E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Franke Der Spiegel des Schöpfers
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-96122-056-4
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
ISBN: 978-3-96122-056-4
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. www.thomasfranke.net Foto: © Studioline Erlangen
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1
Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen. Leonie nippte an ihrem Caipirinha und starrte an den Leibern der Tanzenden vorbei auf den üppigen Garten. Die Luft war schwülwarm. Aus den Lautsprechern drangen Reggae-Klänge, die perfekt zu einer karibischen Nacht passten. Allerdings rauschten hinter den sorgfältig gestutzten Hecken nicht die Wellen des Atlantiks, sondern die Kiefernwälder Brandenburgs.
Die Terrasse der Villa war so groß wie ein Volleyballfeld und der Garten dahinter ähnelte einem Park. Öllampen und Fackeln verbreiteten warmes Licht. Erik war nicht nur reich, er hatte auch Geschmack.
Leonie seufzte und sah hinüber zu ihrer Kollegin Johanna. Eng umschlungen tanzte sie mit ihrem Verlobten. Seit mehr als einer Stunde ging das schon so. Selbst zu dem alten Hardrock-Klassiker »Jump« von »Van Halen« hatten die beiden nicht voneinander lassen können. Wahrscheinlich hatte der Schweiß sie fest miteinander verklebt.
»Willst du tanzen?« Ein rotwangiges Gesicht beugte sich über sie und das geöffnete Hemd bot einen großzügigen Ausblick auf eine behaarte Männerbrust. Unter buschigen Augenbrauen starrten zwei dunkle Augen konzentriert in ihren Ausschnitt.
Ja, es war ein Fehler gewesen! Sie schüttelte den Kopf und zupfte an ihrem kurzen Sommerkleid.
Schweißige Finger legten sich auf ihre Schulter. »Komm, es ist eine herrliche Nacht!«
»Nein!« Verärgert schüttelte sie die Hand des lästigen Verehrers ab.
»Nun sei doch nicht so …«
Leonie stand auf und bemerkte mit einem kritischen Blick auf seine zunehmend haarlose Kopfhaut: »Kann es sein, dass Sie eine Immunschwäche haben?«
»Hä?«
»Diese krustös-nässenden und schuppenden Läsionen der Kopfhaut sind typisch für einen Mykosebefall.«
Der Mann wich zurück und strich sich instinktiv mit der Hand über die hohe Stirn. »Was?«
»Pilzinfektion«, erklärte Leonie, »das kann ziemlich unangenehm sein. Sie sollten unbedingt zum Arzt gehen. Darf ich mal vorbei?« Sie zwängte sich an dem verdutzten Mann vorbei und stöckelte, so rasch es ihre Würde und ihre neuen Cut-Out-Sandalen von Christian Louboutin zuließen, auf die Tanzfläche zu. Gut, vermutlich handelte es sich bei den Schuhen um vergleichsweise günstige Fälschungen aus China, aber das machte sie auch nicht bequemer.
»Blöde Kuh. Pilzinfektion – so ein Schwachsinn!«, hörte sie den Mann hinter sich brummen.
Sie gestattete sich ein kleines Lächeln, bis ihr Absatz beim Betreten des Rasens hängen blieb und sie mit rudernden Armen gegen einen Bistrotisch stieß. Ein Glas mit Rotwein kippte um und ergoss sich auf das weiße Hemd einer jungen Hostess, die sie daraufhin mit traurigen Augen anblickte.
»Entschuldigung. Das tut mir sehr leid«, stammelte Leonie.
Die junge Frau hob das Glas auf und ging an ihr vorbei auf die Terrasse zu.
»Mist!« Leonie zog ihre Schuhe aus und betastete kurz die Blase an ihrem kleinen Zeh. Dann stand sie auf und zwängte sich durch die Tanzenden hindurch zu dem eng umschlungenen Paar.
»Johanna?«
Verträumt blickte ihre Freundin an der Schulter Eriks vorbei zu ihr.
»Tut mir leid, für mich ist Feierabend! Aber es war eine wunderbare Party und ich wünsch dir alles Glück dieser Welt.«
»Danke. Musst du wirklich schon gehen?«
»Ich habe Frühdienst«, log Leonie, »und muss einigermaßen brauchbar sein.«
»Schön, dass du gekommen bist, Leonie«, sagte Erik. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«
»Nein danke!« Nicht nur reich und gut aussehend, sondern auch noch nett, seufzte Leonie. Warum müssen die Besten immer vergeben sein? »Ich bin mit dem Auto da.« Sie drückte Johanna einen Kuss auf die Wange, schenkte Erik eine flüchtige Umarmung und lief barfuß bis zum Parkplatz.
Immerhin war ihr alter Opel Corsa freundlich zu ihr und sprang sofort an. Sie warf die Schuhe auf den Rücksitz, schob eine CD von »Green Day« in die Anlage und gab Gas. Bei allgemeinem Frust war laute Punk-Musik genau das Richtige.
Als sie den beleuchteten Parkplatz hinter sich gelassen hatte, legte sich die Dunkelheit wie ein Mantel um sie. Dichte Wolken verdeckten die schmale Sichel des Mondes. Die Scheinwerfer schnitten gelbe Löcher in die Nacht und gaben flüchtige Blicke auf die alten, dicht belaubten Alleebäume frei. Leonie war es nicht gewohnt, Landstraße zu fahren, schon gar nicht in der Nacht. In Berlin war es nie vollkommen dunkel. Eine Welt gänzlich ohne Straßenlaternen, Leuchtreklame und flackernde Fernsehbilder hinter den Fensterscheiben der Häuser schien ihr seltsam urtümlich und auch ein wenig bedrohlich.
Nur zögernd folgte Leonie den Anweisungen ihres Navigationsgeräts und bog in eine Straße ein, die so schmal war, dass sie in ihren Augen gerade mal als Wanderweg durchging. Das schlecht asphaltierte Sträßchen schlängelte sich durch einen ausgedehnten Wald. Leonie drosselte ihr Tempo und entspannte sich ein wenig. Sie hatte es nicht eilig. Anders, als sie behauptet hatte, musste sie erst am nächsten Nachmittag wieder zum Dienst.
Sie beneidete Johanna. Das frisch verlobte Paar hatte sich ganze vier Wochen freigenommen, um die Westküste der USA entlangzureisen: San Francisco, Los Angeles, San Diego … Eine solche Reise war schon immer Leonies Traum gewesen. Aber während des Studiums hatte sie nicht genug Geld gehabt, und seit sie als Assistenzärztin im Klinikum Benjamin Franklin arbeitete und zugleich Forschungsarbeit an der Charité in Mitte leistete, hatte sie keine Zeit mehr. Abgesehen davon, gab es seit einigen Monaten niemanden mehr, mit dem sie gemeinsam fahren konnte.
Ein grelles Licht ließ sie erschrocken zusammenzucken. Im ersten Moment dachte sie, einer der unzähligen Blitzer, die die fleißige Brandenburger Polizei aufgestellt hatte, hätte sie erwischt, dann registrierte sie durch die wummernden Bässe von »Green Day« hindurch ein dumpfes Grollen. Ein Gewitter setzte ein! Kurz darauf prasselten dicke Regentropfen auf die Frontscheibe.
»Na wunderbar!«, murmelte Leonie. Sie schaltete den Scheibenwischer auf volle Leistung, aber der Regen kam so dicht, dass sie die Straße bald nur noch verschwommen erkennen konnte. Das Krachen des Donners wurde immer lauter, und ein Blitz zuckte so dicht neben der Straße herunter, dass sie sehen konnte, wie er Funken sprühend in einen Baum einschlug. Erschrocken riss Leonie am Lenkrad. Das Auto brach zur Seite aus und wäre beinahe von der Straße abgekommen, wenn sie nicht im letzten Moment gegengelenkt hätte.
»Scheiße!« Leonie drosselte das Tempo auf knapp fünfzig und tastete nach dem Lüftungsschalter. Die Beleuchtung des Armaturenbretts war schon seit Jahren defekt.
Die Straße machte eine enge Kurve, schemenhaft jagten Bäume vorbei. Sie fuhr hinab in eine Talsenke – und auf einmal war alles verändert. Es gab einen Schlag, als wäre die Straße plötzlich abgesackt. Die Musik ging aus. Dann schien es ihr, als würde die Nacht sich verdichten, sich mit erstickender Schwärze um sie legen. Leonie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. Da war etwas in der Dunkelheit! Es strich kalt und gestaltlos über ihre Haut und schien ihr Innerstes berühren zu wollen. Etwas Unmenschliches, unsagbar Böses. Dann, von einem Augenblick auf den nächsten, war es vorüber.
Ihre zitternden Finger fanden endlich den Lüftungsschalter. Im selben Moment erschien wie aus dem Nichts eine bleiche Gestalt auf der Straße! Leonie schrie entsetzt auf und trat mit voller Wucht auf die Bremse. Die Reifen des alten Corsa blockierten und sie schlitterte unkontrolliert über den regennassen Asphalt. Das Geräusch, mit dem der Körper auf das Blech des Autos traf, war entsetzlich laut, ein furchtbarer martialischer Knall. Die Gestalt prallte gegen die Windschutzscheibe, schlug auf dem Dach auf und stürzte zurück auf die Straße. Eine halbe Ewigkeit später blieb das Auto stehen.
Der Motor war aus. Beide Hände um das Lenkrad gekrallt, starrte Leonie auf die nachtschwarzen Baumstämme, die stumm und unbeteiligt die Straße säumten. Der Regen trommelte auf das Autodach. Einen wahnwitzigen Moment lang fragte sich Leonie, ob ihre überstrapazierten Nerven ihr einen Streich gespielt hatten. Dann sah sie den Riss in der Windschutzscheibe.
»Oh Gott«, wisperte sie. »Oh mein Gott!«
Sie hörte ihren eigenen hektischen Atem und spürte das Trommeln ihres Herzschlags. Ihr Blick fiel auf den Zündschlüssel. Plötzlich verspürte sie den starken Impuls, den Motor zu starten und einfach loszufahren. Sie könnte nach Hause fahren, sich ins Bett legen, und am nächsten Tag würde all dies nur noch ein böser Traum sein. Fahr los, wisperte eine Stimme in ihr, verschwinde von hier!
Leonie nahm die Hand vom Lenkrad, starrte auf den Zündschlüssel … Sie erschauerte. Ganz langsam drehte sie sich um und blickte die Straße hinab. Da lag jemand, gut zwanzig Meter entfernt, nur schwach beleuchtet vom rötlichen Schein ihrer Rücklichter.
Leonie schluckte trocken. Dann öffnete sie das Handschuhfach und tastete zwischen Taschentuchpackungen, CD-Hüllen und zerknüllten Landkarten nach der Taschenlampe. Die Batterien waren leer. Leise fluchend öffnete sie die Tür. Der Regen prasselte auf sie ein und innerhalb von wenigen Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie holte das Warndreieck und den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum.
»Du bist Ärztin!«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Du hast schon...




