Ebert | Radelnde Nationen | Buch | 978-3-593-39158-8 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 52, 495 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 609 g

Reihe: Campus Historische Studien

Ebert

Radelnde Nationen

Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940

Buch, Deutsch, Band 52, 495 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 609 g

Reihe: Campus Historische Studien

ISBN: 978-3-593-39158-8
Verlag: Campus Verlag GmbH


Die Niederlande sind ein Fahrradland, Deutschland gilt eher als Land der Autobahnen. Wie es dazu kam, schildert Anne-Katrin Ebert in ihrer reichhaltigen Konsum- und Kulturgeschichte des Fahrrads. Mit dem Gebrauch des Fahrrads verband sich eine Fülle von Identitätskonstruktionen und sozialen Unterscheidungsmechanismen. Der menschliche Körper, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Bürgerlichkeit und Arbeiterschaft sowie deutsche und niederländische Identität - das alles wurde auf und mit dem Fahrrad "erfahren". Am Ende zeigt sich, dass das unterschiedliche Verhältnis zum "Drahtesel" in Deutschland und den Niederlanden vor allem mit den jeweiligen politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Konstellationen zu tun hat - und weniger mit den landschaftlichen Gegebenheiten in beiden Ländern.

Ausgezeichnet mit dem Young Scholars Award 2010 des International Committee for the History of Technology
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Inhalt

Einleitung

I. Ein Sport für den selbstbewussten Mann und die "Neue Frau": Bürgerliches Radfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts

1. Das Fahrrad und die Konstituierung einer bürgerlichen Radsportkultur
1.1 Das Fahrrad, ein Spiel
1.2 Das Konsumregister des Radfahrens: Vom Luxus des Spiels
1.3 Der Sport als "korrekte Konsumtion" des Luxusguts Fahrrad
1.4 Die soziale Zusammensetzung der Radsportclubs: Eine Bestandsaufnahme
1.5 Fazit: Vom Luxus des Radsports

2. Radfahren und die Erfahrung des modernen Individuums
2.1 Das stählerne Ross und die Eisenbahn: Das Fahrrad im Kontext der Technik seiner Zeit
2.2 Zwischen Hochrad und Niederrad: Fahrradkonstruktionen als Mittler
2.3 Der Reiz der Kontrolle: Das Fahrrad, der Körper und die Nerven
2.4 Das Fahrrad und die Optimierung der menschlichen Körpermaschine
2.5 Fazit: Der selbstbewusste Radfahrer

3. Die "Neue Frau" auf dem Fahrrad
3.1 Rad fahrende Frauen in der Statistik: Der Versuch einer Bestandsaufnahme
3.2 Begleiterin des männlichen Individuums: Die Radfahrerin und die bürgerliche Geschlechterordnung
3.3 Tandem, Dreirad und Niederrad: Fahrradmodelle und Geschlechterrollen
3.4 Medizinische Bedenken? Die Radfahrerin im Visier der Ärzte
3.5 Der feine Unterschied: Ästhetik des weiblichen Radfahrens
3.6 Selbstständigkeit durch das Rad? Die "Neue Frau" und die Erfahrung des Radfahrens

II. Schneller als das Pferd, die Schönheit des Landes vor Augen: Radfahren für die Nation

1. Radsport und Nation: Verbände in Deutschland und den Niederlanden
1.1 Vorbild England: Niederländische und deutsche Radsportverbände
1.2 Transnational und national: Die Sprache des Radsports
1.3 Lost in Transfer? Die Unterscheidung in "amateurs" und "professionals"
1.4 Die Radsportverbände und die Etablierung des nationalen Anspruchs
1.5 Aufbau und Struktur der Verbände
1.6 Fazit: Nationale Interessen im internationalen Beziehungsgeflecht

2. Das Radfahren als nationale Bewegung: "Erfundene Traditionen" und Inszenierungen
2.1 "Erfundene Traditionen" des Radfahrens in den Niederlanden: Wanderer, Eisläufer, tugendhafte Bürger
2.2 "Erfundene Traditionen" des Radfahrens in Deutschland: Turner, Reiter, wehrhafte Männer
2.3 Nationale Inszenierung in Deutschland: Die Distanzfahrt Wien-Berlin 1893
2.4 Nationale Inszenierung in den Niederlanden: Der Blumenkorso 1898
2.5 Fazit: Von Blumen und Offizieren: Auf unterschiedlichen Wegen zur Nation

3. Radfahren für die Nation: Deutsche und niederländische Verbandsarbeit
3.1 Das schwierige Ornament: Radrennen in der niederländischen und deutschen Verbandsarbeit
3.2 Dem Turnen verpflichtet: Das Saalradfahren als deutsche Spezialität
3.3 Die Nation erfahren: Der Radtourismus in beiden Ländern
3.4 Ringen um die Nation: Die Radfahrverbände und die Einheit im Verkehr
3.5 Fazit: Nationsbildung per Rad: Möglichkeiten und Grenzen nationaler Verbandsarbeit

III. Solidarische Arbeiter, besonnene Bürger: Radfahren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

1. Vom Luxus zum Massenkonsum: Radfahren nach 1900
1.1 Statistische Daten zur Diffusion des Fahrrads in beiden Ländern
1.2 Die Entwicklung der Fahrradindustrien in beiden Ländern
1.3 Vom Sportgerät zum Verkehrsmittel
1.4 Zwischen Statusbewahrung und Demokratisierungsphantasien: Bürgerliches Radfahren nach der Jahrhundertwende
1.5 Krise oder Chance? Die bürgerlichen Radfahrerverbände im Wandel
1.6 Fazit: Distinktionsmuster im Wandel

2. Eigensinn im Massenkonsum: Die Arbeiter-Radfahrer
2.1 Die Anfänge des organisierten Arbeiter-Radfahrens
2.2 Agitation als wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der organisierten Arbeiter-Radfahrer
2.3 Der Arbeiter-Radsport und die "Sportfexerei" bürgerlicher Prägung
2.4 Radwandern: Solidarität und Gemeinschaft
2.5 Saalfahren in der "Solidarität"
2.6 Fazit: Der Drahtesel im Klassenkampf

3. "Das vaterländischste aller Verkehrsmittel": Radfahren und Nation
3.1 Bürgerliche Verbandsarbeit im Zeitalter des Massenkonsums
3.2 Der Erste Weltkrieg, das Fahrrad und die "besonnene Nation"
3.3 Auf eigenen Wegen zur Nation: Der Aufbau eines Radfahrwegenetzes
3.4 Von Wegen und Steuern: Das Radfahren im Visier des Staates
3.5 Fazit: Das Fahrrad und die nationale Identifikation

Schluss

Anhang

Literatur

Danksagung

Ortsregister

Personenregister

Sachregister


3.5 Der feine Unterschied: Ästhetik des weiblichen Radfahrens

Die Brisanz der ästhetischen Frage bezogen auf die Radfahrerinnen zeigte sich nicht zuletzt in der Intensität, mit der sich auch und gerade die männlichen Ärzte dieses Themas annahmen. Selbst wenn in vielen Quellen die ästhetischen Aspekte des Männerradfahrens diskutiert wurden, so standen diese Ausführungen in keinem Vergleich zu den Diskussionen über die Frauenbekleidung. Die Frage "Rock oder Hose" inklusive des möglichen Kompromisses des "divided skirt" beschäftigte Ärzte und Radfahrerinnen gleichermaßen. Allerdings äußerte so mancher Arzt Zweifel daran, dass Kleidungsratschläge der Mediziner Gehör finden würden.

So begann der niederländische Gynäkologe Hector Treub, Bruder des bekannten Liberalen M.W.F. Treub und Professor für Frauenheilkunde in Leiden und in Amsterdam, leicht resigniert seine Abhandlung über die ästhetische Frage des Frauenradfahrens mit dem Hinweis, die Männer könnten noch so sehr die Hässlichkeit der Rad fahrenden Frauen betonen, es hielte dennoch keine einzige Frau davon ab, weiter Rad zu fahren. Auch wenn er keineswegs allen Rad fahrenden Frauen grundsätzlich mangelnde Attraktivität bescheinigen wollte, so hatte der Arzt doch ein deutliches Feindbild: das "rational dress". Diese Bekleidung sei zwar zweifelsohne am praktischsten für die Rad fahrenden Damen, aber: "Zelfs de Parisienne, de vleesch geworden élégance, ziet er daarin weinig aantrekkelijk uit. Hoe zullen dan onze vrouwelijke landgenooten…"

Auch Eduard Bertz, der sich ansonsten in Fragen von Bekleidung weltoffen gab und den Rock als Konvention abtat, konnte sich gewissen ästhetischen Bedenken nicht entziehen. Er riet den Frauen, ehrlich zu prüfen, ob ihr Körperbau der Männertracht entgegen komme. Nur bei wohl gebauten Frauen stehe laut Bertz dem Tragen der männlichen Tracht nichts im Wege. Kurarzt Fressel beobachtete in seinem Radfahrhandbuch für Damen von 1897 hingegen, dass die Rockkostüme, trotz ihrer "großen Mängel" noch immer am meisten im Gebrauch seien. Allen ästhetischen Bedenken zum Trotz ermunterte er ausdrücklich zum Tragen der Pumphose, der einfachsten und praktischsten Tracht, denn schließlich gewöhne sich das Publikum an alles: "Unsere Sache ist es, diese Gewöhnung zu beschleunigen." Ganz anders sah dies der Berliner Arzt Ebeling, für den eine Frau in halber Männerkleidung kein schöner Anblick war. Er ging selbstverständlich davon aus, dass bei der Wahl Hose oder Rock jede Dame wohl zum Rock greifen würde.

Nicht nur die Ärzte diskutierten ausführlich das Problem der richtigen Kleidung von Frauen auf dem Fahrrad. Auch die entsprechenden Rubriken für Frauen in den Verbandszeitschriften und die speziellen Zeitschriften für Radlerinnen widmeten sich ausgiebig und wiederholt diesem Thema. Nur wenn die Radfahrerin so elegant wie möglich erscheine, warnte bereits ein Artikel in der Rubrik "Voor Sportzusters" in De Kampioen von 1888, würde es möglich sein, andere Frauen für diesen Sport zu begeistern. Zugleich stellte die Autorin fest, dass viele ihrer Freundinnen, die sie zu einer Tandemtour eingeladen hatte, über ihre ungeeignete und lästige Kleidung geklagt hätten. Der Rock der Damen stellte ein schwer zu lösendes Problem dar, denn die Ansprüche an dieses Kleidungsstück glichen einer Quadratur des Kreises. So forderte ein niederländischer Artikel, der Rock dürfe weder zu eng, noch zu weit, noch zu lang, noch zu kurz sein. Vielmehr solle er im "goldenen Mittelmaß" einerseits weit genug sein, um die als hässlich und unelegant empfundene Tretbewegung der Dame zu verbergen, andererseits aber nicht so weit, dass die Gefahr bestünde, dass sich der Stoff in den Speichen verfange oder die Radfahrerin beim kleinsten Gegenwind gleich einem Schiff mit vollen Segeln auf dem Weg daherschlingere. Bezüglich der Länge hieß es, der Stoff müsse beim Treten die Beine bis zu den Knöcheln bedecken, jedoch nicht so lang sein, dass der Rocksaum von den dreckigen Pedalen beschmiert werden könnte oder sich wiederum in den Speichen zu verfangen drohe. Modeentwürfe aus Frankreich, bei denen der Rock der Radfahrerin nur noch bis zu den Knien reichte, lösten bei den niederländischen Autoren nur Entsetzen aus. Bezogen auf die Weite des Rockes empfahl der deutsche Kurarzt Fressel beachtliche 3 Meter als obere Grenze.

Da anscheinend viele deutsche und niederländische Radfahrerinnen wenig Bereitschaft verspürten, auf den Rock zu verzichten beziehungsweise dessen Länge grundsätzlich infrage zu stellen, gingen zahlreiche Beiträge auf die unterschiedlichen Tricks ein, mit denen das gefürchtete Flattern und Hochwehen vermieden werden sollte. Eine Methode bestand im Einnähen von Bändern in den Saum, die dann mit dem Rahmen des Fahrrads verknüpft oder zwischen den Füßen verbunden wurden, um so den Rock zu raffen. Dass dies die Beweglichkeit der Frauen beim plötzlichen Absteigen nicht gerade erhöhte, liegt auf der Hand. Auch eingenähte Bleiplättchen oder Schrotkörnchen, manchmal als "Schmetterlinge" bezeichnet, die als Gewichte den Rock nach unten ziehen und das Hochwehen verhindern sollten, beschwerten die Radfahrerinnen mehr, als dass sie ihr Fahrvergnügen verbesserten.

Angesichts dieser unbefriedigenden Lösungen konnte es nicht ausbleiben, dass einige die Garderobenfrage grundsätzlicher zu lösen trachteten. Warum sollten Frauen, die doch von Natur aus schon schwächer seien als Männer, sich zusätzlich mit den Röcken abmühen, fragte eine Frau 1893 in der "Damesrubriek" der Zeitschrift De Kampioen erzürnt und fuhr fort: "Rokken, hoe ook bedacht, zijn en blijven voor het wielrijden onpractisch!" Die "zouaven pantalon", also die Pumphose, sei einfach wesentlich praktischer, ermögliche regelmäßiges und kräftiges Treten und mache zugleich aufgrund des verringerten Widerstandes weniger müde als ein Rock. Damit gab sie den Anstoß zu einer hitzigen Debatte unter den Leserinnen, in der sich Befürworterinnen und Gegnerinnen wechselseitig Ahnungslosigkeit in Sachen Radfahren und unweibliches Verhalten bezüglich der Kleidung vorwarfen. In Deutschland höhnte die überzeugte Hosenträgerin und engagierte Radfahrerin Amalie Rother über die Rockträgerinnen, die sich mit ihrem fehlgeleiteten Festhalten an Konventionen auf dem Fahrrad in Todesgefahr brächten: "Man stirbt dann ja allerdings in dem stolzen Bewusstsein, dem Kleide Treue bis zum Tode bewahrt zu haben."

Die Hose als Bekleidungsstück galt Ende des 19. Jahrhunderts als Privileg des männlichen Geschlechts. Zwar hatten nordamerikanische Frauenrechtlerinnen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Versuche unternommen, die in der Bewegungsfreiheit stark einschränkende Frauenkleidung mit ihren langen, schweren Röcken und dem einschnürenden Korsett zu reformieren, aber das berühmt-berüchtigte, von Amelia Bloomer entworfene "Bloomer-Kostüm" hatte sich nicht durchsetzen können. Immerhin haftete der Hose für Frauen seitdem das Image eines "Kampfgewandes" der Frauenbewegung an, und das "Bloomer-Kostüm" wurde "zum Inbegriff weiblichen Emanzipationsstrebens". Dieser Tatbestand machte die Entscheidung für die Hose nicht leichter, wie aus den niederländischen Leserinnenbriefen zu schließen ist. Warum, so beklagte eine Gegnerin der Hose, könnten Radfahrerinnen sich nicht einfach so bekleiden, wie es Damen nun einmal gewöhnt seien: "Waarom ons te emancipeeren door heerenkleeding aan te trekken?" Im Übrigen bestritt diese Leserin nicht, dass der Rock unpraktisch sei, aber sie sah dies als kleineres Übel gegenüber der Gefahr, sich "unfraulich" aufzuführen.

Als Kompromiss wurde nicht nur in dieser Diskussion eine Art Zwischenkostüm vorgeschlagen, im Niederländischen meist als "divided skirt", im Deutschen als "geteilter Beinkleidrock" oder "Kombinationskostüm" bezeichnet. Dieses Verwandlungskostüm bestand aus einer Pumphose, über der ein zugeknöpfter Rock saß, der beim Radfahren aufgeknöpft wurde. Auf diese Weise teilte sich das Kleid beim Radfahren und erleichterte die gleichmäßige Verteilung des Rockes auf beide Seiten, die beim normalen Rock gerade für Anfängerinnen ein großes Problem darstellen konnte.

Die vielfältigen, bisweilen hitzigen Bemerkungen über die Kleidung der Radfahrerin in beiden Ländern verdeutlichen, dass es sich hierbei um eines der großen Themen des Frauenradfahrens insgesamt handelte. Doch wie stellte sich der Umgang mit Rock oder Hose in der Praxis dar? Gab es eventuell sogar nationale Unterschiede? Wie so häufig in der historischen Forschung, so erscheint es als beinahe unmögliches Unterfangen, von den Diskursen und Debatten auf die Praxis zu schließen. Der historische Vergleich wird zudem noch durch die Unterschiedlichkeit der deutschen und niederländischen Quellen erschwert, denn die Stimmen der niederländischen Radfahrerinnen erklangen fast ausnahmslos in der Verbandszeitschrift, wohingegen in Deutschland mit der Draisena und der Radlerin eigene Diskussionsforen für das Frauenradfahren existierten, die zwar ebenfalls unter der Ägide der Verbände standen, aber allein schon durch das getrennte Erscheinen eine stärkere Unabhängigkeit beanspruchten.

In den Niederlanden wurde der ideale Damenrock vom Radfahrerverband zur Vorstandssache erklärt. Nach umfangreichen Recherchen ließ man in Paris das Schnittmuster eines englischen Modells anfertigen, das allen weiblichen Mitgliedern des Verbandes kostenlos zugesandt wurde. Darüber hinaus beglückte der Vorstand die ersten 500 neuen weiblichen Mitglieder mit nach diesem Muster angefertigten Röcken. In der "Damesrubriek" der Verbandszeitschrift De Kampioen wurde der niederländische Radfahrerverband als treu sorgende Mutter gefeiert, die mit ihrem Entwurf endlich den drei wesentlichen Anforderungen der Gesundheit, der Eleganz und der Bequemlichkeit entspräche. Aber konnte dieser "Verbandsrock" die Hose tragenden Radfahrerinnen von den Straßen der Niederlande endgültig verdrängen? Immerhin hatte schon 1895 eine Autorin in dem Organ der niederländischen Frauenbewegung De Evolutie prophezeit, aufgrund ihrer größeren Praktikabilität werde sich die Hose wohl auf längere Sicht durchsetzen.

Von den Vorteilen der Hose waren auch die meisten der Teilnehmerinnen an einer 1897 von der deutschen Zeitschrift Draisena gestarteten Umfrage, "Warum sind Sie Anhängerin oder Gegnerin der Hose für Radfahrerinnen?" überzeugt. Von den 14 veröffentlichten Einsendungen sprachen sich sieben für die Hose aus, fünf differenzierten nach dem Alter und der Figur der Trägerin beziehungsweise der Nutzung des Fahrrads für verschiedene Zwecke und zwei sprachen sich für den Rock aus. Doch ist unsicher, inwieweit diese Zahlen eine verlässliche Auskunft über die tatsächliche Bekleidungspraxis der Frauen geben können, denn die Zeitschrift selbst bezog in der Diskussion dezidiert Stellung und zwar für die Hose. Die Leserinnenbriefe der Draisena spiegelten vermutlich zu einem gewissen Teil die Position der Zeitschrift wider. Ob also in Deutschland mehr Frauen die Hose zum Radfahren anzogen als in den Niederlanden, kann nicht festgestellt werden.

Aber auch wenn zur Bekleidungspraxis der Radfahrerinnen in beiden Ländern nur wenig Gesichertes zu sagen ist, deuten die heftigen Debatten um Rock oder Hose doch auf ein grundsätzliches Problem hin und bestätigen mithin Eduard Bertz' Beobachtung, hinter der Diskussion um ästhetische Aspekte verbürgen sich eigentlich ethische Bedenken. Es ging hierbei nicht nur um die Angst vor der Vermännlichung der Radfahrerin oder gar einer Rollenumkehrung, wie sie in manchen zeitgenössischen Karikaturen thematisiert wurde. Die Hose signalisierte vielmehr in Kombination mit dem Niederrad eine Verschiebung weiblichen Konsumverhaltens. Individualität und Selbstständigkeit vermittelten sich im Konsum.

Der Konfliktpunkt wird deutlich, wenn man sich die Aussage eines Leitartikels aus De Kampioen von 1896 vergegenwärtigt. In diesem Artikel beschreibt der Autor, wie er eines Morgens im Park die dort Rad fahrenden Damen betrachtete. Ausführlich beklagt er deren mangelnde Grazilität, die zum Teil dem zunehmenden Import amerikanischer Billigfahrräder geschuldet sei. Resümerend erklärt er: "Bij het rijden onzer sportzusters moet als beginsel voorop worden gezet, dat het er niet op aankomt hoe ver, maar wel wat en hoe men rijdt." Während beim Radfahren der Männer die individuelle Erfahrung von Mobilität und Freiheit zu den entscheidenden Kategorien zählte, formulierte dieser niederländische Artikel von 1898 eine Vorstellung vom Frauenradfahren, das weniger für die selbstständige Fortbewegung von Frauen als vielmehr für die ergötzende Betrachtung des Mannes bestimmt sein sollte.

Dieser Unterschied zwischen den Konzepten von weiblichem und männlichem Radfahren lässt sich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Theory of the Leisure Class von Thorstein Veblen interpretieren. Veblens berühmte und in neuester Zeit immer wieder aufgegriffene und diskutierte These lautet, dass Frauen in der modernen Gesellschaft nur in Form einer "conspicuous consumption" konsumierten. Laut Veblen bestand die früheste Form des Eigentums in den archaischen Kulturen aus dem Besitz der Frauen durch die Männer. Frauen waren "Trophäen" im Krieg und mit ihrem Besitz unterstrichen die Krieger ihre Fähigkeiten und ihre Distinktion gegenüber den anderen Männern in der Gemeinschaft. An dieser Situation hatte sich Veblens Einschätzung nach bis Ende des 19. Jahrhunderts nichts Wesentliches geändert. Noch immer sei an der Position der Ehefrau ihre frühere Knechtschaft erkennbar. In der modernen Gesellschaft sei die Frau die zeremonielle Konsumentin der Güter geworden, die der Mann produziere. Durch ihre "conspicuos consumption" verdeutliche sie den Wohlstand und die Bedeutung ihres Mannes in der sozialen Hierarchie. Durch den Akt der Konsumtion demonstriere sie gleichzeitig ihren Status als Eigentum des Mannes. Sie konsumiere nicht für sich selbst, sondern für einen anderen, ihren Ehemann. Ihr Schmuck, ihre Kleidung und ihre Einkäufe zeigten seine soziale Position an, während sie nur stellvertretend konsumiere.


Ebert, Anne-Katrin
Anne-Katrin Ebert, Dr. phil., ist Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien.

Anne-Katrin Ebert, Dr. phil., ist Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien.


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