Cherki | Frantz Fanon | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Cherki Frantz Fanon

Ein Porträt
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96054-369-5
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Porträt

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-96054-369-5
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Frantz Fanon hat in seinem kurzen Leben (1925-1961) als Psychiater, Schriftsteller und Journalist, als Freiheitskämpfer und als Vordenker der Dekolonialisierung nahezu Unermessliches geleistet. Er starb, als die meisten afrikanischen Länder gerade erst ihre Unabhängigkeit erreicht hatten; seine Warnungen an kolonisierte Länder auf dem Weg zur Unabhängigkeit haben sich als prophetisch erwiesen. Fanons Analysen werfen noch immer ein erhellendes Licht auf die postkolonialen Konflikte von heute. Geboren auf den Antillen, kam Frantz Fanon, wie sein Zeitgenosse Che Guevara, als Arzt zu seiner revolutionären Laufbahn in einem fremden Land. Er kämpfte bei den Forces Françaises Libres gegen Nazideutschland, gru?ndete Afrikas erste sozialtherapeutische Psychiatrie im algerischen Blida und reiste als Sprecher der algerischen Befreiungsbewegung durch Afrika. Sein Buch Die Verdammten dieser Erde wurde »Das kommunistische Manifest der antikolonialen Revolution« genannt. Fanons Schriften sind heute Klassiker des Postkolonialismus. Zum 100. Geburtstag Frantz Fanons im Juli 2025 erscheint jetzt die Neuausgabe der großen Biografie seiner Weggefährtin Alice Cherki. Sie arbeitete in Algerien und Tunesien als Psychiaterin an seiner Seite und war wie er während des Algerienkrieges in der Befreiungsbewegung aktiv. Sie beleuchtet Entstehungsgeschichte und -kontext von Fanons Texten und Ideen und zeigt, dass Fanon die individuellen und sozialen Auswirkungen der rassistischen Unterdru?ckung ebenso im Blick hatte wie Möglichkeiten, die Entfremdung zu u?berwinden.

Alice Cherki wurde 1936 in Algier als Tochter einer jüdischen Familie geboren und beteiligte sich aktiv am Unabhängigkeitskampf. Als Psychiaterin und Psychoanalytikerin ist sie Mitautorin von »Retour à Lacan?« (Fayard, 1981) und »Les Juifs d'Algérie« (Éditions du Scribe, 1987).
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Intergenerationale Reflexionen einer Mutter und Tochter

Vorwort von Natasha A. Kelly & Zaphena Kelly


»Jedes Kind nimmt mit der Muttermilch den Lärm der Welt und auch ihr Schweigen auf. Es schöpft daraus seine eigenen Vorstellungen, seine fiktiven Konstruktionen, die psychischen Spuren, so heißt es, Werkzeuge seiner möglichen Entwicklung.«

(Alice Cherki, Frantz Fanon, Seite 348).

Alice Cherki, Freundin und Wegbegleiterin des postkolonialen Vordenkers Frantz Fanon (1925–1961), veranschaulicht mit dem obigen Zitat, dass die psychischen Wunden des Kolonialismus nicht mit einer Generation verheilen, sondern über Generationen hinweg weitergegeben werden. Die Vorstellung, dass jedes Kind den »Lärm der Welt« und »ihr Schweigen« mit der Muttermilch aufsaugt, symbolisiert die tiefen und unausweichlichen Einflüsse, die Gesellschaft und Geschichte auf die individuelle Psyche haben. Im Austausch miteinander haben wir, Mutter (Kommunikationssoziologin) und Tochter (Psychologiestudentin), uns immer wieder bei Gesprächen am Abendtisch mit den vielschichtigen Strukturen beschäftigt, die unsere jeweilige Realität in unserer geteilten Umwelt prägen. Uns war klar, dass Eltern ihren Kindern bestimmte Merkmale wie Aussehen und Intelligenz vererben können. Die Tatsache, dass auch Trauma Bestandteil des kolonialen Erbes sind, lernten wir jedoch erst durch die Arbeiten verschiedener Schwarzer Wissenschaftler*innen. Auch Fanons Analysen der kolonialen Unterdrückung und dessen psychischen Auswirkungen bieten unverzichtbare Werkzeuge, um die kulturellen und identitären Transformationen von kolonialisierten Subjekten generationsübergreifend zu verstehen.

Der Psychiater, Philosoph und Revolutionär Frantz Fanon, geboren in der ehemaligen Kolonie Martinique, war eine zentrale Figur in den Diskussionen über Kolonialismus, Rassismus und deren Auswirkungen auf Körper, Geist und Seele. Seine Studien zeigen eindrucksvoll, wie Gewalt und Unterdrückung tief im kollektiven Unbewussten1 verankert bleiben und die nachfolgenden Generationen beeinflussen. Seine Arbeiten halfen uns zu verstehen, dass die Heilung dieser Wunden nicht nur individuell, sondern auch kollektiv angegangen werden muss. Fanon, der sowohl Psychiater als auch an der Psychoanalyse interessierter Sozialtherapeut war, nutzte seine tiefen Fachkenntnisse, um die komplexen und oft destruktiven psychologischen Prozesse zu beschreiben, die durch koloniale Unterdrückung entstehen. Er griff dabei auch auf das Strukturmodell der Psyche sowie die Triebtheorie von Sigmund Freud zurück, um die Dynamik von Gewalt, Aggression und Identitätskonflikten zu analysieren.

Anlässlich seines 100. Geburtstags erscheint das vorliegende Porträt seiner Freundin und Wegbegleiterin Alice Cherki überarbeitet und neuaufgelegt. Die Psychiaterin und Schriftstellerin lernte Fanon erstmals 1955 auf einer Konferenz in Algerien kennen und entwickelte ein starkes Interesse an seinen bahnbrechenden Ideen zur Psychoanalyse. Besonders in seinem Werk Die Verdammten dieser Erde (1961) beschreibt Fanon durch autoethnografische Beobachtungen aus seiner Zeit in Algerien, wie der Kolonisierte – geblendet von der Macht des Kolonisators – ein zunehmend eurozentrisches ›Über-Ich‹2 internalisiert. In einer Zeit, in der die Welt von den Spannungen und Konflikten des Kolonialismus zerrissen war, nutzte Fanon Sigmund Freuds Konzept des ›Über-Ichs‹, um zu erklären, wie die koloniale Ideologie die Psyche der Kolonisierten formt und zu einer Entfremdung von der eigenen Kultur und Identität führt. Das kolonisierte Subjekt internalisiert zunehmend die vom Kolonisator auferlegte Minderwertigkeit. Als Folge bewegt sich das Subjekt in einer konstanten Dissonanz zwischen der eigenen und der fremden Identität. Sie seien hin- und hergerissen zwischen ihrer eigenen kulturellen Identität und der ihnen aufgezwungenen Identität der Kolonialherren.

Es wird also deutlich: Frantz Fanons Analysen bieten eine tiefgründige Einsicht der psychologischen Dimensionen des Kolonialismus und der Dekolonisierung. Durch die Integration der Freud’schen Triebtheorie gelingt es ihm, die komplexen inneren Konflikte und die destruktiven psychischen Mechanismen, die durch die koloniale Unterdrückung ausgelöst werden, zu beleuchten.3 Die kognitive Spaltung des Selbst führe demnach zu einem inneren Konflikt zwischen den Lebenstrieben (Eros) der Kolonisierten, die nach Integration und Ganzheit streben, und den Todestrieben (Thanatos), die Zerstörung und Auflösung bewirken. Die psychische Befreiung könne laut Fanon nur durch die Wiederherstellung einer integrierten Identität erfolgen, die die kolonialen Spaltungen überwindet.4 Fanon beschreibt, wie die Gewalt des Kolonialismus nicht nur körperliche Verletzungen, sondern auch tiefgreifende psychische Traumata verursacht. Diese Traumata können sich über Generationen hinweg durch epigenetische Mechanismen weitervererben und so auch zukünftige Generationen beeinflussen. Die Erforschung transgenerationaler Traumata zeigt, dass die Nachwirkungen kolonialer Gewalt weit über die unmittelbaren Opfer hinausgehen und tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis und in der psychischen Gesundheit ganzer Gemeinschaften hinterlassen. Der Todestrieb, der laut Freud zur Selbstzerstörung und Aggression führt, wird durch die koloniale Gewalt aktiviert und verstärkt. Diese Aggression kann sich sowohl nach innen, in Form von Selbsthass und Depression, als auch nach außen, in Form von Gewalt gegen andere, richten. Für Fanon wird die revolutionäre Gewalt der Kolonisierten daher zu einem notwendigen Mittel, um diesen destruktiven Impulsen zu begegnen und sie in einen befreienden Akt zu transformieren.

Frantz Fanons These über die psychischen Auswirkungen des Kolonialismus und die daraus resultierende Aggression und Depression hat in der modernen Psychologie und Soziologie viel Anklang gefunden. Es gibt zahlreiche Studien, die die psychischen Belastungen und die erhöhte Prävalenz von Depressionen und Aggressionen bei Menschen afrikanischer Herkunft, die, wie wir, in eurozentrischen Gesellschaften leben, untersuchen. Diese Studien liefern empirische Belege für Fanons Theorien. So hat beispielsweise eine Studie der American Psychological Association (APA) aus dem Jahr 2018 festgestellt, dass Schwarze Menschen doppelt so häufig wie weiße an schweren depressiven Episoden leiden, aber weniger wahrscheinlich Zugang zu adäquater psychologischer Hilfe haben.5

Khamai Simpsons Masterarbeit an der Berlin School of Public Health untersucht die psychischen Effekte rassistischer Diskriminierung im Berliner Gesundheitssystem. Ihre Forschung zeigt, dass Schwarze Menschen erhebliche Diskriminierungserfahrungen machen, was zu Angstzuständen, Depressionen und einem verminderten Selbstwertgefühl führt. Teilnehmende berichteten über verschiedene Bewältigungsstrategien, die von sozialer Unterstützung bis hin zur Vermeidung diskriminierender Gesundheitsdienste reichen. Ihre Arbeit, die mit mehreren Auszeichnungen geehrt wurde, bestätigt die Relevanz von Fanons Analysen im deutschen Kontext und unterstreicht die Notwendigkeit, hierzulande postkoloniale Strukturen aufzubauen, um psychische Gesundheit und soziale Gerechtigkeit zu fördern.6

Cherki sah Fanons Arbeit als Teil eines breiteren historischen Kampfes für Gerechtigkeit und Emanzipation. Ihr gemeinsames Ziel habe damals nicht im diplomatischen, ökonomischen oder politischen Kampf gelegen, wie sie im ersten Kapitel betont, sondern darin, aus dem Kolonialisierten einen »neuen Menschen« zu formen. Der Humanismus von Fanon und Cherki ist demnach als radikal zu betrachten, da er eine tiefgreifende Transformation sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene fordert.7 Er geht über die bloße Anerkennung der Menschlichkeit hinaus und strebt nach einer umfassenden Befreiung der Kolonialisierten sowie eine Neuschöpfung ihrer Identität und Kultur. Dieser Ansatz umfasst sowohl psychologische als auch physische Aspekte der Befreiung und betont die Notwendigkeit von Gewalt als Mittel zur Wiederherstellung der menschlichen Würde und Identität. Doch der Mechanismus, mit dem der vermeintlich Andere zu einem minderwertigen Menschen gemacht und von der Menschheit ausgeschlossen werde, funktioniert Cherkis Ausführungen zufolge noch immer. Eine Neuauflage ihres Porträts von Frantz Fanon bietet daher nicht nur intime Einsichten zu seiner Person, seinen Zielen und Idealen, sondern auch einen Einblick in seine Tätigkeit als Psychiater und an der Psychoanalyse interessierter Sozialtherapeut.

Im Gegensatz zu traditionelleren humanistischen Ansätzen, die Gewalt ablehnen, sieht Fanon in der revolutionären Gewalt ein notwendiges Mittel zur Befreiung. Er argumentiert, dass die Gewalt des Kolonisierten gegen die Kolonialherren ein Akt der Selbstbehauptung und Wiederherstellung der Würde sei. Diese Gewalt soll die destruktiven Kräfte, die durch die koloniale Unterdrückung entstanden sind, in eine konstruktive Richtung lenken. An dieser Stelle wird Fanons Bezug zu Freuds Konzept des Todestriebs deutlich. Fanon erklärt, wie die koloniale Ideologie die Psyche der Kolonisierten formt und zur Entfremdung von der eigenen Kultur und Identität führt. Diese Entfremdung resultiert in einem Konflikt zwischen den Lebenstrieben, die nach Integration und Ganzheit streben, und den Todestrieben, die Zerstörung und Auflösung bewirken. Fanon zeigt, wie die destruktiven Impulse, die durch koloniale Gewalt ausgelöst werden, durch revolutionäre Gewalt in Akte der...


Alice Cherki wurde 1936 in Algier als Tochter einer jüdischen Familie geboren und beteiligte sich aktiv am Unabhängigkeitskampf. Als Psychiaterin und Psychoanalytikerin ist sie Mitautorin von »Retour à Lacan?« (Fayard, 1981) und »Les Juifs d'Algérie« (Éditions du Scribe, 1987).



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