E-Book, Deutsch, 154 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Endres Nietzsche als Hermeneut
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2025
ISBN: 978-3-7873-4921-0
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 154 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4921-0
Verlag: Felix Meiner
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Tobias Endres ist Feodor-Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Ausgehend von den Sprachphilosophien Henri Bergsons und Friedrich Nietzsches forscht er an der École normale supérieure in Paris zu den deutsch-französischen Entstehungsbedingungen der Lebensphilosophie.
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2. Nietzsches Erkenntnistheorie
»Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. –
Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen.«25
2.1 Propädeutik: Subjektivismus als Ausgangslage
Subjektivismus ist allgemein gesprochen eine erkenntnistheoretische Lehre, welche die Fundamente jedweder Erkenntnis im menschlichen Subjekt verortet. Fragen wir also nach der Reichweite unseres Wissens oder der Beschaffenheit von Erkenntnis überhaupt, gilt es aus subjektivistischer Perspektive zunächst, die sinn- und geltungsbildenden Leistungen des Subjekts zu untersuchen, bevor Urteile über das Sein oder den Geltungsbereich des Objektiven gefällt werden. Dem Subjektivismus steht antipodisch der Objektivismus in der Geschichte der Erkenntnislehren gegenüber. Dieser behauptet konsequenterweise, dass Erkenntnis unabhängig von subjektiven Bedingungen der Erkenntniskonstitution zustande kommt. Vertreter ›naiver‹ objektivistischer Erkenntnislehren tendieren dazu, die Empirie absolut zu setzen, indem sie beispielsweise die Objektivität der Erkenntnis durch ›Wahrnehmungstatsachen‹ gesichert sehen. Demnach bestehe eine Isomorphie oder Korrespondenz zwischen den Dingen unserer Welt, wie sie unabhängig von uns sind – und samt der Relationen, in denen sie zueinanderstehen – und der Weise, wie sie dem menschlichen Subjekt in den Vorstellungen seines Bewusstseins (bspw. durch Wahrnehmung) gegeben sind.
Verfolgen wir die Spur des Subjektivismus bis an seinen geschichtlichen Ursprung im abendländischen Denken zurück, zeigt sich, dass die antike Variante des Subjektivismus nicht weniger ›naiv‹ als der soeben skizzierte objektivistische Antipode auftritt. Als dessen authentischer Vertreter gilt üblicherweise Protagoras, auf dessen Homo-mensura-Satz sich alle Spielarten des Subjektivismus, also auch der mit ihm artverwandte Relativismus, historisch zurückführen lassen. Der Satz »[D]er Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind«26, scheint nahezulegen, dass Protagoras, anders als moderne Erkenntnistheoretiker im Gefolge Kants, epistemologische und ontologische Aussagen methodisch nicht auseinanderhält und so, eben weil es keine vermittelnde Instanz zwischen dem Erscheinen für den Menschen und dem Sein der Welt gibt, dem Relativismus die Tore öffnet. Die Wahl einer prima philosophia wird so letztlich zur Geschmackssache. Einem den Sinnen zugewandten Skeptiker beispielsweise, der nur die Menschen seiner Umwelt, aber nicht den Begriff ›Mensch‹ sieht, kann man, Protagoras folgend, die Realität von Universalien oder anderer geistiger Entitäten nicht beweisen, da er aufgrund seiner vorgegebenen intellektuellen Kurzsichtigkeit in einer Welt ohne Allgemeinbegriffe lebt.
Ob man Protagoras mit solch einer Deutung gerecht wird, sei dahingestellt. Möglich scheint auch seine Darstellung als Vorläufer Kants.27 Wir lassen ihn für den weiteren Fortgang der Untersuchungen nunmehr als Vorläufer subjektivistischer Philosophie, handle es sich um sensualistisch-skeptische oder radikal-konstruktivistische Theorien, unangetastet. Die negativ skeptische Variante des Subjektivismus, die ihre methodische Renaissance zunächst in der Philosophie David Humes erfährt, soll ebenfalls außer Acht gelassen werden; dementgegen sollen die gemäßigten Vertreter subjektivistischer Erkenntnistheorien zu Wort kommen, um mit Kant eine Vermittlung von Subjektivismus und Objektivismus zu erreichen.
An erster Stelle wäre hier niemand anderes zu nennen als der Begründer der neuzeitlichen Philosophie, René Descartes. Dessen denkerische Innovation, der konsequent durchgeführte methodische Zweifel, legte seiner Zeit ein Fundament der Erkenntnis frei – das sogenannte fundamentum inconcussum –, das von da an, über Kant bis zu den Denkern des Deutschen Idealismus, das Zentrum jeder erkenntnistheoretischen Untersuchung bildete: das ›Ich‹. Ausgehend von diesem unbezweifelbaren Substrat, von dem ›Ich denke‹ der vorangegangenen Meditationen, ließ sich nun der Versuch an, den Sinn objektiver Erkenntnis und Wahrheit dadurch zu retten, dass die jedem Erkenntnissubjekt zugrundeliegenden universalen Bewusstseinsstrukturen durch philosophische Analyse explizit und damit geltend gemacht wurden. Da jedoch auch Descartes das Verhältnis von Epistemologie und Ontologie nicht eigens thematisierte, behalf er sich, genötigt durch die Geltung zweier Entitäten (res cogitans und res extensa), mit einer dualistischen Ontologie, die die Vermittlung ihrer Instanzen durch gleich zwei Gottesbeweise zu sichern suchte.
Bevor nun der im eigentlichen Interesse stehende Autor eines nicht-relativistischen und Skepsis-resistenten Subjektivismus, Immanuel Kant, in einem separaten Kapitel zu Wort kommt, soll noch ein kurzer Abriss moderner Versionen des Objektivismus geben werden. Bernard Bolzano, Gottlob Frege und Edmund Husserl verhalfen Theorien des Objektivismus zum Durchbruch, die sich methodisch auf geltungslogische Argumente stützen. Sowohl Frege, welcher in Über Sinn und Bedeutung an Kants Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen – und das daraus von ihm gewonnene Erkenntniswertargument28 – anschließt, als auch Husserl, der in seinen Cartesianischen Meditationen methodisch – wenn auch unter transzendentalem Vorzeichen – auf Descartes zurückgeht, versuchen den Sinn von Objektivität dadurch zu stärken, dass dem Raum der Gründe, der Gedanken, der Urteile eine unhintergehbare Realität zugesprochen wird. Frege geht sogar so weit, das ›Reich der Gedanken‹ zu ontologisieren.29
Nach dem zweiten30 Linguistic Turn zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts führten Vertreter eines avancierten Objektivismus wie Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel oder Hilary Putnam die geltungslogische Argumentation in transzendentalpragmatisch transformierter Weise fort. Der Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität in der Sprache gleicht einer Flucht vor den Höhen der existenziellen Hermeneutik Heidegger’scher Provenienz sowie der wirkmächtigen, aber tendenziell solipsistischen Phänomenologie auf der einen Seite und dem Abgrund des Logischen Empirismus, der auf den Stand eines naiven Objektivismus und Positivismus zurückfiel, auf der anderen Seite. Dies aber ausschließlich unter Berufung auf die idealistische Tradition, allen voran auf Kant und Hegel. Nietzsche blieb in diesen Diskursen außen vor.
Der Kritizismus Kants jedoch verbietet sich den methodischen Objektivismus, wenngleich auch er eine realistische Ontologie vertreten möchte. Die Einsicht, aus methodischen Gründen notwendigerweise eine subjektivistische Erkenntnistheorie wählen zu müssen, bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Nietzsche von dieser neuzeitlichen Voraussetzung implizit ausgeht. Sein Perspektivismus lässt sich dann in Auseinandersetzung mit Kant entfalten, wobei bereits vorweg zu sagen wäre, dass Nietzsche die transzendentale Argumentation zu Gunsten einer historischen bzw. genealogischen Argumentation verwerfen wird. Durch diesen methodischen Schachzug seitens Nietzsche verwandelt sich allerdings der Skepsis-resistente Subjektivismus Kants, der reduziert auf die transzendentale Analytik auch als kritischer Objektivismus durchgehen könnte31, in eine Philosophie, die zwar nicht mit einem Beweis der Außenwelt ringt, jedoch alle epistemischen Bemühungen zu subjektiv bedingten Fiktionen depotenziert.
Systematisch wird, insbesondere im methodisch orientierten Teil dieser Arbeit (Kapitel 2.5), darauf einzugehen sein, ob der durch Kant eingeführte und durch Habermas und andere rehabilitierte Unterschied zwischen der Geltung von Urteilen und deren Genese (die Nietzsche mitunter in eins setzt) und die damit verbundene Aufrechterhaltung einer transzendentalen Variante der Erkenntnistheorie weiterhin bestehen bleiben muss oder ob Nietzsches genealogische Analysen, mitsamt ihren relativistischen Konsequenzen für das Selbstverständnis von Wissenschaft, Religion, Ethik, Politik und anderen Quellen menschlichen Weltverständnisses, selbst einen Anspruch auf Geltung erheben können. Mit der Beantwortung der Frage, ob der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses Nietzsche trifft oder nicht, fällt die Entscheidung über Nietzsches erkenntnistheoretisches Projekt. Ich werde versuchen zu zeigen, dass dieser Einwand haltlos ist.
2.1.1 Die Erkenntnisgrenzen im Kritizismus Kants
Es wäre immer noch bescheiden formuliert, wenn man behauptete, Immanuel Kant habe die größte Revolution im philosophischen Denken seit Beginn der Neuzeit vollzogen. Seine Kopernikanische Wende stellt alle bis dahin unternommenen Versuche, die Erkenntnis von Gegenständen durch Rekurs auf deren Objektivität zu legitimieren, auf den Kopf. Ganz im Gegenteil basiert das Experiment Transzendentalphilosophie auf der Annahme, »die...