E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: DuMont Taschenbücher
Dowlatow Der Koffer
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8321-8486-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: DuMont Taschenbücher
ISBN: 978-3-8321-8486-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sergej taugt nicht zum ordentlichen Kommunisten. Als er endlich die Ausreisegenehmigung bekommt, darf er nur einen Koffer mitnehmen. Einen Koffer für ein ganzes Leben. In New York angekommen, schiebt er ihn schnell unter sein Bett. Dort entdeckt er ihn Jahre später wieder. Er öffnet den Koffer – und die Vergangenheit springt ihn an. Da sind zum Beispiel die hellgrünen finnischen Acrylsocken, mit denen er auf dem Schwarzmarkt nicht reich wurde. Oder die Schuhe, die er dem Parteisekretär geklaut hat …
Die Geschichten um die schäbigen Habseligkeiten im Koffer umreißen Sergejs erstes Leben und lassen die sowjetrussischen Siebziger in ihren allerschönsten Grautönen aufblitzen. Dowlatows »autobiografische Komödie« ist ein einzigartiges, präzise formuliertes Meisterwerk voll hintergründigem Witz und unstillbarer Sehnsucht.
Weitere Infos & Material
DIE FINNISCHEN ACRYLSOCKEN Diese Geschichte trug sich vor achtzehn Jahren zu. Ich war damals Student an der Leningrader Universität. Die Gebäude der Universität befanden sich im alten Teil der Stadt. Die Verbindung von Wasser und Stein erzeugt hier eine ganz besondere, erhabene Atmosphäre. In so einer Umgebung ist es schwer, ein Faulpelz zu sein, doch mir gelang das ganz gut. Es gibt exakte Wissenschaften. Folglich gibt es auch unexakte Wissenschaften. Unter den unexakten Wissenschaften nimmt meines Erachtens die Philologie den ersten Platz ein. So wurde ich Student an der Philologischen Fakultät. Binnen einer Woche verliebte sich ein graziles Mädchen mit importierten Schuhen in mich. Sie hieß Asja. Asja stellte mich ihren Freunden vor. Sie waren alle älter als wir – Ingenieure, Journalisten, Kameraleute. Sogar ein Verkaufsstellenleiter war dabei. Diese Leute waren gut gekleidet. Sie liebten Restaurants und Reisen. Manche besaßen ein eigenes Auto. Sie alle schienen mir damals geheimnisvoll, mächtig und attraktiv. Ich wollte auch zu diesem Kreis gehören. Viele von ihnen sind nachher emigriert. Heute sind sie ganz normale ältere Juden. Das Leben, das wir führten, verursachte beträchtliche Ausgaben. Meistens lasteten diese auf den Schultern von Asjas Freunden. Mir war das über die Maßen unangenehm. Ich weiß noch genau, wie Doktor Logowinski mir einmal unbemerkt vier Rubel zusteckte, während Asja ein Taxi bestellte … Die Menschen lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Es gibt diejenigen, die fragen. Und diejenigen, die antworten. Diejenigen, die Fragen stellen. Und diejenigen, die als Antwort irritiert die Stirn runzeln. Asjas Freunde stellten ihr nie Fragen. Ich hingegen fragte die ganze Zeit: »Wo bist du gewesen? Wen hast du da in der Metro gegrüßt? Woher hast du das französische Parfum? …« Die meisten Menschen halten Probleme, deren Lösung ihnen nicht passt, für unlösbar. Und sie stellen unentwegt Fragen, obwohl sie keine wahrheitsgemäßen Antworten hören wollen … Kurzum, ich führte mich penetrant und dämlich auf. Ich fing an, Schulden zu machen. Sie wuchsen in geometrischer Progression. Im November hatten sie achtzig Rubel erreicht – eine für die damalige Zeit ungeheuerliche Summe. Ich lernte, was ein Pfandleihhaus ist, mit seinen Quittungen und Schlangen, mit seiner Atmosphäre von Kummer und Armut. Wenn ich mit Asja zusammen war, konnte ich das verdrängen. Aber sobald wir uns verabschiedeten, hing der Gedanke an die Schulden über mir wie eine Wolke. Ich erwachte jeden Morgen mit einem Gefühl von Unheil. Ich brauchte Stunden, um mich zum Anziehen zu zwingen. Ich plante ernsthaft, ein Juweliergeschäft zu überfallen. Ich kam zu der Überzeugung, dass die Gedanken eines verliebten Hungerleiders immer kriminell sind. Unterdessen hatten meine akademischen Leistungen merklich nachgelassen. Asja war schon vorher eine schlechte Studentin. Im Dekanat fing man an, über unsere moralische Verfassung zu reden. Ich habe Folgendes beobachtet: Wenn ein Mensch verliebt ist und Schulden hat, wird seine moralische Verfassung zum Gesprächsgegenstand. Kurzum, es war alles ganz furchtbar. Eines Tages durchstreifte ich die Stadt auf der Suche nach sechs Rubeln. Ich musste unbedingt meinen Wintermantel in der Pfandleihe auslösen. Und da begegnete ich Fred Kolesnikow. Fred rauchte, mit dem Ellbogen auf den Messing-Handlauf des Delikatessengeschäfts Jelissejewski gestützt. Ich wusste, dass er ein Schwarzhändler war. Asja hatte uns irgendwann mal bekannt gemacht. Er war ein großer Kerl, etwa dreiundzwanzig Jahre alt, mit ungesunder Hautfarbe. Während wir uns unterhielten, strich er sich immer wieder nervös die Haare glatt. Ohne viel nachzudenken, ging ich auf ihn zu: »Können Sie mir nicht vielleicht bis morgen sechs Rubel geben?« Wenn ich mir Geld lieh, behielt ich immer einen beiläufigen Tonfall, damit die Leute einfacher ablehnen konnten. »Na sicher«, sagte Fred und holte eine kleine, quadratische Brieftasche hervor. Ich bereute schon, dass ich nicht um mehr gebeten hatte. »Nehmen Sie ruhig mehr«, sagte Fred. Ich protestierte wie ein Depp. Fred musterte mich neugierig. »Kommen Sie, wir gehen was essen«, sagte er. »Das geht auf mich.« Er hatte ein schlichtes, ungekünsteltes Auftreten. Ich habe Leute immer beneidet, die das fertigbringen. Wir gingen drei Häuserblöcke weiter zum Restaurant Tschaika. Der Saal war menschenleer. Die Kellner rauchten an einem der kleinen Seitentische. Die Fenster standen weit auf. Die Vorhänge flatterten im Wind. Wir wollten ganz nach hinten in die Ecke gehen. Aber da wurde Fred von einem Jüngling mit silberner Polyesterjacke aufgehalten. Es entspann sich ein einigermaßen rätselhaftes Gespräch: »Ich grüße Sie.« »Habe die Ehre«, erwiderte Fred. »Und?« »Nichts.« Enttäuscht zog der Jüngling leicht die Augenbrauen hoch: »Überhaupt nichts?« »Absolut nichts.« »Ich hatte Sie doch gebeten.« »Es tut mir sehr leid.« »Aber kann ich noch damit rechnen?« »Auf jeden Fall.« »Im Verlauf der Woche wäre gut.« »Ich bemühe mich.« »Können Sie es mir garantieren?« »Kann ich nicht. Aber ich bemühe mich.« »Ist es Markenware?« »Natürlich.« »Also dann rufen Sie an?« »Ganz bestimmt.« »Wissen Sie meine Nummer noch?« »Leider nein.« »Notieren Sie sie bitte.« »Mit Vergnügen.« »Obwohl man das eigentlich besser nicht am Telefon bespricht.« »Stimmt.« »Vielleicht kommen Sie direkt mit der Ware vorbei?« »Gerne.« »Wissen Sie die Adresse noch?« »Ich fürchte, nein …« Und so weiter. Wir gingen nach hinten in die Ecke. Auf der Tischdecke hoben sich deutliche Linien vom Bügeleisen ab. Die Tischdecke war rau. Fred sagte: »Schauen Sie sich diesen Lackaffen an. Vor einem Jahr hat er einen Posten Delbanas mit Kreuz bestellt …« Ich unterbrach ihn: »Was sind denn Delbanas mit Kreuz?« »Uhren«, antwortete Fred, »aber egal … Ungefähr zehnmal habe ich ihm die Ware mitgebracht – er wollte immer nicht. Jedes Mal eine neue Ausrede. Kurz und gut, er hat sie einfach nicht genommen. Ich dachte immer, was soll der Schwachsinn? Und plötzlich ist mir aufgegangen, dass er meine Delbanas mit Kreuz gar nicht KAUFEN will. Er will sich als businessman fühlen, der einen Posten Markenware braucht. Er will mich andauernd fragen: ›Was ist jetzt mit meiner Ware?‹ …« Die Kellnerin nahm unsere Bestellung entgegen. Wir steckten uns eine Zigarette an, und ich erkundigte mich: »Könnte man Sie nicht einbuchten?« Fred dachte darüber nach und erwiderte gelassen: »Das ist nicht ausgeschlossen.« »Die eigenen Leute können einen verraten«, fügte er ohne Bosheit hinzu. »Vielleicht sollten Sie besser aussteigen?« Fred runzelte die Stirn. »Früher hab ich mal in einer Speditionsabteilung gearbeitet. Von neunzig Rubel im Monat gelebt …« Da richtete er sich plötzlich auf und rief: »Das ist so was von mickrig!« »Das Gefängnis ist auch nicht besser.« »Was soll ich denn machen? Ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Mich für neunzig Rubel krumm arbeiten – nein, danke … Na gut, ich würde vielleicht in meinem ganzen Leben zweitausend Buletten essen. Fünfundzwanzig dunkelgraue Anzüge auftragen. Siebenhundert Nummern der Zeitschrift ›Ogonjok‹ durchblättern. Und das war’s dann? Dann krepier ich, ohne einen Kratzer auf der Erdkruste zu hinterlassen? … Da leb ich lieber bloß eine Minute, dafür aber ordentlich! …« In dem Moment kam unser Essen und der Schnaps. Mein neuer Freund philosophierte weiter: »Vor unserer Geburt ist ein Abgrund. Und nach unserem Tod ist ein Abgrund. Unser Leben ist bloß ein Sandkorn im gleichgültigen Ozean der Unendlichkeit. Also lassen wir uns wenigstens den Augenblick nicht durch Trübsal und Langeweile vermiesen! Versuchen wir, einen Kratzer auf der Erdkruste zu hinterlassen. Abrackern kann sich Otto Normalverbraucher. Heldentaten vollbringt der sowieso keine. Der begeht nicht mal ein Verbrechen …« Ich hätte Fred beinahe angeschrien: »Als wenn Sie Heldentaten vollbringen würden!« Aber ich hielt mich zurück. Immerhin trank ich auf seine Kosten. Wir saßen etwa eine Stunde in dem Restaurant. Dann sagte ich: »Ich muss los. Die Pfandleihe macht zu.« Aber da machte Fred Kolesnikow mir einen Vorschlag: »Wollen Sie mein Teilhaber werden? Ich arbeite vorsichtig, Devisen und Gold nehme ich nicht. Sie bringen Ihre finanziellen Angelegenheiten in Ordnung, und außerdem können Sie auch wieder abspringen. Also, schlagen Sie ein … Jetzt trinken wir erst mal einen und morgen besprechen wir alles …« Tags darauf dachte ich, mein Bekannter würde sein Versprechen nicht halten. Aber Fred kam bloß zu spät. Wir trafen uns an dem kaputten Springbrunnen vor dem Hotel Astoria. Dann schlugen wir uns in die Büsche. Fred sagte: »Gleich kommen zwei Finninnen mit Ware. Nehmen Sie ein Taxi und fahren Sie mit denen zu dieser Adresse … Wir sind wohl noch per Sie?« »Per du natürlich, wozu die Umstände?« »Also nimm dir ein Auto und fahr zu dieser Adresse.« Fred steckte mir einen Fetzen Zeitungspapier zu und fuhr fort: »Rymar wird dich reinlassen. Er ist ganz leicht zu erkennen. Rymar hat eine idiotische Visage und einen orangen Pullover. Zehn...