Bühler Wechselspiel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95602-082-7
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Vermächtnis des fremden Mädchens
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-95602-082-7
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Aber nein, es war kein Traum, sie war wach. Hellwach! Und sie begriff, dass etwas Unfassbares mit ihr geschehen sein musste. Etwas, das sie nicht verstand, und das ihr Angst machte.«
Ein tragischer Autounfall wird zum Schicksalsmoment für Anne Berghöfer. Als sie im Krankenhaus erwacht, steckt sie im Körper der jungen Monika Rieger, die ebenfalls in den Unfall verwickelt war. Ihr altes Leben hinter sich zu lassen - Ehemann und Sohn, die Arbeit, die Freunde - fällt Anne schwer, aber noch schwieriger ist es, sich im neuen Leben von Monika einzufinden. Ohne Erinnerungen. Ohne Bezugspersonen. Ohne Perspektiven. Doch Anne nimmt die Herausforderung an, obwohl die Vergangenheit - Monikas und ihre eigene - sie verfolgt. Sie versucht, Monikas Leben eine neue Richtung zu geben, und findet sogar einen Weg ins Glück.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Artikel in der Morgenpost vom Samstag, 15. Mai 1999: Gestern in den frühen Abendstunden kam ein Pkw in Höhe des Aussiedlerhofes von der Fahrbahn ab und prallte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen. Die 50jährige Fahrerin des Unglückswagens starb noch am Unfallort. Die Fahrerin des entgegenkommenden Wagens musste bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Der Unfallhergang ist noch ungeklärt. Irgendwann tauchten Lichter auf. Es waren helle Flecken hinter ihren Lidern, und sie wusste, dass sie nur die Augen zu öffnen brauchte, um zu erkennen, was sie zu bedeuten hatten. Doch noch waren ihre Lider schwer wie Blei. Mit Mühe schaffte sie es, sie einen Spaltbreit zu heben und zu blinzeln. Durch den Schleier ihrer Wimpern erkannte sie zwei Lampen. Lange rechteckige Deckenlampen. Auch die Töne waren seltsam, ein leises monotones Surren und ein regelmäßiges, rhythmisches Piepen waren zu hören. Sie versuchte, die Augen etwas weiter zu öffnen und den Kopf zu drehen. Ein Gewirr von schnurartigen Kabeln führte von ihrem Körper hinter das Kopfende des Bettes, in dem sie lag. In ihrem rechten Handrücken steckte eine Infusionsnadel. Ohne den Sinn zu begreifen, folgte ihr Blick dem dünnen Schlauch bis zu einer Plastikflasche, die über ihr hing. Sie beobachtete, wie die klare Flüssigkeit unaufhaltsam im Sekundentakt in einen kleinen durchsichtigen Kolben tropfte. Urplötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie erschrak: Sie war krank! Sie befand sich in einem Krankenhaus! Es musste das St. Johannes sein, sie erkannte es an den hohen Fenstern mit den niedrigen Gitterstäben davor. In dieser Klinik hatte sie vor achtzehn Jahren ihren Sohn Stephan zur Welt gebracht. Warum war sie jetzt hier? Sollte der Frauenarzt beim letzten Termin etwas festgestellt haben, was eine Operation erforderlich gemacht hatte? Sie hatte sich immer ein bisschen vor den Ergebnissen der Routineuntersuchungen gefürchtet, immerhin war sie schon fünfzig. Angst kroch in ihr hoch. Sie musste herausfinden, ob es irgendwo einen Verband oder ein Pflaster gab. Als sie die Hand hob, um die Bettdecke ein wenig zur Seite zu schieben, bemerkte sie an ihrem linken Arm einen Gipsverband. Das war die Erklärung, sie musste einen Unfall gehabt haben. Doch was genau war passiert? Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern. Ganz unvermittelt fiel ihr Roswitha ein. Sie waren zusammen im Roxy gewesen und hatten einen Film mit Mel Gibson angesehen. Und danach? Richtig, das ›Café Roseneck‹. Dort hatten sie zusammen einen Kaffee getrunken, und Roswitha hatte ihr erzählt, dass sie in der Manteltasche ihres Mannes zwei Theaterkarten gefunden hatte und nun davon ausging, dass er sie betrog. Arme Roswitha. Das war am Dienstag gewesen, schon seit Jahren trafen sie sich regelmäßig jeden zweiten Dienstagnachmittag. Am Mittwoch hatte sie bei Frau Hoffmann vorbeigeschaut, um der alten Dame ein bisschen zur Hand zu gehen. Sie war schon siebenundachtzig und hatte keine Verwandten. Es war nicht viel, was sie für sie tun konnte, denn neben ihrer Halbtagsarbeit in der Firma Simag war ja auch noch der eigene Haushalt zu versorgen. Nach dem Besuch bei Frau Hoffmann hatte sie zu Hause gekocht. Kohlrouladen, zwölf Stück. Jochen und Stephan konnten was verdrücken, wenn sie hungrig waren. Sie musste lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie sich darüber hergemacht hatten. Am nächsten Tag war Himmelfahrt, sie waren zu Hause geblieben. Jochen hielt nicht viel von Vatertagsausflügen, er hatte sich um ihr Auto gekümmert, an dem, wie er sagte, etwas nicht ganz in Ordnung gewesen war. Nur Stephan war mit seinen Freunden losgezogen. Am Freitagvormittag hatten sich Thea Albany und Anke Haussmann, zwei ihrer Kolleginnen, im Büro heftig gestritten. Es ging um einen Fehler bei der Berechnung von Überstunden. Beide versicherten, unschuldig zu sein, und jede wollte der anderen die Schuld in die Schuhe schieben. Es hatte sie einige Mühe gekostet, die beiden Streithähne zu beschwichtigen. Für den Nachmittag stand ein Termin bei Dr. Wohlfarth, ihrem Zahnarzt in Wilsingen, an. Routineuntersuchung. Bis auf ein bisschen Zahnstein war alles in Ordnung gewesen. Auf dem Parkplatz hatte sie eine Nachbarin getroffen und ein paar Worte mit ihr gewechselt. Nur kurz, denn es regnete in Strömen, und der heftige Sturm rüttelte an ihren Schirmen und versuchte, sie umzustülpen. Auch an die Heimfahrt konnte sie sich erinnern, daran, dass die Scheibenwischer auf Hochtouren liefen, an so starke Böen, dass man Mühe hatte, den Wagen auf der Straße zu halten. – Sie überlegte. War das alles, was sie vom Freitag noch wusste? Hatten Jochen und Stephan schon auf sie gewartet, als sie nach Hause kam? Kam sie überhaupt nach Hause? War es der Freitag, an dem der Unfall passiert war? Und überhaupt, wann war Freitag? – Gestern? Vorgestern? Oder vor einer Woche? Wie lange lag sie schon hier im Krankenhaus? Sie schaute zum Fenster hinüber, – und in diesem Augenblick sah sie die fremde Frau. Sie saß, den Kopf an die Wand gelehnt, auf einem Stuhl neben der niedrigen Fensterbank und schien zu schlafen. Anne beobachtete sie. Es war eine hübsche blonde Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig. Ihre Atemzüge gingen ruhig und gleichmäßig. Wer war sie? Eine Krankenschwester oder eine Ärztin? Sie trug keinen weißen Kittel, sondern Jeans und einen dunkelblauen kurzärmeligen Pullover mit einem applizierten Segelschiff auf der Brust. War sie beauftragt worden, bei ihr Wache zu halten? Hatte es so schlimm um sie gestanden, dass ständig jemand bei ihr sitzen und aufpassen musste? Während sie sie noch beobachtete, öffnete die Fremde plötzlich die Augen und schaute zu ihr herüber. Sekundenlang starrten sie einander an, hielten sich ihre Blicke fest, ohne dass sich eine von beiden rührte. Dann sprang die Frau auf, stürzte auf das Bett zu und ging davor in die Knie. »Monika!« flüsterte sie mit erstickter Stimme und streichelte sie. »Moni!« Liebevoll strich sie ihr das Haar aus der Stirn, drückte die Hand mit der Infusionsnadel an ihre Wange und küsste sie. Ihr Blick war voller Zärtlichkeit. Doch auch durchlebte Angst und Sorge war darin zu lesen, und die Hoffnung, dass nun endlich alles wieder gut werden würde. »Meine Moni«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen, »Gott sei Dank, du bist aufgewacht.« Anne war erschrocken und verwirrt. »Nein, nein«, wehrte sie ab, »ich bin nicht Monika.« Ihre Stimme war rau und heiser. Die blonde Frau hielt betroffen inne. »Moni, ich bin’s, deine Mama!« Ein heftiges Kopfschütteln antwortete ihr. »Nein, so schauen Sie mich doch an! Ich bin nicht Monika. Ich bin nicht Ihre Tochter.« Der Frau war alles Blut aus dem Gesicht gewichen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie die Patientin an. Anne starrte zurück. Voll Entsetzen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, sie glaubte fast, zu ersticken. Was, um alles auf der Welt, war passiert, dass diese Frau sie für ihre Tochter hielt? Was hatte man mit ihr gemacht? Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, und auch das Piepen im Hintergrund wurde hastiger und schneller. Sie fragte sich, wo Jochen war. Hätte er nicht da sein müssen, wenn sie krank war? »Wo ist Jochen?« fragte sie in Panik und versuchte, sich aufzurichten. »Ich will mit ihm reden. Ich will, dass Jochen kommt.« Auch in den Augen der blonden Frau stand Panik. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Klingelknopf, der neben der Infusionsflasche hing. »Jochen? – Ja, natürlich, Moni. Wenn du ihn sehen willst, werde ich dafür sorgen, dass er dich besuchen kommt. Ich verspreche es.« Eine Schwester kam eilig herein. »Hallo, die junge Dame ist aufgewacht?« fragte sie erfreut. Sie warf einen schnellen routinemäßigen Blick auf die Kontrollgeräte, ohne die kritische Situation gleich zu erfassen. »Wie fühlen Sie sich, Mädchen?« Anne war noch immer verwirrt. »Wo ist mein …«, begann sie. Sie wollte noch einmal nach Jochen fragen, doch die Schwester schien ihr nicht zuzuhören, weil sich die blonde Frau an ihren Arm klammerte und mit zitternder Stimme sagte: »Sie erkennt mich nicht. Sie weiß nicht, dass ich ihre Mutter bin.« Die Schwester schaute die Patientin prüfend an und streichelte ihren Arm. »Verraten Sie mir ihren Namen?«, fragte sie ruhig. »Anne Berghöfer«, war die Antwort. Und mit einem schwachen Lächeln ergänzte sie: »Genaugenommen Marianne Berghöfer.« Man sah der Krankenschwester nicht an, was sie dachte. »Und wo wohnen Sie?« »Fontane-Ring 13, hier in …« Die ernste, verschlossene Miene der Schwester und das Aufschluchzen der blonden Frau ließen sie verstummen. »Berghöfer sagen Sie?« »Ja.« »Wie alt sind Sie, Frau … Berghöfer?« »Fünfzig«, antwortete Anne. »Oh, mein Gott!« rief die blonde Frau. Ihre Stimme klang jetzt hoch und schrill. Auch die Schwester war blass geworden. Sie rang sich zu einem beruhigenden Lächeln durch und tätschelte der Patientin noch einmal den Arm. »Bitte, regen Sie sich nicht auf und haben Sie keine Angst«, sagte sie beschwichtigend. »Ich habe Dr. Schmittlein, dem Oberarzt, versprochen, ihn zu benachrichtigen, sobald Sie aufgewacht sind. Ich bin in einer Sekunde wieder bei Ihnen, dann wird sich alles klären.« Sie sah sich nach der blonden Frau um, ergriff sie am...