Konvivenzgemeinschaften und Gemeinwesendiakonie. Die Kunst und Praxis des Zusammenlebens in Kirche und Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 297 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6879-8
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Kirchliche Bildungseinrichtungen, Diakonie, Caritas
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Ökumenik, Konfessionskunde
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Praktische Theologie Christliches Leben & Praxis
Weitere Infos & Material
Das Menschenbild Im ersten Teil der Grundlagen wird auf ein Menschenbild eingegangen, das zur Förderung konvivialer Gemeinschaften dient. Die Sichtweisen des Menschen haben starken Einfluss darauf, wie wir mit unseren Nächsten umgehen, was wir ihnen zugestehen, womit wir bei ihnen rechnen und mit welcher Haltung wir ihnen gegenübertreten. Immer wieder steuern feindselige Haltungen die Kommunikation, denken wir nur an Hate-Speeches im Internet, Falschmeldungen und Verleumdungen, Mobbing, Diffamierung oder gar rechte Propaganda. In solchen Dialogen erleben wir die Abwertung des Menschen, die einseitige Verhaftung in Problemlagen oder die Stigmatisierung von Personen und Personengruppen. Nicht selten verursachen unreflektierte Meinungen Aggression und Gewalt gegenüber Mitmenschen, die wir nicht einmal kennen. So kann man gutes Zusammenleben nicht gestalten. Insofern ist es von großer Bedeutung, mit welchen Einstellungen wir anderen gegenübertreten. Es ist ein ständiger Auftrag, unser eigenes Menschenbild zu überprüfen. Denn auch wir sind nicht davor geschützt, in destruktive Sichtweisen abzugleiten, selbst wenn es nur kurze Momente dauert. In diesen Situationen eigene Irrtümer nicht zu verdrängen, verlangt ein gesundes Selbst-Bewusstsein. Denn beide Gedanken sind im Menschsein, das Gute wollen und das Böse tun. Umso wichtiger ist es, im Laufe des Lebens die eigenen Bilder stetig zu verbessern, sofern sie uns nicht schon mit der Erziehung mitgegeben wurden. Außerdem werden die folgenden Abschnitte mit persönlichen Erfahrungen angereichert. Der Mensch mit seiner Geschichte – der historische Kontext Der Mensch ist kein Wesen, das seine Existenz allein aus dem Hier und Jetzt begründet. Er besitzt eine persönliche Geschichte; er hat Eltern, welche durch Erziehung Einfluss auf ihn nehmen. Und deren Erziehung ist wieder durch die Großeltern geprägt. So gehört zu unserer Prägung stets der historische Kontext, aus dem wir kommen, einschließlich der eigene Familiengeschichte. Es macht eben einen Unterschied, ob jemand aus einer Handwerkerfamilie stammt, die seit Generationen durch einen bestimmten Beruf geprägt wurde, so wie meine Familie, die seit über 400 Jahren aus Landwirten und Zimmerleuten besteht. Es macht auch einen Unterschied, ob jemand aus einem gehobenen Milieu kommt, dem es nicht vergönnt war, die Realitäten einer ungerechten Welt hautnah zu erleben. Es macht einen Unterschied, ob jemand eine glückliche Kindheit verbrachte, oder einen Elternteil durch ein Unglück schon früh verlor. Menschen, denen wir begegnen, bringen ihre eigene Geschichte mit. Und die Geschichte prägt sie in ihren Werten und Einstellungen, in ihren Haltungen, in dem, was sie im Leben vorhaben, welche Berufe sie ergreifen und mit wem sie die Begegnung suchen. Schlüsselerfahrungen können Menschen neu prägen, Vertrauen wecken und optimistische Grundhaltungen verstärken. Als Diakon und Sozialarbeiter in Nürnberg gehört die Obdachlosenzeitung „Der Straßenkreuzer“ zu meiner regelmäßigen Lektüre. Man kann die Zeitschrift nicht abonnieren. So muss ich mich auf den Weg machen, jeden Monat aufs Neue, und die Verkäufer*innen suchen. Selbstverständlich sind mir in kürzester Zeit ihre Verkaufsstellen bekannt. Einem von ihnen, den ich regelmäßig an der Museumsbrücke treffe, kam ich im Laufe der Zeit besonders nahe. Am Anfang lud mich sein Lächeln ein, wenn ich vor seinem Verkaufsstand Halt machte und um den „Straßenkreuzer“ bat. Später begrüßte er mich schon von Weitem und wir lächelten uns gegenseitig freundlich zu. Es war sein Lächeln, das mich ermutigte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und so erfuhr ich seinen Namen und von Zeit zu Zeit immer mehr aus seinem Leben. Später vermisste ich ihn, wenn er nicht an der Verkaufsstelle erschien. Einmal zeigte er sich längere Zeit nicht und ich wurde schon nervös: Hoffentlich war ihm nichts passiert?! Doch dann stand er plötzlich wieder an seinem Platz und erzählte über seine Sehnsucht und den Ausflug nach seiner Heimat in Italien. Aber er entschied sich doch wieder für Nürnberg. Lorenzo ist für mich nicht nur ein Zeitungsverkäufer. Er ist ein Mensch mit einer eigenen Geschichte und Vergangenheit, mit Bildern aus seinem Leben und damit mit einer unverwechselbaren Originalität. Sein Bild und sein Lächeln bleiben, auch wenn es zu keiner Begegnung kommt. Das, was mit Lorenzo passierte, geschieht täglich millionenfach auf dieser Welt. In den Begegnungen spiegelt sich die Philosophie der Obdachlosenzeitung wider. Dort finde ich Geschichten von Menschen, ihren Schicksalsschlägen, ihren Einstellungen und ihren Visionen vom Leben. Plötzlich bekommen Menschen Gesichter. Ich kann sie verstehen, ich kann ihnen vertrauen. Die wertvolle Arbeit des „Straßenkreuzers“ weckt das Interesse an Menschen und belässt ihnen damit die Würde, die den Betroffenen oft genommen wird. Der „Straßenkreuzer“ misst den Menschen Bedeutung zu. Sie sind Teil des Nürnberger Lebens und sind inzwischen für viele Bürger und Pendler Weggefährten während ihrer Einkäufe, Spaziergänge durch die Stadt oder einfach auf dem Weg zur Arbeit. Heute würde es mich nervös machen, wenn sie aus dem Stadtbild verschwänden. Deshalb ist es in der Begegnung mit anderen Menschen ein wesentlicher Kerngedanke, welche Geschichte sie mitbringen. Vielleicht ist einem die Erfahrung vertraut: Im Gespräch mit einem Freund, einer Nachbarin oder am Tresen verändert sich plötzlich die Einstellung zum Gegenüber, nur weil man dessen Lebensgeschichte hört. Vielleicht wurde im Gespräch manches klarer. Zum Beispiel wo er verletzlich ist oder was sie bewegt, in einer bestimmten Weise zu handeln. Vielleicht versteht man jetzt leichter, in welchen Situationen das Gegenüber wütend wird, und vielleicht erkennt man aus der Geschichte Sehnsüchte und Motive für bestimmtes Verhalten. Die Geschichte eines Menschen erklärt vieles, was möglicherweise beim anderen Unverständnis auslösen könnte. Sie hindert auch daran, mit schnellen Vorurteilen oder gar mit einer verkürzten Sichtweise auf andere zuzugehen. Vielleicht entdeckt man im Hören auf andere einen Teil der eigenen Geschichte. In jedem Fall verhindert es ein allzu schnelles und unfertiges Urteil. Und letztlich ermöglicht uns die Erzählung Beziehungen mit neuer Qualität zu pflegen. Man sollte sich nicht beirren lassen und sich die nötige Zeit für ein gutes Gespräch nehmen. Denn im urteilsfreien Zuhören wird Vertrauen aufgebaut. Und wenn wir es schaffen, die Geschichte des anderen im Zwischenmenschlichen zu lassen und nicht für andere Interessen zu nutzen, dann beginnt konviviales Zusammenleben. Der Mensch mit seiner Sprachfähigkeit ist dialogisch angelegt Ich erinnere mich gerne zurück an meine Jugendzeit. In der evangelischen Jugend führten wir oft nächtelange Gespräche, entweder in der Teestube, während einer Geburtstagsfete, auf einer Wanderung oder abends am Lagerfeuer. Die Gespräche waren wesentlicher Bestandteil unserer Reifung und entsprechend wichtig. Damals entschied ich mich für die Friedensfrage und verweigerte mit Überzeugung den Wehrdienst – Ergebnis eines Teestubengesprächs mit mehr als einer Flasche Wein! In Gesprächen reift langsam, aber stetig die Sprachfähigkeit im eigenen Glauben. Zweifeln, Suchen und Entdecken haben ihre Wurzeln in den Gesprächen von damals bis heute. An den Abenden sprachen wir über unser Verhältnis zu Eltern, Lehrern und fragwürdigen Autoritäten, das bei vielen von uns konfliktbeladen war. Sicherlich auch eine Folge der 68er-Prägung. Wir hinterfragten die Werte einer damals fadenscheinigen Umwelt, kritisieren verkrustete Strukturen in Gesellschaft und Kirche, und diskutierten Modelle, wie wir uns ideales Zusammenleben vorstellten. Wir drückten die Sehnsucht nach einem tragfähigen Glauben aus. Es war kein schlichter Smalltalk. Uns ging es um Lebenskonzepte, Werte und Haltungen. Was den Reifungsprozess ausmachte, war der Dialog miteinander. Martin Buber (1878–1965) beschreibt in seinem Buch „Ich und Du“ (Buber, 1983) die Notwendigkeit des Dialogs. Menschen, die sich auf einen Dialog einlassen, erfahren eine Entwicklung. Jeder Mensch, der im Gespräch mit einem anderen ist, geht aus dem Dialog verändert hervor. Das ist eine zentrale Botschaft von Martin Buber. Menschen kennen sich aufgrund der Gemeinschaft und durch viele Begegnungen und Beobachtungen. Sie können ihre Mitmenschen beschreiben, die Welt in ihren Details erfassen und wie ein Mosaik zusammensetzen. Und nicht selten fällen sie aufgrund der Erkenntnisse ein Urteil über andere. Wenn Menschen voneinander berichten, dann sind es in der Regel Beschreibungen, eine Sammlung von Fakten und Daten und somit eine begrenzte Sicht. Martin Buber benennt diese Erfahrungen mit dem Grundwort „Ich-Es“. Aber Martin Buber geht auf ein zweites Grundwort ein, das „Ich-Du“. Während die Ich-Es-Welt über „etwas“ berichtet und Menschen in ihrer Begrenztheit wahrnimmt, ist die Ich-Du-Welt frei von Beschreibungen und Grenzen. Man könnte auch vom Ganzen sprechen, das immer mehr ist als die Summe der Teile. „Ich-Du begründet zwischenmenschliche Beziehungen“, so Martin Buber. In solchen Beziehungen sehe ich das ganze Wesen Mensch, sein Leben, seine Würde, seine Ebenbildlichkeit Gottes. „Ich-Du“ löst Grenzen auf und ist getragen von einem Ja zum anderen. Ich erinnere mich gerne an meine Schwiegermutter. Sie lebte bei uns im Haus und war ein fester Anker für unsere Kinder. Wenn ich mit unserem Sohn schimpfte, weil er wieder etwas „angestellt“ hatte, dann intervenierte sie: „Der Junge“, so betonte sie aus unerschütterlicher innerer Überzeugung, „ist ein...