E-Book, Deutsch, 278 Seiten
Fricker Epistemische Ungerechtigkeit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-79893-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Macht und die Ethik des Wissens
E-Book, Deutsch, 278 Seiten
ISBN: 978-3-406-79893-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dass Wissen und Macht einander beeinflussen und durchdringen, dass sie sich wechselseitig verstärken oder blockieren können, ist keine neue Einsicht. Umso erstaunlicher ist, dass die Philosophie sehr lange gebraucht hat, um die ethischen Konsequenzen für unser Erkenntnisleben genauer unter die Lupe zu nehmen, die sich insbesondere aus mächtigen Vorurteilen und Stereotypen ergeben. In ihrem wegweisenden Buch, das mittlerweile als ein moderner Klassiker gilt, nimmt sich Miranda Fricker dieser Aufgabe an: Sie erschließt eine für Wissensgesellschaften hochaktuelle Form der Ungerechtigkeit, die sowohl die Menschlichkeit der Betroffenen als auch unsere geteilten Praktiken des Erkennens massiv bedroht.
Der Begriff, den Miranda Fricker geprägt hat und der auf den Punkt bringt, was in unserem Erkenntnisleben schiefläuft, lautet «epistemische Ungerechtigkeit». Sie findet statt, wenn beispielsweise Frauen, migrantischen Gemeinschaften oder der Bevölkerung ganzer Kontinente die Fähigkeit abgesprochen wird, relevantes Wissen zu erlangen und verlässliche Wahrnehmungen mitzuteilen. Um ein Unrecht, das Personen in ihrer Eigenschaft als Wissenden geschieht, handelt es sich aber auch dann, wenn marginalisierte Gruppen gar nicht im Besitz der nötigen Deutungsmittel sind – wie z.B. der Begriffe der sexuellen Belästigung oder des Stalking –, um ihre besondere Erfahrung überhaupt als Ungerechtigkeit einordnen zu können. Miranda Fricker enthüllt diese beiden Formen der epistemischen Ungerechtigkeit als mächtige, aber weitgehend stille Dimensionen der Diskriminierung. Dabei untersucht sie nicht nur die besondere Natur des jeweiligen Unrechts, sondern macht auch deutlich, welche Tugenden wir erlernen müssen, um es zu verhindern.
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Einleitung
Das vorliegende Buch befasst sich mit der Idee, dass es eine besondere Art von Ungerechtigkeit gibt, die uns spezifisch als Erkennende und Wissende betrifft. Unter dem Oberbegriff der epistemischen Ungerechtigkeit lassen sich etliche Phänomene zusammenfassen. Angesichts der Art und Weise, wie wir in der Philosophie normalerweise über Gerechtigkeit nachdenken, könnte die Idee einer auf Erkenntnis bezogenen Ungerechtigkeit in erster Linie bedeuten, dass wir uns mit der ungerechten Verteilung von epistemischen Gütern wie Informationen oder Bildung befassen. Das hieße, wir stellen uns soziale Akteure vor, die ein Interesse an verschiedenen Gütern haben, von denen einige epistemisch sind, und fragen uns, ob alle einen gerechten Anteil bekommen. Wenn epistemische Ungerechtigkeit in dieser Form auftritt, hat sie nichts genuin Erkenntnisbezogenes an sich, denn die Bestimmung des fraglichen Guts als epistemisches Gut scheint eher eine Frage des Zufalls zu sein. Demgegenüber möchte ich in diesem Buch zwei Formen von epistemischer Ungerechtigkeit herausarbeiten, die eindeutig erkenntnistheoretischer Natur sind. Und ich werde zeigen, dass sie grundsätzlich in einem Unrecht bestehen, das jemandem speziell in seiner Eigenschaft als Wissendem zugefügt wird. Ich nenne sie Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit. Zeugnisungerechtigkeit tritt auf, wenn eine Hörerin aufgrund von Vorurteilen den Äußerungen einer Sprecherin eine geringere Glaubwürdigkeit zubilligt. Hermeneutische Ungerechtigkeit tritt in einem früheren Stadium auf, nämlich dann, wenn eine Lücke in den kollektiven Interpretationsressourcen jemanden in seinem Bemühen, die eigenen sozialen Erfahrungen sinnvoll zu deuten, auf unfaire Weise benachteiligt. Ein Beispiel für die erste Variante wäre, dass die Polizei Ihnen nicht glaubt, weil Sie eine Person of Color (PoC) sind; ein Beispiel für die zweite könnte sein, dass Sie sexuell belästigt wurden, aber in einer Kultur leben, die noch nicht über den kritischen Begriff der sexuellen Belästigung verfügt. Man könnte sagen, dass Zeugnisungerechtigkeit durch Vorurteile in der Ökonomie der Glaubwürdigkeit entsteht, während hermeneutische Ungerechtigkeit aus strukturellen Vorurteilen in der Ökonomie kollektiver Deutungsmöglichkeiten resultiert. Im Folgenden wollen wir bestimmte ethische Aspekte zweier unserer wesentlichsten Erkenntnispraktiken im Alltag beleuchten: anderen Menschen Wissen zu vermitteln, indem wir ihnen etwas erzählen, und unsere eigenen sozialen Erfahrungen sinnvoll zu deuten. Da die betreffenden ethischen Aspekte das Ergebnis der Ausübung sozialer Macht in wissensbezogenen Interaktionen sind, legt man mit ihrer Sichtbarmachung auch eine Politik der epistemischen Praxis frei. In der anglo-amerikanischen Erkenntnistheorie kommen jedoch bestimmte Überlegungen schlichtweg nicht vor – beispielsweise die, dass epistemisches Vertrauen untrennbar mit sozialer Macht verbunden sein könnte oder dass soziale Benachteiligung zu einer epistemischen Benachteiligung führen kann, die ungerecht ist. Dabei haben Überlegungen dieser Art politische Implikationen für die Art und Weise, wie wir über unsere Beziehungen als Erkenntnissubjekte nachdenken. Vielleicht werden sie deshalb nicht thematisiert, weil man davon ausgeht, dass sie zwangsläufig mit jenem relativistischen Denken verbunden sind, das seinen Höhepunkt in der Postmoderne fand. Vielleicht ist es auch der theoretische Rahmen von Individualismus und obligatorischer Idealisierung der Vernunft, in dem sich die Epistemologie üblicherweise bewegt, der uns den Blick darauf verstellt, was solche Fragen überhaupt mit Erkenntnistheorie zu tun haben. Was auch immer die Erklärung dafür sein mag – ein Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ist der, dass die Erkenntnistheorie in ihrer traditionellen Ausprägung einen deutlichen Mangel hat: Ihr fehlt ein theoretischer Rahmen, der die ethischen und politischen Aspekte unseres wissensbezogenen Verhaltens aufzeigt. Innerhalb der anglo-amerikanischen Philosophie steht die feministische Erkenntnistheorie, die mutig auf diesem Punkt beharrt, auf recht einsamem Posten. Ich hoffe jedoch zeigen zu können, dass die Tugend-Epistemologie eine allgemeine erkenntnistheoretische Sprache bietet, in der sich diese Fragen gewinnbringend diskutieren lassen. Einen ähnlichen blinden Fleck gibt es in der Ethik, und es ist genauso bedauerlich, dass sie es in der Vergangenheit versäumt hat, sich mit unserem epistemischen Verhalten zu beschäftigen. In der Ethik scheint jedoch die Nichtbeachtung von Recht und Unrecht in unserem Erkenntnisleben eher Zufall zu sein und zu keiner Kritik zu führen, die über die allgemeine Feststellung hinausgeht, dass man sich bislang vor allem mit Fragen auf der Metaebene [second-order] befasst hat. Wie auch immer, vor dem Hintergrund der herkömmlichen Einteilung der Philosophie ist dieses Buch weder ein Werk der Ethik noch ein Werk der Erkenntnistheorie; vielmehr verhandelt es einen Grenzbereich zwischen diesen beiden philosophischen Gebieten. Die Postmoderne war eine philosophische Richtung, die vor allem in den Augen vieler feministischer Philosoph:innen einen theoretischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit den ethischen und politischen Aspekten unserer epistemischen Praktiken bot. Ein wesentlicher Vorzug des Postmodernismus bestand darin, dass er Vernunft und Erkenntnis mit sozialer Macht zusammendachte. Die altbekannten Vorbehalte hinsichtlich der Autorität der Vernunft erhielten einen neuen, scheinbar radikalen Theorierahmen, durch den man sie auf eine politischere Weise thematisieren konnte. Aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Denn der Hang vieler postmoderner Texte zum Extremen mündete allzu oft in einen Reduktionismus, und es stellte sich heraus, dass sich das postmoderne Denken eher aus der Enttäuschung von einem überzogenen Vernunftideal speiste, als dass es von dem echten Bestreben getragen wurde, die Verquickung von Vernunft und gesellschaftlicher Macht im Licht von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu untersuchen.[1] Das Misstrauen gegenüber der Kategorie der Vernunft als solcher und die Tendenz, sie auf eine Machtfunktion zu reduzieren, verhindern jedoch genau die Fragen, die wir stellen müssen, um herauszufinden, wie sich Macht auf uns als vernunftbegabte Wesen auswirkt. Denn beides zerstört beziehungsweise verwischt die Unterscheidung zwischen dem, was wir begründeterweise denken, und den Auswirkungen bloßer Machtverhältnisse auf unser Denken. Wenn es darum geht, welche Gerechtigkeitsfragen sich in Bezug auf unsere epistemischen Praktiken stellen lassen, verschleiert die reduktionistische Sichtweise wesentliche Unterschiede – wie etwa den zwischen der Ablehnung der Äußerung eines anderen Menschen aus gutem Grund und ihrer Ablehnung aufgrund eines bloßen Vorurteils. Anstatt einen Denkraum für die Erforschung von Gerechtigkeit und Macht in epistemischen Praktiken zu eröffnen, hat die Postmoderne solche Fragen de facto ausgeklammert. Mithin stellte ihr Beitrag zur Erkenntnistheorie keineswegs einen Fortschritt dar, sondern war eher konservativer Natur. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass an die Stelle des einstigen postmodernen Tamtams bloßes Schweigen tritt. Denn sicher gibt es andere, bessere Möglichkeiten, um sich mit der Verschränkung von Vernunft und gesellschaftlicher Macht auseinanderzusetzen. Wie also sollte eine solche Diskussion am besten aussehen? Eine mögliche Antwort lautet, dass wir die Thematisierung moralischer Fragen mit sozial situierten Darstellungen unserer epistemischen Praktiken verbinden.[2] Eine sozial situierte Darstellung einer menschlichen Verhaltensweise ist eine Darstellung, bei der die Beteiligten nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gedacht werden (wie es in der traditionellen Erkenntnistheorie der Fall ist, einschließlich weiter Teile der sozialen Erkenntnistheorie), sondern vielmehr als soziale Typen oder Gruppen, die zueinander in einem Machtverhältnis stehen. Bemühen wir uns um eine Erklärung der epistemischen Praxis, so bringt diese sozial situierte Betrachtungsweise auf ganz natürliche Weise Machtfragen und ihre teils rationalen, teils anti-rationalen Ausprägungen zum Vorschein. Für viele philosophischen Fragen mag die traditionelle, möglichst abstrakte Konzeption des Menschen am sinnvollsten sein, aber wenn wir uns auf sie beschränken, limitieren wir das Spektrum möglicher philosophischer Fragestellungen und Erkenntnisse, sodass unser philosophischer Horizont unnötig schrumpft. Gehen wir hingegen von einer sozial situierten Betrachtungsweise aus, lassen sich einige der Wechselbeziehungen aufdecken, die zwischen Macht, Vernunft und epistemischer Autorität bestehen; so lassen sich die ethischen Aspekte unserer...