liegt es daran, dass der Tag heiß ist, dass es nackt für ihn angenehmer und bequemer ist. Wenn ich es tue, bin ich exhibitionistisch, unmoralisch, provokant, verrückt, streitlustig, dreist etc. und muss rausgeworfen oder zumindest gemaßregelt werden.«1 Dabei können auch Frauen mit nackten Brüsten eine Wand hochklettern, denke ich. Weibliche Brüste waren nur ein Mal bei einer Bergtour im Weg. Im polnischen Park Ciezkowice war eine üppige Frau während des Kletterns mit ihren Brüsten in einer Felsspalte hängengeblieben und konnte erst nach Stunden befreit werden.2 Eine Boulderwand hingegen komme ich auch so hoch. Und wenn ich mit nacktem Oberkörper runterfalle, bo-donk, fliegen meine Brüste vielleicht durch die Gegend und kullern weg, aber dann sammle ich sie halt wieder ein. Doch aktuell können wir Frauen uns in der Boulderhalle nicht ausziehen. Als eine Freundin von mir deshalb die Betreiber ihrer Boulderhalle bat, sie möchten dann den Typen sagen, dass sie sich anziehen sollen, guckten die sie nur wie ein Auto an. Und auch die Boulderhalle ist nur ein Ort von vielen, wo unsere körperliche Selbstbestimmung sich von der der Männer unterscheidet – zumindest derjenigen mit Normkörpern, doch dazu später mehr. Ich habe für diese Recherche weiblich gelesene Personen in meinem Bekanntenkreis nach weiteren Beispielen gefragt: »Ich lege mich auf Raves ständig mit diesen Typen auf der Tanzfläche an, das macht mich so wütend, wenn die oben ohne sind. Ich erklär denen dann, dass das eine Machtgeste ist, und wenn ich Glück habe, ziehen sie sich das Shirt wieder an – und drei Meter neben mir wieder aus.« Das erzählt mir Jelena aus Augsburg. Julie aus Berlin ergänzt: »Bei mir stand letztens an der Supermarktkasse ein alter Typ oben ohne hinter mir. Ich habe den gebeten sich anzuziehen, aber der ist so sauer geworden und mehrere andere Männer sind ihm zur Seite, dass ich den Ort verlassen musste.« Sabrina ist Mutter zweier Kinder und erzählt: »Auch zuhause ist das ja Thema. Wir hatten letztens andere Kinder zu Besuch und mein Mann hat sein T-Shirt ausgelassen, als die kamen. Wenn ich das machen würde, würden die nicht nochmal zu Besuch kommen dürfen.« Dabei halten sich viele der Oben-ohne-Dads, Boulder-Pauls und Rave-Fans für aufgeklärt,...