Buch, Deutsch, Band 73, 169 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 246 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
Eine Theorie soziotechnischer Transformation
Buch, Deutsch, Band 73, 169 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 246 g
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
ISBN: 978-3-593-39500-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Neue Kommunikationstechnologien, Internet, Gentechnik – drei Beispiele, die zeigen, dass Technik ein wesentlicher Faktor des Wandels moderner Gesellschaften ist. Wann, warum und wodurch können neue Technologien bestehende Strukturen und Regeln destabilisieren und soziale Veränderungen anstoßen? Wie lassen sich technikinduzierte Wandlungsprozesse soziologisch analysieren und erklären? Ulrich Dolata untersucht, wie neue Technologien auf gesellschaftliche Akteure und Sektoren treffen und wie diese sich schrittweise neu ausrichten und zum Teil radikal verändern müssen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Globalisierung, Transformationsprozesse
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Sozialisation, Soziale Interaktion, Sozialer Wandel
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Wandel durch Technik: Eine Einführung. 9
Kapitel 2
Technik und Sektor. 17
2.1 Wirtschaftssektoren als soziotechnische Felder. 17
2.2 Feldvermessung: Sektorale Funktionselemente. 20
2.3 Das Feld als Ganzes: Sektorale Regulationsmuster. 33
Kapitel 3
Typen von Innovationen und soziotechnischer Wandel. 35
3.1 Ausgangspunkte: Typen und Wirkungen von Innovationen. 36
3.2 Annäherungen: periods of mismatch und transition pathways. 38
3.3 Präzisierungen: Eingriffstiefe, Adaptionsfähigkeit, graduelle Transformation. 40
Kapitel 4
Neue Technologien und ihre sektorale Eingriffstiefe. 45
4.1 Strukturierungsleistungen von und Transformationsimpulse durch Technik. 45
4.2 Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge: Endogene und exogene Technologien. 55
4.3 Variante I: Geringe Eingriffstiefe neuer Technologien. 58
4.4 Variante II: Große Eingriffstiefe neuer Technologien. 61
4.5 Technologische Eingriffstiefe als forschungspragmatisches Konzept. 68
Kapitel 5
Neue Technologien und sektorale Adaptionsfähigkeit. 75
5.1 Brückenschlag: Technologische Transformationsimpulse und ihre sektorale Verarbeitung. 75
5.2 Variante I: Adaptionsunfähigkeit. 79
5.3 Variante II: Proaktive Adaptionsfähigkeit. 94
5.4 Variante III: Machtbasierte Adaption. 111
5.5 Adaptionsfähigkeit als forschungspragmatisches Konzept. 117
Kapitel 6
Neue Technologien und sektorale Transformation. 123
6.1 Brückenschlag: Eingriffstiefe, Adaptionsfähigkeit, Transformation. 123
6.2 Sukzessive Veränderungen und substanzieller Wandel: Empirische Hinführungen. 125
6.3 Zwischen Kontinuität und Bruch: Institutionalistische Angebote zur Beseitigung eines blinden Flecks. 131
6.4 Radikaler Wandel als graduelle Transformation: Eigenheiten und Varianten soziotechnischer Umbrüche. 134
6.5 Graduelle Transformation als forschungspragmatisches Konzept. 150
Abbildungen. 155
Literatur. 157
Kapitel 1
Wandel durch Technik: Eine Einführung
I.
Technik ist ein konstitutiver Bestandteil jeder modernen Gesellschaft. Als Artefakte, Großanlagen oder technische Infrastrukturen, als Programme, Methoden oder Verfahren ermöglicht und prägt sie soziale Zusammenhänge der unterschiedlichsten Art. Kein Industriezweig, kein Produktionsprozess oder Dienstleistungsangebot, keine Finanztransaktion, kein Verwaltungsablauf, kein Verkehr, kein Kommunikationsprozess, kein Krieg, kaum ein alltäglicher Vorgang wäre ohne Technik überhaupt oder auch nur annähernd in der gewohnten Form möglich. Technik greift tief in soziale Gegebenheiten der unterschiedlichsten Art ein, strukturiert und regelt sie. Das reicht von privat genutzten GPS-Systemen, deren Anordnungen sich die Autofahrerinnen und Autofahrer fasziniert ausliefern, über industrielle Produktions- oder Logistikprozesse, die maßgeblich um die eingesetzten Technologien herum organisiert werden, bis zu computergesteuertem Aktien- und Devisenhandel, der mittlerweile die Bewegung auf den weltweiten Finanzmärkten entscheidend mitprägt. Technik ist fraglos ein zentrales Struktur- und Regelungselement moderner, insbesondere der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.
Seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre verändern sich die technologischen (und wissenschaftlichen) Grundlagen dieser Gesellschaften rasant. Das liegt in erster Linie an all jenen digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, die seit der Einführung der ersten, aus heutiger Sicht extrem funktionsschwachen und störanfälligen Personal Computer in schneller Folge das Licht der Welt erblicken, dabei immer leistungsstärker, multifunktionaler und vernetzter werden und sich mit außerordentlicher Dynamik in alle Bereiche der Gesellschaft verbreiten. Das Internet ist nur das prominenteste Beispiel einer Vielzahl radikaler Innovationen, die in diesem weit gefassten Technologiecluster in den vergangenen drei Jahrzehnten hervorgebracht worden sind und die neben unserem alltäglichen Leben weite Teile der industriellen Produktion und den Dienstleistungssektor, die Banken, Versicherungen und Finanzmärkte, die staatliche Verwaltung und das Wissenschaftssystem nachhaltig verändert haben. Daneben hat sich im selben Zeitraum mit den neuen Biotechnologien ein zweites größeres Technologiefeld etabliert, mit deren Methoden und Verfahren gezielte Rekombinationen biologischen Materials möglich geworden sind. Die Radikalität dieser neuen Möglichkeit, in die menschliche und außermenschliche Natur einzugreifen, steht der Digitalisierung nicht nach. Ihr Verwendungsbereich ist allerdings erheblich enger: Neue Biotechnologien haben sich seit Mitte der 1970er-Jahre vor allem in der Medizin, als neue Werkzeuge der Pharmaforschung und in Gestalt neuer gentechnisch hergestellter Therapeutika, Impfstoffe und Diagnostika etabliert. Daneben haben sie auch in der Agrochemie, Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion größere Bedeutung erlangt. Beides - die Digitalisierung der Gesellschaft durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien und die gezielte Rekombination der Natur mithilfe neuer Biotechnologien - sind die wesentlichen Signaturen eines einschneidenden wissenschaftlichen und technologischen Umbruchs, der vor gut drei Jahrzehnten begonnen hat und dessen Ende noch immer nicht absehbar ist.
Entwicklungen aus diesen beiden wichtigen Technologiefeldern werden im Laufe dieses Buches daher vor allem dann vorgebracht, wenn anhand von Beispielen konkretisiert werden soll, wie man sich gesellschaftlichen Wandel durch Technik, konkreter: substanzielle organisationale, strukturelle und institutionelle Veränderungen vorzustellen hat, die durch neue Technologien angestoßen, zum Teil auch erforderlich werden. Denn auch dies lässt sich kaum übersehen: Technik ist nicht bloß ein wichtiges Strukturmerkmal moderner Gesellschaften.
Grundlegend neue Technologien sind auch ein wesentlicher Einflussfaktor ihres Wandels und können einen beträchtlichen Veränderungsdruck auf ihre Akteure, Strukturen und Institutionen entfalten.
Neue Technologien spielen nicht nur bei der Neustrukturierung bestehender oder der Entstehung neuer Märkte eine entscheidende Rolle, die sie mit ihren Eigenheiten oft maßgeblich prägen - man denke nur an die Wirkungen von Digitalisierung, Datenkomprimierung und Internet auf die Musikindustrie oder auf andere Mediensektoren. Sie sind auch unabdingbare Grundlage und Auslöser größerer Umbrüche in der Struktur und Organisation von Produktionsprozessen, von Dienstleistungen oder von ganzen Wirtschaftssektoren (in den vergangenen Jahrzehnten zum Beispiel des Telekommunikations-, des Pharma- oder des Musiksektors). Häufig müssen bestehende rechtlich-regulative Rahmenbedingungen an den Eigenheiten der neuen Technologien grundsätzlich neu ausgerichtet oder gänzlich neu formuliert werden (wie zum Beispiel das Urheberrecht an die Digitalisierung und das Internet oder die Entwicklung eines eigenständigen Gentechnikrechts für die biotechnologische Forschung und Produktion). Darüber hinaus kommen mit ihrer Entwicklung und Nutzung regelmäßig auch die involvierten Akteure und deren Beziehungen zueinander in Bewegung. Oft werden neue technologische Möglichkeiten zunächst von Newcomern oder Quereinsteigern (wie Microsoft und Intel oder in jüngerer Zeit Amazon und Apple) aufgegriffen, die damit bestehende Konkurrenzverhältnisse aufmischen und etablierte Akteure unter einen erheblichen Druck setzen können, sich rund um die neuen Technologien strategisch und organisational neu zu positionieren. Gleichzeitig sind neue Technologien häufig derart komplex, dass sich ihre Entwicklung, Produktion und Nutzung nicht mehr von einzelnen Organisationen allein bewältigen lässt, sondern die Etablierung und systematische Nutzung neuer Formen von Kooperation nicht einfach nur ermöglicht, sondern regelrecht erzwingt (wie zum Beispiel die Biotechnologie im Pharmasektor).
Schließlich verändern neue Technologien auch das alltägliche Leben: Das waren früher zum Beispiel Haushaltsgeräte (Waschmaschine, Kühlschrank usw.) und sind heute vor allem informations- und Kommunikationstechnische Angebote (wie Smartphones, Netbooks, Internet), durch die sich neue Kommunikations-, Lebens- und auch Konsumstile ausprägen. Man muss also nicht bis zur industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgehen, die im Kern eine soziotechnische Revolution war, um zu sehen, dass einschneidende technologische Umbrüche ein entscheidender Einflussfaktor und Impulsgeber gesellschaftlicher Transformation sind. Das bedeutet keinesfalls, dass neue Technologien zunächst sozial konstruiert, geformt und gehärtet werden und erst dann, wenn sie fertig sind, in einer dann eindeutigen, alternativlosen Weise verändernd in soziale (ökonomische, politische, zivilgesellschaftliche)
Zusammenhänge eingreifen. Wandel durch Technik ist alles andere als deterministisch: Er ist weder ein linearer, in eine Richtung verlaufender Prozess, noch ein Vorgang mit einem vorab bestimmbaren Ergebnis.
Am Beginn einer größeren soziotechnischen Umbruchperiode stehen in aller Regel kaum mehr als unfertige Skizzen: grundlegende, mit großen Erwartungen und Visionen belegte, aber noch vergleichsweise vage neue technologische Möglichkeiten und große Unklarheiten darüber, welche sozialen Konsequenzen sie haben könnten. Entsprechend tastend und erratisch verläuft die Suche sowohl nach geeigneten Anwendungen und Weiterentwicklungen eines neuen Technologiefeldes selbst als auch nach dazu passenden Organisationsmustern, Strukturen und Institutionen. Im Verlauf einer solchen Umbruchperiode gibt es keine einseitige Anpassung sozialer Verhältnisse an eindeutig bestimmbare technologische Erfordernisse. Auch die Technologien, um die es geht, werden weiterentwickelt, verfeinert, bisweilen auch revidiert oder grundlegend modifiziert.
Am Ende eines solchen nicht selten ein, zwei oder drei Jahrzehnte dauernden soziotechnischen Such- und Selektionsprozesses können die organisationalen, sozioökonomischen und institutionellen Transformationen außerordentlich sein - die Technologien, die diese Veränderungen angestoßen beziehungsweise erforderlich gemacht haben, haben sich in dieser Zeit ähnlich gravierend verändert und ähneln schließlich kaum noch jenen Skizzen, mit denen lange vorher alles begonnen hatte.