E-Book, Deutsch, Band 11, 155 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
Börjesson / Laser Pragmatik
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0357-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sprachgebrauch untersuchen
E-Book, Deutsch, Band 11, 155 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
ISBN: 978-3-8233-0357-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das wichtigste Ziel des Deutschunterrichts in der allgemeinbildenden Schule ist der Auf- und Ausbau der sprachlichen Handlungsfähigkeit. Die linguistische Pragmatik ist die wissenschaftliche Lehre vom sprachlichen Handeln. Da liegen Verbindungen nahe. Tatsächlich aber werden pragmatische Begriffe und Konzepte im und für den Unterricht bisher wenig genutzt.
Dieses Buch zeigt, wie die linguistische Pragmatik den Deutschunterricht unter der Oberfläche längst durchdrungen hat. Es bietet Lehrpersonen und Lehramtsstudierenden Hintergrundwissen und Ideen dafür, wie sich das Nachdenken über den Gebrauch von Sprache gewinnbringend in den Unterricht einbringen lässt. Die Merkmale verschiedener Kommunikationssituationen werden ebenso in den Blick genommen wie Bedeutungsaspekte von Äußerungen, die nur zu verstehen sind, wenn man Sprache im Gebrauch betrachtet.
Dr. Kristin Börjesson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Dr. Björn Laser ist Akademischer Oberrat in der Abteilung Deutsch des Instituts für Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Gmünd.
Autoren/Hrsg.
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2Kommunikationssituationen und Konversationsstrukturen
Situationsangemessen zu kommunizieren ist nicht erst seit den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz ein zentrales Bildungsziel. Die Schülerinnen und Schüler sollen „kommunikative Situationen in persönlichen, beruflichen und öffentlichen Zusammenhängen situationsangemessen und adressatengerecht“ bewältigen, heißt es dort etwa (KMK 2005b: 8). Es gilt, den Gebrauch der Sprache dem jeweiligen Kontext anzupassen. Aber was bedeutet das eigentlich? Stellen Sie sich vor, jemand kommt in eine Bäckerei und sagt: „Guten Tag! Mein Name ist Mayer. Ich möchte gerne Laugenbrötchen kaufen.“ Das wäre seltsam, oder? Wenn die gleiche Person in der Bäckerei anruft, wirkt „Guten Tag! Mein Name ist Mayer. Ich wollte fragen, ob sie noch Laugenbrötchen haben.“ nicht mehr so seltsam. Warum eigentlich nicht? Die Kommunikationssituation ist eine andere, und wir passen uns in unseren Äußerungen den Situationsbedingungen an. An der Bäckereitheke befinden sich die Kommunikationspartner am gleichen Ort und die soziale Situation ist definiert. Es gibt – auch räumlich – eine klare Rollenzuweisung von Verkaufspersonal und Kundschaft, und daher erscheint es überflüssig, sich namentlich vorzustellen. Am Telefon, wo man den Kommunikationspartner nicht sieht, ist es dagegen üblich. Die Faktoren, die unsere sprachlichen Äußerungen beeinflussen, sind ausgesprochen vielfältig. Im Alltagshandeln ist uns nur zum Teil bewusst, was wir alles bei der Gestaltung unserer sprachlichen Äußerungen berücksichtigen: den Ort der Kommunikation, das Wissen über den Kommunikationspartner, das geteilte Wissen über das Thema und noch vieles mehr. Umgekehrt geben uns sprachliche Äußerungen Aufschluss über die situativen Bedingungen der Kommunikation, vor allem über das Verhältnis der Kommunikationspartner zueinander, wenn es etwa beim Anruf in der Bäckerei nicht heißt „Guten Tag! Mein Name ist Mayer …“, sondern: „Griaß Gott, hier isch dr Rudi. I wed froga, ob ihr no Laugewegga hennt.“ Wie ich als Sprecher/Schreiber meine Äußerungen formuliere, hängt z. B. davon ab, ob ich mündlich oder schriftlich kommuniziere, wie ich das Vorwissen zum Thema bei meinen Adressaten einschätze, welche Varietäten des Deutschen mir zur Verfügung stehen, wie ich die soziale Beziehung zwischen mir und meinem Adressaten einschätze, aber auch von meinem – häufig unbewussten – Wissen über die jeweiligen Erfordernisse und Erwartungen, die unterschiedliche Kommunikationsformen mit sich bringen. Diese vielfältigen Aspekte sollen in diesem Kapitel in den Blick genommen werden. 2.1Kommunikationssituationen
2.1.1Der Äußerungskontext Bei der Unterscheidung verschiedener Bedeutungsebenen in Kapitel 1.2.2 haben wir schon gesehen, dass der Äußerungskontext eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, die Bedeutung einer Äußerung zu identifizieren. So bleibt in einem Satz wie (1) ohne Berücksichtigung eines konkreten Äußerungskontexts vieles recht unbestimmt. (1)Ich habe dich hier gestern zusammen mit ihm gesucht. Erst das Wissen um die entsprechenden Aspekte der konkreten Äußerungssituation ermöglicht es, die auf semantischer Ebene vorhandenen Leerstellen in diesem Satz zu füllen. Zum Äußerungskontext werden dabei folgende Aspekte gezählt (vgl. Löbner 2015: 6): der Sprecher der Äußerung (Wer ist ich?) der/die Adressat(en) der Äußerung (Wer ist dich?) der Ort, an dem die Äußerung getätigt wird (Wo ist hier?) der Zeitpunkt, zu dem die Äußerung getätigt wird (Wann war gestern?) alle weiteren, zum Zeitpunkt der Äußerung als relevant angesehenen Fakten (Wer ist ihm?) Zur Veranschaulichung der verschiedenen relevanten Aspekte von Äußerungssituationen werden meist Face-to-Face-Kommunikationssituationen als Beispiele genommen, Situationen also, in denen sich Sprecher und Adressat zur selben Zeit am selben Ort befinden und (idealisiert betrachtet) dieselben Dinge, Personen, Ereignisse etc. wahrnehmen. In einer solchen Situation schließen die deiktischen Ausdrücke (? Kap. 1.2.2) ich, dich, hier, gestern und ihm unmittelbar an den Äußerungskontext an und Satz (1) kann in angemessener Weise geäußert werden. Nun handelt es sich bei Face-to-Face-Kommunikation aber um nur eine unter vielen möglichen Kommunikationssituationen, wenn vielleicht auch um die prototypische – und um die ursprünglichste, sowohl für den Menschen als Einzelwesen (ontogenetisch) als auch für den Menschen als Gattung (phylogenetisch). Tatsächlich lassen sich Kommunikationssituationen entlang einer Reihe verschiedener Dimensionen unterscheiden. Insbesondere spielt eine Rolle, ob die Interaktionsteilnehmer zeitgleich und/oder ortsgleich kommunizieren, in welchem (sozialen) Verhältnis die Kommunizierenden zueinander stehen und welche technischen Hilfsmittel (Medien) bei der Kommunikation zum Einsatz kommen. Stellt man sich die Äußerung von (1) z. B. im Rahmen eines Handygesprächs vor, liegen die Dinge schon anders als bei einer Face-to-Face-Kommunikation. Während die Interpretation von ich, dich und gestern auch in diesem Fall unproblematisch ist, ist das bei hier und ihm nicht mehr ohne weiteres der Fall. Dadurch, dass Sprecher und Hörer sich nicht am selben Ort befinden, kann der Sprecher vom Hörer auch nicht erwarten, dass dieser die Referenz für hier problemlos herstellen kann. Das Gleiche gilt für den Ausdruck ihm. Geht man nun noch von einer über das Handy übertragenen Sprachnachricht aus, die der Empfänger unabhängig vom Zeitpunkt der ursprünglichen Äußerung des Sprechers rezipiert, verliert auch der Ausdruck gestern seinen eindeutigen Bezug. Um sicher zu sein, wann zum Sprechzeitpunkt gestern war, muss der Empfänger berücksichtigen, wann die Nachricht eingegangen ist – eine Information, die glücklicherweise in der Regel vom Messengerprogramm oder der Voicemailbox registriert wird. Deiktische Ausdrücke können also durchaus verwendet werden, auch wenn der Äußerungskontext nicht beiden Kommunikationspartnern gleichermaßen ersichtlich ist. Die relevanten Aspekte des Äußerungskontexts müssen dann allerdings durch den Sprecher versprachlicht oder durch verwendete technische Kommunikationsmittel bereitgestellt werden, damit der Adressat im weiteren Gesprächsverlauf die Referenzen richtig herstellt. 2.1.2Mündlichkeit, Schriftlichkeit – der Einfluss des Kommunikationskanals Eine zentrale Rolle bei der konkreten Ausgestaltung von sprachlichen Äußerungen scheint die Frage zu spielen, ob mündlich oder schriftlich kommuniziert wird: Geschriebene und gesprochene Sprache unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Die gesprochene Sprache ist voller Wörter, die es in der geschriebenen Sprache nicht gibt, wie Aha! oder ähm oder hm. Gesprochene Sätze sind oft unvollständig und jedenfalls kürzer und weniger komplex als geschriebene, und in der gesprochenen Sprache wern Wörta vaküazt un Endung falln weg, und es fällt, anders, als wenn man es geschrieben sieht, nicht einmal auf. Sprache ist anders, je nachdem, ob sie gesprochen, durch Schallwellen in der Luft übertragen und auditiv wahrgenommen oder ob sie geschrieben wird und sich dann auf Papier oder einem anderen Zeichenträger visuell präsentiert. Es sind dabei aber weniger diese medialen Unterschiede zwischen Schall und Papier oder Hören und Sehen, mit denen sich die unterschiedlichen Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache erklären lassen. Grundlegend ist auch hier die Kommunikationssituation, wie sich also Situationen des mündlichen und des schriftlichen Kommunizierens voneinander unterscheiden. Die beiden Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben das 1985 in einem breit rezipierten Modell sehr anschaulich dargestellt. Vergleichen wir eine typisch mündliche mit einer typisch schriftlichen Kommunikationsform: das persönliche, unmittelbare Gespräch zweier Anwesender mit dem klassischen Brief, der vom Produzenten an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geschrieben und vom Adressaten an einem anderen Ort und zu einem späteren Zeitpunkt gelesen wird. Die Rahmenbedingungen der Kommunikation lassen sich dann wie folgt erfassen: Gespräch Brief •Die Interaktionsteilnehmer sind zur gleichen Zeit am gleichen...