E-Book, Deutsch, 133 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Dawidowski Literarische Bildung
Originalausgabe 2021
ISBN: 978-3-15-961967-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
[Bildung und Unterricht] - Dawidowski, Christian - Impulse für den Literatur-Unterricht - 14191
E-Book, Deutsch, 133 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-961967-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Dawidowski , geboren 1971 im Ruhrgebiet. Promotion 1999 an der Ruhr-Universität Bochum in der Literaturwissenschaft nach dem Studium der Fächer Deutsch und Philosophie, 1999-2001 Referendariat, 2001-2004 Studienrat an einem Iserlohner Gymnasium. 2004-2008 abgeordnet zum Zwecke der Habilitation an die Universität Siegen. 2008 Habilitation. 2008-2010 als Oberstudienrat tätig für die Bezirksregierung Arnsberg und das Schulministerium NRW. Seit 2010 Professor für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück.
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2 Systematische Betrachtung: »Bildung« und »Literatur« im gesellschaftlich-schulischen Zusammenhang
Trotz der oben genannten Vorbehalte gegenüber dem traditionell geprägten Bildungsbegriff spielt »Bildung« eine enorme Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft. Für diese Annahme spricht nicht nur die Flut an Quiz-Shows, in denen das maschinell erscheinende Präsentieren von abseitigem und unvernetztem – also gewissermaßen »totem« – Wissen zum Ausweis von sozialem Erfolg und Ansehen wird. Auch das Vorhandensein von »Bildungszertifikaten« (Zeugnissen, Abschlüssen) wird offensichtlich immer wichtiger in einer Leistungsgesellschaft, in der das fehlende Abitur das soziale Scheitern (Stichwort: Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg) in den Augen vieler Eltern bereits vorprägt. In Ländern mit relevanter Grundschulempfehlung nach der vierten Klasse ist die Erwartungshaltung von Eltern enorm – jenseits der Gymnasialempfehlung gibt es da häufig keine Alternativen. Auch das 19. Jahrhundert kannte solche Auswüchse, um hier noch einmal an historische Tatbestände zu erinnern. Gerade im Kaiserreich entdeckt man viele Ähnlichkeiten zum gegenwärtigen Bildungssystem: den Leistungsdruck, die soziale Distinktion über Abschlüsse, die Bedeutung des Abiturs, die Bedeutung des »toten« Wissens (z. B. die Zitatkultur). Der durch das gymnasiale Schulsystem aufgebaute Druck führte um die Jahrhundertwende gar zu einem großen Anstieg an Schülerselbstmorden (Vergleichbares hören wir heute aus asiatischen Ländern), wovon zahlreiche Schulromane der Zeit Zeugnis ablegen: Robert Musils , Hermann Hesses , Heinrich Manns , Emil Strauß’ [37], Friedrich Torbergs , Rilkes Erzählung und andere mehr.
Welche Vorstellungen von »Bildung« kursieren also heute in unserer Gesellschaft – und auf welche Weise werden Schule und Lehrerschaft damit konfrontiert? Interessant scheint die Betrachtung zweier eigentlich nicht miteinander vergleichbarer Studien zu Bildungserwartungen und Bildungsvorstellungen bei Eltern und SchülerInnen, vor allem auch im Hinblick auf den Zusammenhang von »Bildung« und Gegenständen wie Literatur, Philosophie, Musik und Religion, die in der im ersten Kapitel nachgezeichneten, bei Herder beginnenden Linie solch eine dominante Rolle spielten. Beide Studien sind im Jahr 2011 erschienen und bilden somit eine schulische Wirklichkeit ab, die bereits deutlich von Reformbewegungen nach PISA beeinflusst ist.
Carsten Rohlfs (2011) untersuchte Bildungseinstellungen bei SchülerInnen der Mittelstufe (alle Schulformen, Jg. 7–9, n = 1700). Sein Ziel war, mit Hilfe von Fragebögen eine Typologie der Bildungseinstellungen zu erstellen, also die subjektive Bedeutung von Schule und schulischer Bildung bei Jugendlichen zu eruieren. Dies ist angesichts des noch geringen Reflexionsgrades in diesem Alter kein leichtes Unterfangen. Er erfragte Positionen wie Schulnoten, Selbsteinschätzung, Schulangst, auch das kulturelle Kapital der Familie. Dabei zeigte sich Erwartbares: etwa 70 % lernen für den Lehrer, 50 %, weil es verlangt wird (Mehrfachnennungen möglich); der Schulabschluss nimmt einen enormen Stellenwert ein (für 90 %). Rohlfs (vgl. Rohlfs 2011, 321 ff.) klassifiziert 60 % der deutschen SchülerInnen als (sie tun das Nötigste, um das zu erreichen, was verlangt wird, der Elterndruck ist hier hoch, Lesen oder Musik spielen im Leben keine Rolle, es gibt kaum spezifische Interessen an Schulfächern oder ihren Inhalten), dem gegenüber steht eine Minderheit von 12 % (oft Mädchen mit Migrationshintergrund), die Rohlfs als bezeichnet (dies sind oft LeserInnen, denen auch das Fach Deutsch sehr wichtig ist). Den Rest von etwa 28 % etikettiert Rohlfs als oder (oft männlich, das Fach Deutsch spielt bei ihnen keine Rolle).
Auch wenn sich bei Jugendlichen dieses Alters noch vieles bewegen und umorientieren wird, entspricht diese quantitative Aufteilung sicherlich dem subjektiven Eindruck der meisten erfahrenen Lehrpersonen. Sie dokumentiert ein hohes Maß an Pragmatismus und Formalismus, die wahrscheinlich auch (neben dem Reifegrad der Pubertierenden) dem Selektionszwang des deutschen Schulsystems geschuldet sind. Offensichtlich gelingt es zumindest in der Mittelstufe kaum, SchülerInnen für Fachinhalte zu begeistern, und »klassische Bildungsthemen«, zu denen auch der Umgang mit Literatur gehört, sind (noch) nicht im Horizont der Jugendlichen angekommen. Auch die deutschdidaktische Forschung, die sich mit literarischen Sozialisationsprozessen beschäftigt, weist seit vielen Jahren auf die »Lesekrise« hin, die in diesem Alter (seit der Dominanz digitaler Medien vermehrt) zum Nichtlesen und zum Desinteresse an Schullektüren führt (vgl. zusammenfassend Dawidowski 2016, 84 ff., ausführlich z. B. bei Philipp 2011, Garbe/Philipp/Ohlsen 2009). Insofern kommen die Ergebnisse der Studie von Rohlfs hier nicht überraschend.
Aufschlussreicher werden diese Ergebnisse für den vorliegenden Zusammenhang allerdings dann, wenn wir sie mit Bildungseinstellungen anderer an der schulischen Sozialisation beteiligter Personen betrachten: den Eltern. Bildungseinstellungen, so viel wissen wir aus der empirischen Bildungsforschung,8 werden zu einem sehr großen Teil »familiär tradiert«, [39]unterliegen also direkten familiären Sozialisationseinflüssen in der kindlichen Erziehung. Dies betrifft vor allem auch den Umgang mit Literatur, also das literarische Lesen. Insofern sind die Erwartungshaltungen der Eltern (dies dokumentiert auch die Lernmotivation der SchülerInnen, siehe oben) von großer Bedeutung.
2011 veröffentlichte das Institut für Demoskopie Allensbach unter Leitung des Bildungsforschers Klaus Hurrelmann die Ergebnisse seiner repräsentativen Studie , die – so der Untertitel – erhob (Vodafone 2011). Diese Studie arbeitet schichtorientiert. Sie zeigt unter anderem (und völlig schichtunabhängig) die absolute Dominanz des Abiturs als erwünschtem Schulabschluss (ebd., 10), die Erwartung und Gewissheit bezüglich des sozialen Aufstiegs der Kinder (ebd., 12), aber auch die Erwartung bezüglich der schulisch zu vermittelnden Bildungsinhalte. »Bildung« ist in den Augen der Eltern etwas, das »bessere berufliche Chancen« (94 %) und »Aufstiegsmöglichkeiten« (83 %) verspricht (ebd., 5). Damit wird der Bildungserwerb von vorneherein in den Zusammenhang des Broterwerbs gestellt, also recht pragmatisch gedeutet – was absolut nicht zu verurteilen ist, wenngleich auffällt, dass andere Perspektiven gar nicht erst auftauchen. Hier wird dann folgerichtig offenbar, dass die Themen und Inhalte traditioneller Bildungsvorstellungen nur eine deutlich untergeordnete Rolle spielen. Vor allem Literatur oder auch Philosophie und Religion (also Fächer, die Menschen- und Persönlichkeitsbildung anzielen) sind im Blickwinkel der Eltern gar nicht mehr oder kaum Bestandteil schulischer Bildungsziele (15 % halten »Kenntnisse der deutschen Literatur«, 16 % »Kenntnisse in Kunst und Kultur« für einen unbedingten Teil von »Bildung«), dafür spielen dann Computerkenntnisse (42–60 %, je nach sozialer Schicht), »Verständnis für [40]wirtschaftliche Zusammenhänge« (28 %), Fremdsprachenkenntnisse (40–63 %) eine deutlich größere Rolle (ebd., 6 f.). Bei der Beantwortung der Frage, was zur Bildung gehört, geben 50 % »[h]andwerkliches Geschick« an, 46 % »Interesse an Philosophie«, 51 % Beschäftigung mit »religiösen Fragen« und 55 %, »[d]ass man ein Musikinstrument spielt« (ebd., 6).
Denkt man nun beide Studien zusammen, erscheinen die MittelstufenschülerInnen auch als eine Verkörperung des Bildungswillens ihrer Eltern. Ihr Desinteresse an Bildungsfragen traditioneller Art und auch ihr Pragmatismus im Schulsystem spiegelt sich in der Erwartungshaltung der meisten Eltern: Schule dient der Qualifizierung für das spätere Berufsleben. Der schulischen Bildungsvermittlung wird hier kaum ein eigenständiger Wert zugemessen. Wie Schule und Lehrerschaft damit heute umgehen, wird das dritte Kapitel zeigen. Wenn man allerdings historisch argumentieren will, scheint alles plausibel und leicht erklärbar: Wir haben es hier mit einer neuen Aktualität philanthropischer (also: aufklärerischer) Bildungsziele zu tun, die im 18. Jahrhundert ebenfalls im Sinne der Gleichwertigkeit aller Menschen zunächst an der Basis operierten und deren Ziel es war, über die allgemeine Alphabetisierung und die religiöse Unterweisung ein Bildungsniveau in der (Land-)Bevölkerung zu erreichen, das dieser ihr Auskommen sicherte und eine moralische Stütze im Alltag gab. Der im ersten Kapitel skizzierte Bildungsbegriff ist im Gegenzug zu dieser Bewegung ein elitärer, denn er forderte einen Stufenplan in der Bildungsvermittlung, wobei die »höheren Weihen« nur (männlichen) Akademikern vorbehalten waren, deren Persönlichkeit allseitig ausgebildet werden sollte.9 Auch Goethes literarische Figur Wilhelm Meister kommt nicht aus unteren Ständen, die [41]zu dieser Zeit noch den absoluten Großteil der Bevölkerung ausmachten. Eine Gesellschaft, die von Gleichheit als oberstem...