Bertram / Rüsenberg | Improvisieren! Lob der Ungewissheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Bertram / Rüsenberg Improvisieren! Lob der Ungewissheit

[Was bedeutet das alles?] - Bertram, Georg W.; Rüsenberg, Michael - Erläuterungen; Denkanstöße; Analyse - 14164

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-961936-1
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Mensch ist das improvisierende ?Tier? schlechthin. Denn er kann aus mangelnder Vorbereitung Chancen kreieren, sich Situationen anpassen und mit Flexibilität das Beste daraus machen. Improvisation darf dabei nicht mit Stümperei verwechselt werden. Der Jazzmusiker Lee Konitz forderte etwa von Mitmusikern und Zuhörern, darauf vorbereitet zu sein, unvorbereitet zu sein. Wer also souverän mit unklaren Situationen umgehen möchte, sollte den Zwang zur Improvisation niemals fürchten: Herausforderungen und Krisen sind ohne diese grundlegende menschliche Fähigkeit nicht zu meistern.

Georg W. Bertram, geb. 1967, Professor für Ästhetik und theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Michael Rüsenberg, geb. 1948, Autor, Musikjournalist, Klangkünstler.
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Improvisieren im Jazz und darüber hinaus
Was ist Improvisation? So lautet die für unsere Überlegungen grundlegende Frage. Was läge näher, als mit ihr beim Jazz anzusetzen – und bei jemandem, der sich damit ohne jeden Zweifel auskennt, bei Keith Jarrett (*1945)? Viele würden ihn sicher gerne nach seinem Verständnis von Improvisation fragen, beispielsweise einige der mehr als vier Millionen, die in physischer Form das Werk besitzen, das zumindest quantitativ wie ein Olymp aus seinem umfangreichen Œuvre herausragt: »The Köln Concert«, der Mitschnitt aus der Kölner Oper vom 24. Januar 1975, in dem der Pianist eine gute Stunde lang improvisiert. Das Album avancierte zum bestverkauften Piano-Solo-Album aller Genres. »Wie machst du das?« »Was?« »Aus dem Nichts heraus spielen.« Das ist der Beginn eines kurzen Dialoges Ende der 1960er Jahre in einem amerikanischen Jazzclub. Bevor es einem Musiker gelingt, Jarrett in seine Band zu holen, richtet er diese Frage an ihn – er selbst ein Musiker, der zu diesem Zeitpunkt schon über eine zwei Jahrzehnte umfassende und bedeutende Improvisationspraxis verfügt: Miles Davis (1926–1991). Miles Davis also fragt Keith Jarrett. Und der sagt: »Ich mach’s einfach!« Viele Jahre später, als er sich selbst erneut diese Frage vorlegt, weiß Jarrett noch immer keine befriedigende Antwort zu geben: »Ich habe keine Ahnung, wie der ›spontane Komponist‹ sein Material erzeugt oder wie der ›freie Improvisator‹ frei bleibt.«5 So oder ähnlich beschreibt sich die Jazzszene selbst, indem sie ihr oft genanntes, auffälligstes Kennzeichen feiert: die spontane Erfindung aus dem Moment heraus, ohne erkennbare Vorbereitung, also die Improvisation. Und es bedürfte vermutlich keines großen Aufwandes, um diese Selbsteinschätzung auch extern, im Rahmen einer repräsentativen Umfrage zu bestätigen: Der Ort der Improvisation ist der Jazz. Selbst wer die Musik nicht mag, wird sich dieser Zuschreibung nicht verweigern (vielleicht ist das Improvisieren sogar der Grund für die Abneigung). Was aber macht Improvisation im Jazz aus? In der Jazzwelt finden wir Stimmen, die eine Musik schon dann für ›Jazz‹ halten, wenn sie wissen, dass sie improvisiert ist. Sie überhören, dass andere Parameter, zum Beispiel die rhythmische Eigenschaft ›swing‹, in weitaus höherem Maße als Alleinstellungsmerkmal taugen; und sie übergehen große Teile seiner Geschichte, nämlich die Zeit vor dem Modern Jazz bzw. vor dem Beginn des Bebop in den frühen 1940er Jahren. Davor, im New Orleans Jazz, wurde wenig improvisiert, und auch für die Ära des Swing etwa in den Big Bands von Paul Whiteman (1890–1967), Tommy Dorsey (1905–1956) und Benny Goodman (1909–1986) hatte das Improvisieren bei weitem nicht die Relevanz wie in späteren Jazzstilen. Der Musikwissenschaftler Björn Heile analysierte in dieser Hinsicht Videos von Tourneen des Duke Ellington Orchestra in den Jahren 1969 und 1971; er entdeckt darin wenig Spontaneität und ganz überwiegend Routine; so greift er heraus, dass beispielsweise der Trompeter 1971 (Cootie Williams, 1911–1985) in »Take the A-Train« ein Solo spielt, das sich nur marginal von dem seines Vorgängers 1941 im selben Stück unterscheidet (Ray Nance, 1913–1976, der seinerseits seine Soli jeweils Note für Note wiederholen konnte). Ellingtons (1899–1974) Praxis, folgert Heile, sei »weitgehend inkompatibel mit dem Jazz-Mythos«, und wundert sich, »warum ein Element des Jazz, Improvisation, das wesentlich zu manchen seiner Formen gehört, zum Hauptunterscheidungsmerkmal eines ganzen Genres stilisiert wurde«. Kurz: Nur der Jazz selbst habe »Improvisation in den Rang einer Ideologie gehoben«.6 Dieses Urteil soll die kreativen Leistungen von Legionen von Jazzmusiker*innen nicht entwerten, sondern ist vielmehr als ein Beitrag zu einer Selbstverständigung im Jazzdiskurs zu verstehen, als eine Bestimmung dessen, was den Jazz ausmacht. Man muss nüchtern feststellen: Es gibt Jazz auch ohne Improvisation. Wir müssen also konstatieren, dass es nicht weiterführt, Improvisieren mit Jazz zu identifizieren. Zudem werden dem Improvisieren, konkret: dem Solist*innentum, im Jazz klar definierte Räume zugewiesen. Dort spielt sich Improvisation ab; sie lediglich mit minimalen Variationen oder vorformulierten bzw. ›scripted solos‹ auszugestalten, gilt inzwischen als unpassend. Jazz-Komponist*innen (die es heute in zunehmendem Maße gibt) weisen solche Räume ausdrücklich auch deshalb aus, weil in ihnen kreative Lösungen möglich sind, die sich im Rahmen einer Komposition nicht erzielen lassen.7 Eines der tragenden ästhetischen Prinzipien des Jazz, eine eigene Stimme zum Ausdruck zu bringen, findet auch hier seinen Niederschlag. Allerdings ist es nicht immer leicht, dort, wo sich Improvisationen ereignen, diese überhaupt als solche zu erkennen, das Neue an ihnen wahrzunehmen. Das bloße Hören einer Performance führt oft nicht weiter. Viele reagieren mit völliger Überraschung: Man habe nie und nimmer gedacht, der Anfang des »Köln Concert« sei spontan entstanden. Und mindestens ebenso oft fragen bei Jazzkonzerten noch Unerfahrene, ob das Solo, das gerade in hohem Tempo erklingt, improvisiert oder vorher notiert worden sei, also memoriert werde. Ohne eine große Vertrautheit mit dem jeweiligen Genre kann man solche Fälle nicht halbwegs verlässlich beurteilen. Vieles in einer Jazz-Performance ist geregelt. Zu den Konventionen, die dabei im Spiel sind, gehört, dass eine Musikerin für ein Solo mitunter an ein gesondertes Mikrofon tritt, dass andere Bandmitglieder sie in dieser Zeit begleiten oder gar – bei einem Schlagzeugsolo – an den Bühnenrand wechseln oder dass die Bandleaderin nach einem Solo das Publikum durch Nennung des Namens der Solistin zu animieren versucht, zu applaudieren. Auch aus der Perspektive des Hörens sind vielfältige Konventionen im Spiel. Denn auch diejenigen, die die Musik rezipieren, wirken an ihrem Entstehen mit: Eine Hörerin hat Erwartungen an den Fortgang einer Musik (ohne diese würde sich für sie kein spannungsreicher Musikgenuss ergeben). Doch kann sie zu keinem Zeitpunkt einer Performance das Wissen des Saxophonisten über den nächsten Moment teilen. Auch wenn Letzterem selbst in vielen Momenten des Spielens dessen Zustandekommen unklar sein mag (was oft mit dem Begriff ›Flow‹ erklärt wird, auf den wir noch zurückkommen), so sind seine Intentionen niemals deckungsgleich mit denen seiner Zuhörer*innen. Dass eine Hörerin mit ihren Erwartungen das prägt, was sie hört, wurde vielfältig belegt. So hat beispielsweise Clément Canonne (*1980) in einer Hörstudie auf ein und dasselbe Musikstück (»frei improvisiert« von Klarinette und Saxophon) sehr unterschiedliche Bewertungen erhalten, je nachdem, ob er vorher angekündigt hatte, es handele sich um komponierte oder improvisierte Musik.8 Im Falle der Ankündigung, es folge eine Komposition, sei das Stück als strukturelle Einheit wahrgenommen worden, wohingegen die Ankündigung einer Improvisation dazu geführt habe, dass man einen Fokus auf das interaktive und dynamische Moment der Musik gelegt und sie entsprechend beschrieben habe. Das aktive Mitwirken der Zuhörer*innen wird unter anderem in Bildern beschworen, in denen Musiker*innen sich mit ihrem Publikum sozusagen ›auf Ohrenhöhe‹ wähnen. Keith Jarrett potenziert diese Vorstellung, indem er schreibt: Wenn Sie diese Musik hören, dann wissen Sie ganz genau so viel wie wir über den nächsten Moment. […] Der einzige Unterschied zwischen Ihnen – als Zuhörer – und dem Trio [mit Gary Peacock, 1935–2020, und Jack DeJohnette, *1942, Anm. d. A.] ist, dass wir es sind, die physisch in das Unbekannte vorstoßen müssen.9 Hier wird noch ein wichtiges Kennzeichen sowohl des Jazz als auch des Improvisierens sichtbar: Der Unterschied zwischen Produktion und Rezeption ist verwischt. Wer produziert, muss zugleich auf andere hören; er ist – so Aaron Berkowitz – beides, »Schöpfer und Zeuge«10. Stellen Sie sich einen Saxophonisten vor, der in einem Quartett einfach nur so vor sich hin spielt, ohne etwas von den anderen mitzubekommen. In diesem Fall wird schwerlich eine gelungene Improvisation herauskommen. Derjenige, der in einer Improvisation aktiv ist, muss immer auch zugleich all das wahrnehmen, was um sie oder ihn herum geschieht. Das Zusammenspiel von eigener Aktivität und dem Hören auf andere weist uns auf den sozialen Charakter der Jazz-Musik. Der Jazzdiskurs betont immer wieder die interaktive und kommunikative Dimension, die sich als eine Struktur wechselseitigen Herausforderns und Aufeinander-Antwortens erläutern lässt. Entsprechend hat es auch Vorschläge gegeben, den Jazz als soziales Modell auch für außermusikalisches Handeln zu begreifen. Am improvisatorischen Zusammenspiel soll abzulesen sein, wie man erfolgreich miteinander zusammenarbeitet – und das beschränkt sich natürlich nicht nur auf Jazz. Der soziale Charakter des Improvisierens findet sich überall dort, wo es, in welcher Form auch immer, zu Improvisationen kommt. Improvisation ist kein Alleinstellungsmerkmal...


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