Eberl | Naturzustand und Barbarei | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 552 Seiten

Eberl Naturzustand und Barbarei

Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86854-995-9
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus

E-Book, Deutsch, 552 Seiten

ISBN: 978-3-86854-995-9
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Zuge des Denkmalsturzes ehemaliger Sklavenhalter werden auch westliche Konzepte auf ihren Beitrag zu Rassismus und Unterdrückung hin untersucht. Ein solches Konzept ist der fest im europäischen Denken verankerte Begriff 'Barbarei'. 'Barbarei' ist der zentrale Begriff für die Beschreibung anderer Völker, die seit der Antike die Abwertung anderer Kulturen markiert und immer wieder neu bestimmt wird. In der europäischen Geschichte ist 'Barbarei' auf das Engste mit dem Kolonialismus verbunden und muss somit als dessen Komplize und Erbe verstanden werden. 'Barbarei' steht für das 'Andere' westlicher Ordnung und zivilisierter Werte. Man beklagt damit furchtbare Verbrechen und verurteilt sie als moralisch besonders verwerflich. Zurückgreifen können diese politischen Verwendungsweisen auf eine lange Geschichte theoretischer Konzepte der 'Barbarei'. Obwohl ein enger Zusammenhang zwischen 'Barbarei' und Kolonialismus besteht, ist es bemerkenswert, dass der Begriff im Alltag und in der Theorie weiter verwendet wird - wenn auch in kritischer Absicht. Im Topos der 'Barbarei' vereinen sich über die Zeiten die Gegenbilder verschiedener Wertesysteme: der Vernunft, des Christentums, der Humanität, der Zivilisation, der Kultur oder der Menschenrechte. Wie fand diese theoretische und begriffsgeschichtliche Entwicklung statt? Oliver Eberl hat mit dieser Studie die Dekolonisierung der politischen Theorie zum Ziel, die ihr Denken mit Blick auf den Staat und seine Kritik vielfach von dem Begriffspaar 'Naturzustand und Barbarei' anleiten lässt. Dazu zeichnet er die Theoriegeschichte des Begriffs 'Barbarei' nach. Im Zuge der neuzeitlichen Staatsbegründung wurde 'Barbarei' als Vergangenheit der europäischen Staaten verstanden und Staatlichkeit vor dem Hintergrund der Gefahr des Rückfalls in den 'Naturzustand' theoretisiert. Zentral ist dabei die Verknüpfung mit dem europäischen Kolonialismus, dem 'Barbarei' von der Antike bis zum 20. Jahrhundert zur Abwertung der Kolonisierten diente und der das 'Barbarische' als das Nichtstaatliche mit dem zu Kolonisierenden gleichsetzte. Die seit der Aufklärung vollzogene Wende vom kolonialen zum kritischen Gebrauch sichert den theoretischen Stellenwert des Begriffs bis heute. Diese Wende hat dem Begriff 'Barbarei' einen festen Platz in unserem Denken gesichert, so die These des Autors. In der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten wurde der Begriff dann zum Platzhalter für die Kritik von Menschheitsverbrechen. Dabei wurde verdrängt, dass auch der Kolonialismus ein Menschheitsverbrechen ist und als solches kritisiert werden muss. Eindrücklich verdeutlicht Oliver Eberl, wie fatal es für politische Theoriebildung ist, in kritischer Absicht die Wirkungsgeschichte des Kolonialismus zu verlängern.

Oliver Eberl, PD Dr. phil. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Leibniz-Universität Hannover und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt; vier Semester Vertretung der Professur 'Politische Theorie und Ideengeschichte' an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Demokratietheorie, Gesellschaftstheorie, Ideengeschichte. Ko-Leiter des Projekts 'Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie'.
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I Politische Theorie zwischen Kolonialismus, Staatsbegründung und Staatskritik


Um das Anliegen, einen bisher übersehenen Zusammenhang zwischen der Begründung und der Kritik des Staates zum Kolonialismus erkennbar zu machen, überhaupt durchführen zu können, ist es nötig, die dafür nötige Reflexivität sicherzustellen. Diese stelle ich in vier Schritten her: Zunächst suche ich nach Anschlüssen für die These eines Zusammenhangs von Kolonialismus und Staatsbegründung. Ich gehe von der Annahme aus, dass der Barbareidiskurs Staatsbegründung mit dem Kolonialismus verbindet. Im nächsten Kapitel untersuche ich die Verbindung von Barbareidiskurs und Staatskritik. Auch hier besteht eine Verbindung zum Kolonialismus, die reflektiert werden muss. Wenn Staatskritik und Staatsbegründung als die zwei zentralen Motive politischer Theorie nachweisbar in ihren Grundannahmen von kolonialen Wahrnehmungsmustern geprägt sind, ergibt sich daraus das Anliegen einer »Dekolonisierung politischer Theorie«, die als eine Reflexion und Aufklärung dieser Verbindungen betrachtet wird. Bei dieser Reflexion handelt es sich um interne Perspektive, also um eine Selbstaufklärung, die mit den Mitteln der politischen Theoriegeschichtsschreibung durchgeführt wird. Daher wird anschließend das vorhandene Methodenarsenal von Begriffsgeschichte, Ideengeschichte und Diskursgeschichte / Genealogie gesichtet und auf dieses Projekt bezogen. Es zeigt sich, dass nur eine Kombination aller drei Zugänge, nämlich der zu Ideen, Begriffen und Diskursen, den Erfolg einer Dekolonisierung politischer Theorie verspricht.

Kolonialismus und Staatsbegründung


Wann immer es um die Beziehung nach außen geht, ist in der europäischen Geschichte von »Barbaren« die Rede.1 Insbesondere in imperialen Konstellationen findet der Ausdruck Verwendung,2 was die anhaltende Bedeutung des Topos in der europäischen Geschichte erklärt. Die aristotelische Figur des »Barbaren« als »Sklave von Natur« war eine Rechtfertigung sklavenhalterischer Politik. Auch die Expansion nach Amerika im 16. Jahrhundert wurde von einem Barbareidiskurs begleitet. Alle diese Verwendungen sind gut dokumentiert und untersucht. Seit der Studie von Tzvetan Todorov zur Eroberung Amerikas ist die Bedeutung der Sicht auf den Anderen als »Barbaren« im Bewusstsein verankert.3

Wie jeder wirkmächtige Topos hat sich dabei »Barbarei« als gleichermaßen flexibel und stabil erwiesen. Dies deutet bereits auf die Funktion dieser Bezeichnungen, die als eine Art Platzhalter ein wertendes Urteil transportieren. Seit der Antike ist die Bedeutung des Barbareitopos als »abwertende Beurteilung« und »negatives Werturteil«4 etabliert. »Unmenschlichkeit, Grausamkeit, Rohheit, Wildheit« sind ebenso wie »Gewaltherrschaft«, »Kulturlosigkeit«, »Primitivität« und »Ungesittetheit« die Konnotationen von »Barbarei«, die sich im Deutschen seit dem 13. Jahrhundert entwickelt haben.5 Auf diese stabilen Gehalte gründet auch die immer gleiche politische Funktion des Begriffs als eine asymmetrische Gegenbegrifflichkeit, die die politische Konstellation entscheidend prägt, wie dies Reinhard Koselleck ausgeführt hat.6 Als Gegenbegriff steht er zu unterschiedlichen positiven Selbstbeschreibungen in Verbindung (Hellene, Christ, Humanist, Zivilisierter, Demokrat). »Barbar«/»Barbarei« sind damit ein Begriffspaar, das performativ wirkt und gleichzeitig kontextabhängige variable Gehalte transportiert. Beide Funktionsweisen sind untrennbar miteinander verbunden. Normativ gesehen konnte der Topos damit durch die Abwertung fremder Menschen und Kulturen die Rechtfertigung für die europäische Expansion übernehmen.7

Es ist wichtig, bei dieser Untersuchung einige Unterscheidungen zu machen und Festlegungen zu treffen: »Barbarei« ist der zentrale Begriff. Ich halte »Barbar / ei« für ursprünglicher als den Begriff »Wilde« (»savage«8), der sich zwar gelegentlich in den frühen Quellen findet, aber nicht mit einer eigenen Wortbedeutung belegt ist. Entscheidend ist daher, wie sich der Diskurs in der kolonialen Konstellation von der »Barbarei« hin zur »Wildheit« verschiebt. Dieser Vorgang findet im späten 16. Jahrhundert statt und hat seine Vorläufer in der Wortprägung »barbarische Wildheit«, die sich im römischen Diskurs über die Germanen findet. Daran schließt die mittelalterliche Vorstellung vom Wilden Mann an, der ruhelos in den Wäldern lebt. Eine durchgehende Verwendung von lässt sich meiner Meinung nach erst nach der Ausdifferenzierung des Barbareidiskurses im 16. Jahrhundert nachweisen und wird dann im 18. Jahrhundert von Montesquieu systematisch als »wilde« nomadische Lebensform von der staatlichen »barbarischen« Lebensweise unterschieden. Diesen Nachweis führe ich anhand des wirklichen Auftretens des Wortes. Dabei muss man gegenüber Übersetzungen von alten Texten skeptisch sein, weil diese häufig übersetzen und dann zum Beispiel »savage« mit »primitiv« übersetzen. Dabei handelt es sich um eine klare Anpassung an den heutigen Sprachgebrauch, die dem Autor ein Bewusstsein unterschiebt, das er nicht gehabt haben kann, da »primitiv« erst nach dem Diskurs des 19. Jahrhunderts so verstanden werden kann, wie wir es uns heute gerade versuchen abzugewöhnen.

Es ist für die Untersuchung von größter Bedeutung, dass sich aus diesen kolonialen Unternehmungen auch der ethnologische Vergleich etabliert hat.9 Dabei kommt es darauf an, wie sich aus der Entdeckung Amerikas das europäische Selbstbild als »zivilisiert« herausgebildet hat. Europa war nämlich zunächst überhaupt nicht in der Lage, die Neue Welt tatsächlich als neu zu begreifen. Es griff stattdessen auf die vorhandenen Überlieferungen zurück. Stuart Hall betont, dass Europa versuchte, die Neue Welt in bereits existierende konzeptionelle Rahmenerzählungen einzupassen und es nach seinen eigenen Normen zu klassifizieren.10 Dies bedeutet zunächst einmal, dass Europa den Begriff und die Vorstellung von »Barbaren« ebenso mitbrachte wie seine eigenen Vorstellungen des guten Lebens, des wahren Glaubens und der besten Staatsverfassung. Die sich gerade in Europa herausbildenden Ideen des Humanismus trugen zu einer spezifischen Sichtweise bei, die die Menschlichkeit der neu entdeckten Menschen infrage stellte. Diesen Prozess bestätigt auch das Lexikon

»Das Thema der ›Bestialität‹ des Indianers und alternativ, aber weniger gewichtig, das des ›guten Wilden‹ durchzieht die frühen europäischen Stellungnahmen. Beide Einstellungen sprechen dem Fremden Menschlichkeit ab. Die Achtung vor den Fremdvölkern steigt kaum. Gegen Ende des 16. und im 17. Jahrhundert kommt auch die Bezeichnung ›Wilde‹ für Naturvölker auf. Es ist die erste Allgemeinbezeichnung, die seit dem Worte ›Barbaren‹ für diese Völker gebildet wird.«11

Stuart Hall hat beschrieben, wie sich in diesem Prozess langsam auch das historische Konstrukt des »Westens« formierte, das vorhandene Bilder aufgreift und Ordnungen etabliert. In diesem Zusammenhang bildete sich auch das Bewusstsein von der eigenen Entwicklung heraus.12 Besonders aber fiel dem vergleichenden Blick der Europäer eines auf: die Abwesenheit von allen Formen einer europäischen Regierung und bürgerlichen Gesellschaft unter den Völkern der Neuen Welt.13 Das Selbstbild staatlicher Ordnung bildete sich so vor dem Hintergrund des Prozesses, in dem man sich ein Bild von Amerika machte, für das bekannte Stereotype des Barbareidiskurses entscheidend waren. Bereits hier fand statt, was Dipesh Chakrabarty für die modernisierungstheoretischen Wahrnehmungsmuster beschrieben hat: nämlich außereuropäische Gesellschaften generell unter dem Merkmal des Mangels wahrzunehmen.14

Als schließlich mit den ersten Reiseberichten empirische Quellen der Beschreibung vorlagen, beschäftigten sich europäische Denker mit diesen Berichten.15 Die ersten Berichte des 16. Jahrhunderts sind noch voll von den Bildern und Vorurteilen des Mittelalters: Halbmenschen, Tiere und Menschenfresser, der allein durch die Wälder schweifende Wilde Mann.16 Im ersten Buch über Amerika, einer 1511 erschienenen englischsprachigen Sammlung von Reiseberichten mit dem Titel , wird das Leben in Amerika als schreckliches Dasein ohne Recht und Moral beschrieben, ohne Staat und jegliche Hemmungen, mit ständigem Krieg und Kannibalismus, voller Unmenschlichkeit und Horror.17

Thomas Morus verarbeitet diese Ausgangsbeschreibung in seinem Roman 18 (1516) als Fortschrittserzählung durch Kolonialismus: Erst hätten die Utopier ärmlich in Hütten gelebt und wurden von Utopus erobert. Eintausendsiebenhundertsechzig Jahre nach der Eroberung lebten sie in Wohlstand. Utopus verwandelte die »ungläubigen Wilden« in...



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