E-Book, Deutsch, 365 Seiten, GB
Reihe: Oktaven
Desarthe Die Chance ihres Lebens
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7725-4415-6
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 365 Seiten, GB
Reihe: Oktaven
ISBN: 978-3-7725-4415-6
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Hector hatte eine Frau. Sie hieß Sylvie. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn. Sein Name war Lester … " Dieses Trio wird eine Zeitlang in den USA leben. Alles kann sich da verändern. Oder nichts. – Ein psychologisch fein gesponnener, ironisch getönter Roman voller origineller Alltagsszenen über das Leben in der Fremde und das zu entdeckende Land in uns selbst.
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Erster Teil Zweiter Teil Dritter Teil Vierter Teil Danksagung
Der Container war auf einem Laster abgesetzt worden. Der LKW war bis zum Haus gefahren. Männer, die stark nach Aftershave rochen, hatten die Kartons im living room abgestellt. Diese Bezeichnung hatten sie benutzt: living room. Die einzigen zwei Wörter, die Sylvie im diffusen Durcheinander ihrer Sätze wiedererkannt hatte. Sie spricht Englisch. Zumindest hat sie die Sprache auf dem Gymnasium gelernt. Aber jetzt, wo sie sich eventuell für ein Jahr in einem Land niederlässt, in dem dieses Idiom in Umlauf ist, wird ihr klar, dass ihre Sprachkenntnisse sehr eingeschränkt sind. Ihr kommt die Idee, dass zwischen der Sprache, die sie zu beherrschen glaubt, und der, die man hier spricht, derselbe Unterschied besteht wie zwischen einer nicht mehr ganz jungen Frau kurz nach dem Aufwachen, die ein ausgeleiertes Nachthemd und die zu großen Pantoffeln ihres Mannes trägt, und derselben Frau, nun geschminkt, frisiert und in Pumps. Sie fragt sich, welcher der zwei Frauen das Englische gleicht, das sie damals auf dem Gymnasium gelernt hat. Sie ist sich nicht sicher, ob die Metapher funktioniert. Sie fragt sich auch, ob zur Beschreibung ihrer Tagträumereien Metapher überhaupt das richtige Wort ist. Ihr Blick fällt auf das Packmaterial, das deutlich anspruchsvoller ist als bei einem gewöhnlichen Umzug. Sie denkt, dass Lester zehn Jahre früher diese riesigen Kartons dazu verwendet hätte, sich eine Burg zu bauen. Er spielt nicht mehr. Er ist groß. Was macht er dann? Sie bezweifelt, dass sie eine Antwort auf diese Frage findet. Was machen sie denn eigentlich, die Jugendlichen? Man hört so schreckliche Geschichten über sie. Zwischen dreizehn und einundzwanzig drehen sie so leicht durch. Darüber hat sie Artikel gelesen. Und Bücher. Die Autoren sind der einhelligen Meinung, dass die Eltern, und insbesondere die Mütter, sich mit ihnen nicht besonders geschickt anstellen. Sie hat beschlossen, sich um nichts zu kümmern. Sie hat sich schon früh geweigert und sie bleibt damit auf Kurs. Wieder der Glaubenssatz des Nicht-Handelns, noch mal der. Sie hat mehr oder weniger beschlossen, die Großmutter ihres Sohnes zu sein. Die Idee kam nicht von ihr, sondern von einer Frau im Bus. Lester musste etwa drei Jahre alt gewesen sein. In der Linie 75 hielten sich beide, Sylvie und er, an der Hand. «Sag mal, kleiner Mann», so wandte sich die Dame an Lester, «du hast aber Glück mit einer so jungen Oma.» Sylvie hatte das Für und Wider gegeneinander abgewogen: eine junge Oma, eine alte Mutter. Lester hatte nicht protestiert. Er hatte nicht versucht, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Immer höflich, so unglaublich höflich. Sylvie hatte gedacht, dass vielleicht auch er es lieber so gehabt hätte. Mit seiner jungen Oma durch die Stadt zu gondeln. Natürlich belog Sylvie die Verwaltung nicht. Auf den Formularen, die für die Schule oder die Stadtverwaltung auszufüllen waren, blieb sie bei der Wahrheit. Nur bei informellen Begegnungen, in der Grünanlage, im Theater, gegenüber Unbekannten, die sie nie wiedersehen würde, griff sie auf diese Fassung ihres Verwandtschaftsverhältnisses zurück. Sie bezeichnete Lester nicht als «meinen Sohn», sie sagte «mein Kleiner» oder «mein Junge», manchmal sogar «mein Großkind». Dabei brachte sie ein kaum wahrnehmbares Stocken zwischen Adjektiv und Nomen unter: «Groß», Zweiunddreißigstelpause, «Kind». Das vermittelte ihr das Gefühl, weniger Verantwortung zu tragen. Sie konnte sich damit zufriedengeben, ihn zu beobachten, statt sich mit seiner Erziehung abzumühen. Aber die Beobachtung wurde immer schwieriger. Sie fürchtete, indiskret zu sein, und vor allem hatte sie, obwohl sie ihn ständig oder beinahe ständig im Auge behielt und er nichts Besonderes vor ihr zu verbergen schien, doch das Gefühl, ihn aus dem Blick zu verlieren. Entfernte er sich von ihr? Oder sie sich von ihm? Ein Teenager eben. Diese Teenager. Furchtbar. Sie nahmen Drogen, sie tranken, sie starben, sie verunstalteten sich, saßen plötzlich im Rollstuhl, erstachen ihre besten Freunde mit einem Messer oder erschossen sie, opferten sich auf, hörten ganz auf zu essen, sprangen aus dem Fenster oder von einer Klippe. Teenager. In ihrer Jugend auf dem Land war das anders gewesen. Es gab nicht einmal das Wort. Niemand sprach von Teenagern. Auf der einen Seite standen die Kinder, auf der anderen die Erwachsenen. Zwischen diesen beiden Gruppen erstreckte sich eine namenlose Zone, die damit auch keine spezifischen Probleme barg. Es war trotzdem doch idiotisch, so darüber zu denken, überlegte Sylvie und schimpfte mit sich, wie es so ihre Gewohnheit war. Idiotisch, zu meinen, dass damals, nur weil man das Wort «Teenager» nicht aussprach, keine Teenager existiert hätten, dass sie nicht litten und kein Leiden verursachten. Dennoch war an dieser Sichtweise etwas durch und durch Wahres, so schien ihr. Sie entsprach ganz einfach der Erinnerung, die sie an die Vergangenheit bewahrte. An ihre Vergangenheit. An das Leben mit ihrem Vater in den Bergen, an ihren Körper, ihre Knie, ihre Beine, die gerade waren, bevor sie ihre Form veränderten, bevor sie kurvig wurden, an ihren Bauch, der flach und nicht von ihrem Oberkörper zu unterscheiden gewesen war, bis sich zwischen Becken und Brustkorb eine Taille herausbildete. Diese Veränderungen fanden statt. Man sprach nicht darüber. Von heute auf morgen hörten die Älteren auf, einen anzuschreien. Diese Älteren hörten auch auf, einem die Haare zu zerzausen, einem in die Wange zu kneifen oder einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Fast gleichzeitig verlor man das, was schlecht war, wie auch das, was gut gewesen war. Einen Übergang gab es nicht. Man schloss zu den oberen Rängen auf. Niemand hatte einen vorgewarnt. Sie erinnert sich auch an den Hexenkessel, oder Kochtopf. Hexenkessel war das treffende Wort, der richtige Begriff. Wegen des Bezuges auf die Hexen, den Teufel, das Böse ganz allgemein. Etwas brüllend Heißes im Inneren, das mit einem schweren Deckel verschlossen wurde. Das permanente Hin und Her der Zellen. Das Blut schien gegen seinen eigenen Strom zu schwimmen und den Hals, die Wangen zu überfluten, wenn es gar nicht passte. Stiche in der Brust. Lustgefühle, auch sie namenlos. Nicht unbenennbar, aber nicht benannt, als sei das Kauderwelsch der ersten Lebensmonate nie überwunden worden. Berühren, sich berühren, berührt werden. Ach! Wie gut sie sich erinnerte. Und deshalb spähte sie aus, deshalb spionierte sie. Unter dem Hexenkessel ihres Sohnes brannte kein Feuer. Er war ein Junge. Vielleicht waren Jungen da anders. Er hatte keine kritische Wachstumsphase gehabt, war für sein Alter immer noch klein. Er sah sie unverwandt mit seinen großen und schönen grünen Augen an, die die Farbe eines Bergsees hatten, mit einem Schimmer Türkis, wenn das Licht schwächer wird. Die Offenherzigkeit seines Blickes. «Absalom, was ist das für ein Name? Wo hast du dir den denn gesucht?» Sie wollte mit ihm über seine Bücher reden. Er hatte William Faulkner gelesen. Warum auch nicht? Es war nichts Schlechtes daran, Faulkner zu lesen. Aber warum es nicht sagen? Warum lügen? Lester hatte die krankhafte Angewohnheit, dümmer erscheinen zu wollen, als er wirklich war. Was hatte er davon? «Der kommt in einem Zeichentrickfilm vor.» «Was für ein Zeichentrickfilm? Du guckst doch in deinem Alter keine Zeichentrickfilme mehr?» «Doch. Nein. Das war ein Zeichentrickfilm, als ich klein war, mit Eidechsen. Mit drei Eidechsen. Einer einäugigen namens Victor, einer bärtigen, die Ingmar hieß, und einer dritten mit Hut, deren Name war Absalom.» «Eine Eidechse mit Bart?» «Sylvie, es ist ein Zeichentrickfilm.» «Nenn mich Mama.» Er hatte ihr sein Lächeln zugeworfen, sein breites Lächeln, das vor Güte triefte. Sylvie hatte das Gefühl, die meisten Menschen versuchten, und sei es unbewusst, es so anzustellen, dass die anderen eine hohe Meinung von ihnen bekamen. Lester neigte zum Gegenteil. Er brachte sich zum Verschwinden, machte sich klein, machte sich zum Blödmann. Als er noch jünger war, hatte er Freunde, die ausgesprochen schwierig waren. Die Sorte, die ihre Popel essen, während sie mit einem reden. Als sie dann acht oder neun waren, wurde es doch etwas eklig. Rémi war das stolzeste Exemplar der Bande. Er nuckelte nachts noch am Daumen, was an der Stellung der Zähne und der Verformung der Lippe zu erkennen war. Das Maul einer Kuh, dachte Sylvie, die sich ein wenig schuldig dabei fühlte, so über ein Kind zu urteilen, das vielleicht Probleme hatte. Jedes Mal, wenn er bei ihnen eingeladen war, fragte er: «Wo sind die Toiletten?» Anfangs hatte Sylvie Mitleid empfunden und geantwortet: «Im Flur, mein Spatz, gleich neben dem Badezimmer.» Aber beim sechsten Mal reichte es ihr und sie erwiderte mit schneidender Stimme: «An derselben Stelle wie letztes Mal!» Rémi hatte sich nicht vom Fleck gerührt, die Hände am Hosenlatz. Er hätte im Flur Pipi gemacht. Zu seinem Glück war ihm Lester zu Hilfe geeilt. Mit den Worten:...