Erzählen im Kino des 21. Jahrhunderts
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7445-1678-5
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
2. WAS WAR: DIE GÄNGIGEN DREHBUCHMODELLE
»In order to use new strategies, however, you have to know the conventions of scriptwriting.« (Ken Dancyger)1 Im Folgenden sollen die bereits angeführten Ratgeber des Korpus auf ihre Dramaturgiekonzepte hin untersucht werden. Dabei stehen die Anforderungen an den strukturellen Aufbau der Handlung im Vordergrund. Zunächst wird sich der Einteilung in Akte und den dramatischen Handlungspunkten gewidmet, um dann den Komplex von Figur, Konflikt und Ziel zu beleuchten und auf die dramaturgischen Mittel einzugehen. 2.1 Der dramaturgische Aufbau
»›Begin at the beginning‹, the king said gravely, ›and go on till you come to the end: then stop.‹« (Lewis Carroll, Alice in Wonderland) 2.1.1 Die Dreiteilung
Die in einem Drehbuch dargestellte Handlung soll einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Über diese Forderung, die erstmals in Aristoteles’ Poetik formuliert wurde, sind sich alle Drehbuchratgeber einig.2 Die Handlung beginnt, baut sich über einen gewissen Zeitraum auf und endet mit einer Auflösung. Diese Dreiteilung wird in der Drehbuchliteratur mit einer Einteilung in drei Akte gleichgesetzt.3 Die Akte lassen sich in Sequenzen und diese wiederum in die Grundbausteine des Drehbuchs, die Szenen, aufteilen, wobei auch jede einzelne Szene eine Struktur von Anfang, Mitte und Ende besitzen soll.4 Der erste Akt wird von den meisten Autoren als »Exposition« bezeichnet. Er dient der Einführung in die Geschichte, in die dramatische Situation und deren Schauplatz sowie der Vorstellung der Hauptfigur(en).5 Die Exposition soll dem Rezipienten alle entscheidenden Informationen geben, die er braucht, um die Geschichte zu verstehen, also den Ereignissen folgen zu können. Um die Geschichte ins Rollen zu bringen, bedarf es eines Ereignisses, welches das Leben der Hauptfigur durcheinander bringt, und in dieser den Wunsch nach einer Beendigung des dadurch gestörten Zustandes hervorruft. Daraufhin soll der Protagonist ein Ziel ins Auge fassen, das er zur Auflösung dieses Zustandes erreichen muss.6 Im zweiten Akt, der »Entwicklung«, »Komplikation« oder »Konfrontation«, geht es hauptsächlich um den Weg der Hauptfigur zum Ziel sowie um die Hindernisse, die sich ihr dabei in den Weg stellen. Die motivierte Verfolgung des Ziels und die zu überwindenden Hindernisse sollen den Protagonisten immer auch in einen Konflikt mit antagonistischen7 Kräften stürzen. In diesem längsten der drei Akte ist Raum für die Entwicklung eventueller Nebenhandlungen.8 Die Konfrontation mit den konfliktverursachenden Kräften findet ihren Höhepunkt im dritten Akt, der »Auflösung«. Hier sollen, wie der Name schon sagt, sämtliche Konflikte und Handlungsstränge aufgelöst werden, ohne offene Enden zu lassen, und die Geschichte zu einem für den Rezipienten befriedigenden Abschluss geführt werden.9 In seinem an Untersuchungen über Mythen und Märchen angelehnten Modell bezeichnet Vogler die drei Teile der Handlung als Aufbruch, Initiation und Rückkehr. Voglers Modell beinhaltet die Auffassung, dass sich der Protagonist (gezwungenermaßen oder freiwillig) aus seiner vertrauten in eine ihm unbekannte Welt bewegt, am Ende jedoch wieder in seine gewohnte Welt zurückkehrt.10 Vale spricht von vier Phasen: einem ungestörten Zustand, einer Störung, einem Konflikt und einem beruhigten Zustand, was sich ebenfalls als dreiteilig auffassen lässt, da die Störung eher ein punktuelles Ereignis denn eine Phase darstellt.11 Der amerikanische Filmwissenschaftler David Bordwell fasst diese Modelle in einer Formel des »canonic story format« zusammen: »The classical film respects the canonic pattern of establishing an initial state of affairs which gets violated and which must then be set right.«12 Hier lässt sich gleichfalls die Dreiteilung in einen anfänglichen Zustand, einen gestörten Zwischenzustand und einen beruhigten Endzustand erkennen. Mit der Bezeichnung »Dreiaktstruktur« kann sowohl ein allgemeines dramaturgisches Grundschema gemeint sein, wie die kanonische Geschichtenform, als auch eine spezielle Variante von ihr, die »restaurative Dreiaktstruktur«, die sich in den Drehbuchratgebern findet. Beides sind konventionelle Erzählmodelle, wobei ersteres weiter gefasst ist und auch für dramatische Erzählungen, die mehr oder weniger als drei Akte haben, gilt.13 Die restaurative Dreiaktstruktur ist das am häufigsten genutzte Modell im klassischen Hollywoodfilm. Es hat seinen Ursprung im sogenannten »well-made play« (»pièce bien faite«), das von dem französischen Autor Eugene Scribe im 19. Jahrhundert perfektioniert wurde und zur populärsten dramatischen Form der französischen und englischen »middle class« avancierte. Charakteristisch für dieses Modell sind eine klare und logische Auflösung sowie eine komplette Wiederherstellung der Ordnung, so dass Fantasien von Regelbrechungen zwar ausgelebt werden können, jedoch ohne den gesellschaftlichen Rahmen zu gefährden, was im Europa nach den Napoleonischen Kriegen von Bedeutung war.14 Nach diesem knapp zusammengefassten Handlungsaufbau lassen sich bereits einige, für die Drehbuchdramaturgie charakteristische Merkmale festhalten: ein final ausgerichteter, linearer Handlungsablauf in drei Akten, der von kausalen Beziehungen bestimmt wird. Im Folgenden soll der Aufbau der Drehbuchhandlung im Detail dargelegt werden. 2.1.2 Die dramatischen Handlungspunkte
Neben den Akten oder Handlungsphasen als Bestandteilen des Drehbuchs führen die Ratgeber verschiedene Handlungspunkte an, die für die Geschichte von zentraler Wichtigkeit sind. Der erste dieser Handlungspunkte, das »auslösende Ereignis«, wie McKee ihn treffend nennt, bringt das Kräftegleichgewicht des Protagonisten durcheinander und zwingt ihn, zu reagieren. Damit soll es die Hauptursache für alles, was folgt, darstellen und die Komplikationen, die Krise, den Höhepunkt und die Auflösung in Bewegung setzen.15 Dieses auslösende Ereignis kann auch eine Entscheidung oder Information sein, weshalb Schütte und Seger es allgemeiner als »Anstoß« bezeichnen.16 Hant betont, dass durch diesen (von ihm so genannten) »Plot-Beginn« etwas in Bewegung gebracht werde, das nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, und der Protagonist somit gezwungen sei, alle seine Fähigkeiten auszuschöpfen, um das Ziel zu erreichen und sein Leben so in einen neuen Zustand des Gleichgewichts bzw., laut Vale, der Beruhigung zu bringen.17 Damit der Rezipient die Störung im Leben des Protagonisten auch als solche wahrnehmen kann, sei es – wie in der Exposition gefordert – notwendig, zunächst den Protagonisten im ungestörten Zustand, in seiner alltäglichen Welt zu etablieren.18 Der Begriff der Störung bedarf hier insofern einer Klärung, als es sich durchaus auch um eine Störung im positiven Sinne handeln kann oder um ein Ereignis, das lediglich eine Veränderung einer Situation auslöst anstatt ein Gleichgewicht zu stören. Der Rezipient soll durch das auslösende Ereignis veranlasst werden, sich die »dramatische Hauptfrage« oder »zentrale Frage«, eine Variante von »Wie wird das ausgehen?« zu stellen.19 Laut Hant enthält die zentrale Frage immer schon das Ziel des Protagonisten, was bedeutet, dass bezüglich des Ausgangs der Geschichte die Frage besteht, ob der Protagonist sein Ziel erreicht oder nicht. Wie er dorthin gelangt und wie die Situation letztendlich ausgeht, sei ungewiss, aber dass es eine letzte Konfrontation zwischen dem Protagonisten und den antagonistischen Kräften geben muss, stehe fest.20 Diese letzte Konfrontation soll im Höhepunkt stattfinden. Der Höhepunkt ist der abschließende, wichtigste Handlungspunkt, der sich am Ende des dritten Akts befindet. Er soll den Protagonisten entweder zum Sieg oder zur Niederlage gegenüber den antagonistischen Kräften führen und so die Antwort auf die anfangs gestellte zentrale Frage liefern. Nach Seger hat die Klimax mehrere Aufgaben: Sie ist der Moment, in dem das Problem gelöst, die Frage beantwortet ist und die Spannung nachlässt.21 Innerhalb der Geschichte gibt es den Ratgebern zufolge mehrere dramatische Handlungspunkte, von denen zwei allerdings unabdingbar für den Aufbau der Geschichte sind.22 Diese beiden Wendepunkte, auch Plot Points genannt, definiert Field jeweils als einen »Vorfall oder ein Ereignis, das in die Handlung eingreift und sie in eine andere Richtung lenkt«.23 Auch Seger erwähnt deren richtungsändernden Charakter und fügt hinzu, dass sie oft einen Moment der Entscheidung darstellen und eine neue Perspektive auf die Handlung vermitteln.24 Ihre Funktion sieht Schütte darin, die Vorhersagbarkeit der Geschichte zu unterbrechen, was Hant mit einer...