Erfurt | Transkulturalität – Prozesse und Perspektiven | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 363 Seiten

Erfurt Transkulturalität – Prozesse und Perspektiven


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8463-5542-8
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 363 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5542-8
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bi-, Multi-, Interkulturalität, und nun auch noch Transkulturalität? Der Band zeigt, dass es hierbei nicht um alten Wein in neuen Schläuchen geht, sondern um die Erforschung von Prozessen kulturellen Wandels und um Perspektiven auf Verflechtungen kultureller Praktiken im Zuge von Migration, Kontakt und Mobilität. Und dass sich Sprache und Sprachen hierbei als zentrales Medium erweisen.

Prof. Dr. Jürgen Erfurt lehrte und forschte von 1996 bis 2020 am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Erfurt Transkulturalität – Prozesse und Perspektiven jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Vorwort
Kapitel 1: Transkulturelle Verflechtungen
1.1 Das Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main: eine ethnografische Annäherung
1.2 Transkulturalität als Prozess und als Perspektive
1.3 Gegenstand und Ziele des Buchs
1.4 Aktualität des Buchs
Kapitel 2: Kultur und Kulturen im Konfliktmanagement
2.1 Problemskizze, Leitfrage und Argumentation
2.2 Das „Neldesche Gesetz“: Kein Kontakt ohne Konflikt
2.3 Was ist Kultur?
2.4 Bi-, Multi-, Interkulturalität als Konzepte des Konfliktmanagements
2.5 Im Schatten von Multikulturalismus und Interkulturalität: ‚Kultureller Genozid‘ an der autochthonen Bevölkerung
2.6 Kulturalität und die Kulturalisierungsregimes im Spätkapitalismus
2.7 Auf dem Weg zu Transkulturalität: Schlüsselbegriffe
2.7.1 Ungleichheit
2.7.2 Differenz
2.7.3 Emergenz
2.8 Transkulturalität
Kapitel 3: Transkulturalität – Migration oder Neuerfindung des Konzepts?
3.1 Problemskizze und Argumentation
3.2 Fernando Ortiz: Grundlegung aus der Perspektive der Anthropologie
3.3 Ángel Rama und Mary Louise Pratt: Von der Anthropologie zur Literaturwissenschaft
3.4 Vice Versa: Transkulturalität als dritter Weg in Québec
3.5 Wolfgang Welsch: Transkulturalität als philosophisches Konzept
3.6 Synoptische Darstellung zur Begriffsgeschichte von Transkulturalität
3.7 Transkulturalität im Paradigma des Spatial turn
3.8 Transkulturalität als Bedrohung?
Kapitel 4: Konzepte und Felder transkultureller Forschung
4.1 Gegenstand und Einordnung
4.2 Mischung und Hybridität
4.3 Diaspora und diasporische Lesart
4.4 Erinnerung in Bewegung
4.5 Migrantisches Schreiben – Literaturen ohne festen Wohnsitz
4.6 Sprachbiografie
4.7 Generation
4.8 Translatio
4.9 Vernetzung der Konzepte
Kapitel 5: Transkulturalität, Sprache und Mehrsprachigkeit
5.1Problemskizze, Leitfrage und Thesen
5.2Sprache und Kultur
5.3Sprache und Sprachen
5.4Transkulturalität ante litteram und die Sprachen
5.4.1 Hugo Schuchardts Kreolstudien
5.4.2 Hugó Meltzls komparatistische Studien
5.4.3 Jules Ronjats Untersuchungen zum bilingualen Sprachenlernen
5.4.4 Uriel Weinreichs Forschungen zu Sprachkontakt und Minderheitensprachen
5.5 Sprachausbau und die Restrukturierung sprachlicher Repertoires
5.5.1 Fallstudie 1: Mehrsprachigkeit in Moldova
5.5.2 Fallstudie 2: Sprachliches Lernen in einer frankophonen Grundschule in Vancouver
5.6 Sprache und Mehrsprachigkeit in transkultureller Perspektive
5.7 Sprachliche Verhältnisse im frühen 21. Jahrhundert
Kapitel 6: Entflechtungen von Transkulturalität
6.1 Verflechtungen und Entflechtungen
6.2 Operationalisierung transkultureller Forschung
Literaturverzeichnis
Register
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis


1.2 Transkulturalität als Prozess und als Perspektive


Welche Anhaltspunkte lassen sich aus dieser Ortsbegehung gewinnen, um den Gegenstand des vorliegenden Buchs über Transkulturalität zu umreißen? Der Hauptbahnhof als Ausgangspunkt der Ortsbegehung, zugleich als ein Denkmal der Verkehrs-, Kultur- und Stadtgeschichte, verweist als konkreter Raum auf die Mobilität von Menschen. In seiner Funktion als Verkehrsknotenpunkt repräsentiert er zudem die vielfältigen Vernetzungen und Kontakte zwischen Stadt, Umland, Region, anderen Städten und anderen Ländern. Damit wäre bereits ein erster Anhaltspunkt gegeben, indem Stichwörter wie Mobilität, Kontakt und Vernetzung von Akteuren und ihren sozialen Milieus, etwa so wie in Abb. 1 schematisch gekennzeichnet, genannt werden. Mobilität, Kontakt und Vernetzung treten ebenso deutlich in den Straßen des Bahnhofsviertels zu Tage. Sich hier zu bewegen, auf die Namen an den Klingelschildern der Haustüren zu schauen, die Sprachenvielfalt unter den Passanten und in den Graffitis und Inschriften zu beobachten, lenkt unweigerlich die Aufmerksamkeit auf die im Viertel allgegenwärtige Migration, sei es in Form der Ethnoökonomie des migrantischen Unternehmertums, der jungen KünstlerInnen und Kreativen in der „Basis“ oder der kulturellen und sprachlichen Diversität unter der SchülerInnen der Karmeliterschule, die im Bahnhofsviertel ebenso alltäglich sind wie es die pendelnden anzug- und kostümtragenden Angestellten der Banken und Dienstleistungsunternehmen, die Junkies und Dealer, die Kunden der Laufhäuser oder die MitarbeiterInnen der Kanzleien, Praxen, Geschäfte oder Gaststätten sind.

Doch die Ortsbegehung lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf Mobilität und Migration und ihre Begleitumstände, sondern auch auf eine sehr viel allgemeinere und auf eine jeder Gesellschaft inhärenten Dynamik, die wir mit Begriffen wie Ungleichheit, Differenz, Diversität, Distinktion und Heterogenität fassen und die in den folgenden Kapiteln noch genauer ausgeführt wird. Die Vielfalt, wie wir sie im Viertel und darüber hinaus überall in der Stadt beobachten können, stellt sich aus der Sicht der Akteure als Spannungsverhältnis dar, das von der Ähnlichkeit und Gleichheit (Identität und Homogenität) über Verschiedenheit im Sinne von Distinktion, Diversität oder Differenz bis hin zu Heterogenität reicht, bis zu Phänomenen und Wahrnehmungen also, die nicht nur auf Verschiedenheit, sondern auch auf das hinweisen, was sich nicht zueinander fügt und was nicht zusammenpasst.

Somit erweitert sich die Reihe der bereits erwähnten Stichwörter von Mobilität, Migration, Kontakt, Vernetzung und Verflechtung um weitere: erstens, um das Alltägliche bzw. das alltäglich Gewordene an Vielfalt der Lebenspraxen; zweitens, um das Entstehen oder die Herausbildung von Neuem, das mit dem Begriff der Emergenz zu fassen wäre. Letzteres zeigt sich bei der Ortsbegehung in der Herausbildung eines neuen Verständnisses von Schule, von neuen Schulkonzepten und Lernarrangements, in der Ausarbeitung von neuen Wegen in der Drogenpolitik und Kriminalitätsprävention, in neuen Fertigungsweisen in den Pelzunternehmen bis hin zu neuen Geschäftsmodellen und -praktiken in einer auf kultureller Differenz basierenden Wertschöpfung. Drittens sind es die Begriffe der Ungleichheit, Differenz, Distinktion, Diversität und Heterogenität, mit denen die Aufmerksamkeit auf Eigenschaften von Systemen, Akteuren und Phänomenen gerichtet wird. Und viertens stoßen wir fortwährend auf die Dimensionen des Wandels in der Zeit. Verweise auf die Bebauung der Kaiserstraße und die Entstehungszeit des Hauptbahnhofs als einem Großprojekt der Modernisierung von Verkehrs- und Stadtinfrastruktur Ende des 19. Jahrhunderts, die Zerstörung weiter Teile der Stadt im Zweiten Weltkrieg, dann in der Nachkriegszeit die Ansiedlung von Pelz- und Rauchwarenindustrie einerseits und des Rotlichtmilieus andererseits, seit den 1980er Jahren die Errichtung orientalischer Supermärkte in der Münchner Straße, 2006 die Gründung der „Basis“ und anderes mehr – all dies lenkt den Blick auf historisch Gewordenes, auf Initialakte und vor allem auf Prozesse vielfältigen Wandels.

HistorikerInnen haben in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass Forschungen zu Transkulturalität auch Bohrungen in tieferen Schichten aushalten. In den Untersuchungen von von Borgolte/Schneidmüller (2010), Borgolte/Tischler (2012), Drews/Scholl (2016) und des Netzwerks „Transkulturelle Verflechtungen“ (2016) bieten das Mittelalter und die frühe Neuzeit zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert ein fruchtbares Terrain für die Erforschung transkultureller Verflechtungsprozesse, während Osterhammel (2001) vor dem Hintergrund der Herausbildung von Weltreichen, von Kolonialismen und Nationalismen methodologische Fragen der transkulturell vergleichenden Geschichtswissenschaft diskutiert. Besonders einprägsam führt Ette (2005, 2012, 2017) als Literaturhistoriker vor, was es heißt, Prozesse von Transkulturalität auch schon in den frühen Phasen der Globalisierung, d.h. seit Beginn der kolonialen Eroberungen freizulegen. Und mehr denn je sind diese Prozesse eingebettet in die „progressive Schrumpfung des Raums“ (Rosa 2005, 62), womit der Soziologe Hartmut Rosa die Auflösung des traditionellen Raum-Zeit-Verhältnisses benennt, die mit dem Industriezeitalter einsetzt und die mit der Wende zum 21. Jahrhundert nochmals einen immensen Beschleunigungsschub erfährt. In Bruchteilen von Sekunden erfahren wir heute von einem Ereignis wie dem Erdbeben und der Havarie des Atomreaktors in Fukushima und sehen, wie darauf fast gleichzeitig die Börsen in Sidney, New York, Paris oder Frankfurt am Main mit Panikverkäufen oder Kurssprüngen reagieren.

Und schließlich liefert die Ortsbegehung einige Anhaltspunkte dafür, was es mit Kultur auf sich hat, wenn im Weiteren von Transkulturalität die Rede sein wird. Beginnend beim Hauptbahnhof, über das türkische Bistro mit der kleinen Galerie, die Karmeliterschule, die „Basis“, die muslimischen Gebetshäuser in den Hinterhöfen bis zu den Laufhäusern in Taunus- und Elbestraße und den griechischen Kürschnereien im „Pelzdreieck“ haben sich Menschen soziale Räume, Gebäude und Institutionen geschaffen, die nach bestimmten Regeln funktionieren, die für sie einen Zweck – oder auch verschiedene Zwecke – erfüllen und mit Werten, Vorstellungen und Anschauungen verbunden sind. Mal sind es Individuen, wie der Besitzer des Bistros, der seine Galerie für die Bilder der Frauen aus Syrien und Afghanistan öffnet, mal sind es Familien und ihre Angestellten, die einen Supermarkt bewirtschaften und mit den von ihnen angebotenen Lebensmitteln die Bedürfnisse ihrer Kundschaft decken, oder es sind komplexe Körperschaften, die eine Vorstellung davon umsetzen, wie ein Bahnhof aussehen und beschaffen sein soll, die aushandeln, was für seinen Bau und für seinen späteren Betrieb an Vorkehrungen und Entscheidungen zu treffen sind. Gemeinsam ist all diesen Akteuren, dass sie nach mehr oder weniger erkennbaren Vorstellungen handeln, dass sie Regeln und Normen erlernen, verfolgen, verinnerlichen oder auch in Frage stellen, dass sie im wechselseitigen Umgang miteinander Routinen ausbilden, sie ihr Handeln gegebenenfalls auch mit anderen verhandeln und gegen konkurrierendes Handeln absichern oder durchsetzen. In diesem Sinne soll Kultur, übergreifend zu Kultur einer Gemeinschaft, einer Gruppe, Ethnie oder Nation, als das Aushandeln von Bedeutungen verstanden werden und je nachdem, wie sich dieser Prozess materialisiert, in die Errichtung eines Bahnhofs, in das Singen einer Hymne oder in die Veranstaltung eines Stadtteilfests mündet. In Kapitel 2 wird dieses hier noch provisorische Verständnis von Kultur als Aushandlung von Bedeutung wieder aufgenommen.

Schließlich Transkulturalität. Auch dieser Begriff soll, ebenfalls noch provisorisch, anhand der Erfahrungen aus der Ortsbegehung bestimmt werden. Der Begriff der...


Erfurt, Jürgen
Prof. Dr. Jürgen Erfurt lehrte und forschte von 1996 bis 2020 am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt am Main.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.