E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Fischer Katastrophenabschied
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-3358-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Projektmanager in humanitären Auslandseinsätzen
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-7693-3358-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wann wird humanitäre Hilfe geleistet? Wie unterscheiden sich Hilfsorganisationen? Welche Art von Projekten gibt es? Wie kommen diese zustande und wer führt sie durch? Worauf kommt es in der Zusammenarbeit zwischen dem Projektmanager und seinem Team vor Ort an? Und wie viel verdient er überhaupt? Antworten liefert Gerhard Fischer, der sich nach mehr als zwanzig Jahren von der Auslandstätigkeit im Bereich humanitäre Hilfe verabschiedete. Er zeigt nicht nur wie sein Arbeitsalltag in unterschiedlichen Kontexten aussah, sondern zieht auch Bilanz mit all den Vor- und Nachteilen - manches würde er aus heutiger Sicht nicht mehr genauso tun!
Gerhard Fischer wurde 1966 geboren und ist in Unterfranken aufgewachsen. Nach dem Studium der Poltikwissenschaft und Geschichte in Heidelberg und anschließendem Zusatzstudium 'Humanitäre Hilfe' in Bochum startete er eine erfolgreiche Karriere als Projektmanager. Mehr als zwanzig Jahre war er für verschiedene Hilfsorganisationen in fünfzehn Ländern tätig. Im Jahr 2019 veröffentlichte er das Buch 'Katastrophenbegegnungen - Anekdoten und Episoden von der Helferfront', das in englischer Sprache 2022 unter dem Titel: Disastrous encounters erschien. Zuletzt hat er eine komplette überarbeitete Version des Buches 'Katastrophenbegegnungen - revisited' veröffentlicht. Heute lebt er mit seiner Frau am Rande des Nordschwarzwaldes.
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24. Februar 2022, Tiflis/ Georgien
Wie immer ging ich gegen sieben Uhr nach dem Aufstehen noch im Schlafanzug geradewegs in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Seitlich durch die Balkontür schien die Sonne bereits grell vom wolkenlosen Himmel. Ich öffnete, klare, aber kalte Luft strömte herein. Ich trat hinaus. Unten im Hinterhof sah ich einen im dicken Wintermantel gekleideten Bewohner. Der Wasserkocher schaltete sich aus, ich füllte die French Press, dann eine Tasse und setzte mich wieder hinaus in einen Sessel, um die wohlige Wärme der Sonnenstrahlen zu genießen. Es würde ein herrlicher Tag werden, hoffentlich auch für mich. Nach der kurzen, lauwarmen Dusche – richtig heiß war sie nie gewesen – setzte ich mich an den Küchentisch und fuhr den Computer hoch, um beim Frühstück die neuesten Nachrichten zu lesen. Fast ist mir der Bissen im Hals stecken geblieben: Krieg in der Ukraine. Russland hatte in den frühen Morgenstunden den südlichen Nachbarn angegriffen. Noch waren die Hintergründe undurchsichtig, aber wie sich zeigen sollte, markierte dieser Tag eine weltpolitische und weltwirtschaftliche Zäsur, im Allgemeinen – gleichermaßen im Besonderen auch für meine berufliche Biografie. Denn es sollte nicht nur mein letzter Arbeitstag in Georgien werden, sondern ebenfalls mein allerletzter im Bereich humanitäre Hilfe. Mein Koffer war abflugbereit, ich nicht ganz. Noch fehlte die letzte Gewissheit. Seit knapp zwei Wochen arbeitete ich von zu Hause aus in Quarantäne, da ich unmittelbar nach der Rückkehr aus einem heimatlichen Kurzurlaub positiv auf das Coronavirus getestet worden war und nun wartete ich auf die Labormitarbeiterin, die gegen 8.30 Uhr zu mir kommen sollte, um den hoffentlich finalen Test an der Wohnungstür vorzunehmen. Ein kostspieliger Luxus, den mein Arbeitgeber übernahm. Pünktlich klingelte sie und verschwand auch schon wieder. Mit dem Ergebnis könne ich in drei bis vier Stunden rechnen. So war es auch schon an den beiden vorangegangenen Tagen, allerdings musste – positiv der Test, negativ für mich – mein Heimflug zweimal von der Zentrale auf den Folgetag umgebucht werden. Heute war Donnerstag, sodass ich allerspätestens am Freitag fliegen wollte, ja musste. Zum Wochenende wollte ich in jedem Fall daheim in Deutschland sein. Das übliche Abschlussgespräch am Ende eines Einsatzes sollte deswegen statt in Präsenz, was der Fall ohne Covid gewesen wäre, nun virtuell am frühen Nachmittag geführt werden. Diesmal sogar zwei, weil auch der Vorgesetzte meines Vorgesetzten mit mir reden wollte. Bis dahin sollte feststehen, ob ich flöge oder nicht. Dann wurden auch diese Gespräche abgesagt. In der Zentrale herrsche helle Aufregung wegen vieler Presseanfragen, natürlich wegen der Ukraine und nicht meinetwegen. Die Debriefings würden deshalb später nachgeholt werden. Wann? Wenn ich schon nicht mehr angestellt sei? Das wäre schließlich in fünf Tagen der Fall. Man ließ mich im Unklaren, so wie ich die Vorgesetzten, indem ich mit einem bloßen „Ok“ die E-Mail beantwortete. Dabei hatte es vor Weihnachten noch ganz anders ausgesehen. Im Neuen Jahr sollte zu meinem Verantwortungsbereich Südkaukasus (Georgien und Armenien) die Ukraine dazukommen, was ich zunächst als nicht allzu viel Mehrarbeit betrachtete, weil mein Kollege im Büro gegenüber das dort laufende Projekt hervorragend leitete. Allenfalls würden einige Dienstreisen für mich zusammen mit ihm anfallen. Firm und erfahren war schließlich er und nicht ich. Meine Rolle wäre als Teamleiter lediglich die des Grüßaugusts gewesen, so sah ich das zumindest. Am Morgen nach meiner Rückkehr teilte mir mein Vorgesetzter aus der Zentrale telefonisch wie aus heiterem Himmel mit, dass er und seine Chefs entschieden hätten, einem mir unterstellten Mitarbeiter zu kündigen; und zwar aus merkwürdigen, wenn nicht sogar lachhaften Gründen – konkret, „er sei zu qualifiziert (!) für seine Position“ und unkonkret, „er passe nicht zu uns“! Dafür passten die Aussagen in mein Bild von den Chefs. Statt über dessen beabsichtigten Rausschmiss weiterzureden, machte ich meinem Ärger Luft und sprach unvermittelt meinen Abgang zum nächstmöglichen Zeitpunkt, dem 28. Februar 2022, aus. Trotz hörbarer Verblüffung am anderen Ende der Leitung hielt sich das Lamento (Wirklich? Wieso nur?) sehr in Grenzen. So kann man auch etwas sagen, ohne etwas zu sagen. Keine Minute später war das Gespräch beendet – ich solle lediglich meine Kündigung schriftlich schicken; per E-Mail wäre ausreichend. Selbst in den kommenden Tagen gab es keinerlei Anzeichen seinerseits, mich umzustimmen. Genutzt hätte es sowieso nichts, da vielerlei Gründe bereits das Fass gefüllt hatten, das die kolportierte Entlassung meines Mitarbeiters zum Überlaufen brachte. So hatte ich mich noch vor der Übernahme der Verantwortung für die Ukraine und der sich dort anbahnenden Katastrophe von selbiger verabschiedet. Erst am späten Nachmittag des 24. Februar wurde mir das negative Testergebnis mitgeteilt, wodurch ich anderntags endlich fliegen konnte. Was für ein Glück, dass in der Zentrale wegen der Zeitverschiebung gerade erst die Mittagspause vorbei und somit keine weitere Umbuchung notwendig war. Abends war ich bei meinen beiden Kollegen zum Abschiedsessen eingeladen, mit denen ich mich bestens verstanden hatte. Ich fühlte mich geehrt, da ich während derer bereits neunjährigen Betriebszugehörigkeit, nach ihrer Aussage, der Erste der Organisation überhaupt war, der von ihnen in ihrem Heim empfangen wurde. Anderen, auch solchen aus der Zentrale, war dieses Privileg nicht zuteilgeworden. Auch das passte in mein Bild. Während in einigen früheren Einsätzen anlässlich meines Abschieds ein Fest veranstaltet worden war, beschränkte sich jener Abend auf eine geruhsame Dreisamkeit, die wir freundschaftlich genossen, aber frühzeitig abbrechen mussten. Denn von der Straße vernahmen wir eine lautstarke Menge zur Unterstützung der Ukraine, die entlang meines Nachhausewegs zog, durch die ich mich entgegengesetzt durchschlagen musste, weswegen sich meine Gastgeber Sorgen machten; obendrein sei mein Flug in aller Herrgottsfrühe. Wir umarmten uns herzlich, ich dankte ihnen für die Einladung und ihre Unterstützung, wünschte ihnen weiterhin viel Glück und erreichte eine halbe Stunde später ohne Zwischenfall meine Wohnung. Das ließ ich sie per Kurznachricht wissen, woraufhin sie mir erleichtert ebenfalls „alles Gute“ mit auf den Weg gaben. Ein wehmütiges Gefühl verspürte ich nicht gerade, als ich am nächsten Morgen die Gangway zum Flugzeug entlangging. Das war am Ende vieler vorangegangener Abschiede ganz anders gewesen. Merkwürdigerweise schossen mir plötzlich Bilder meines allerersten aus dem heutigen Serbien mehr als zwanzig Jahre zuvor durch den Kopf: als mich ausnahmslos alle Kollegen zum Flughafen Belgrad begleitet hatten; wie sie meine drei großen und überaus schweren Koffer zum Check-in trugen, wo ich mehr zum Spaß fragte, ob im Flugzeug Rauchen erlaubt sei und mir der Flughafenangestellte, für mich verblüffend, ein energisches „selbstverständlich“! entgegnete und nachher in der Tat, sobald die Anschnallzeichen erloschen waren, die gesamte Kabinencrew geradewegs nach hinten marschierte, um sich erst einmal eine Zigarette zu gönnen. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln. Und doch: Wie gerne hätte ich damals in Serbien weitergearbeitet – ganz im Gegenteil zu diesmal. Jetzt war der Abschied geräuschlos verlaufen. Mit dem Taxi und lediglich einem großen Koffer war ich zum Flughafen gefahren. Je näher ich nun dem Flugzeug kam, desto mehr fiel die innere Anspannung ab und große, ja sehr große Erleichterung machte sich in mir breit. Als ich auf meinem Platz saß, wischte ich die letzten Gedanken beiseite, ob ich wohl nichts in der Wohnung vergessen hatte – die Schlüssel hatte ich wie verabredet auf dem Küchentisch liegen lassen und meinen Dienstlaptop und das Handy meinem Mitarbeiter am Abend zuvor übergeben. Alles sollte somit erledigt sein. Die Umsteigezeit in Istanbul sollte auch genügen, um nicht unter Zeitdruck zu geraten. Zur Beruhigung steckte ich mir Kopfhörer ins Ohr und schlief bei leiser Musik ein. Genauso wie damals in Serbien flog ich jetzt von Georgien aus in eine ungewisse berufliche Zukunft. Zweieinhalb Jahre zuvor, als ich die Türkei nach vier Jahren verlassen hatte, war meine Hoffnung noch wesentlich zuversichtlicher gewesen, dass ich schon damals die Auslandsarbeit ein für alle Mal hinter mir gelassen hätte. Durch gesundheitliche Probleme ausgelöst hatte ich den festen Willen, in der Heimat beruflich Fuß zu fassen, um nicht noch einmal im Ausland Ärzten ausgeliefert zu sein, die zwar in ihrer Sprache diagnostizierten, in meiner aber völlig danebenlagen. Eine mehrmonatige Fortbildung im klassischen Projektmanagement sowie rund siebzig erfolglose Bewerbungen später sah ich doch keine andere Möglichkeit, als wieder ins Ausland zu gehen. Jetzt aber war ich fest davon überzeugt, mich von meiner Auslandstätigkeit und den Katastrophen endgültig...