Wie wir uns von der Gesellschaft leiten lassen und dabei die Wirklichkeit selbst mitgestalten
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0854-4
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Sachkultur, Materielle Kultur
- Geisteswissenschaften Philosophie Kulturphilosophie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Sozialisation, Soziale Interaktion, Sozialer Wandel
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Flaggen, Embleme, Symbole, Logos
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Vorwort
Den Sinn für das Symbolische wecken: Einleitung
Von der Wiege an: Grundhaltungen
Wege, Zonen, Schilderwälder: Öffentlicher Raum
Pomp, Gehabe, Distinktion: Statussymbole
Vorzeigbarkeit, Verruchtheit, Tagträume: Sexsymbole
Totems, Logos, Zeremonien: Gemeinschaftssymbole
Mythen, Metaphern, Medienereignisse: Weltbilder
Für eine Soziologie der Symbolik: Akademische Stellungnahme
Symbol und Gesellschaft: Theoretische Nachlese
2Von der Wiege an.
Grundhaltungen Beißringe, Kuscheltiere, Gute-Nacht-Küsschen – Wo fängt das Symbolische an? Ab welchem Alter und seit welchem kulturhistorischen Zeitpunkt ist der Mensch in der Lage, Symbole zu verstehen? Muss den Beteiligten die Bedeutung der Symbolik immer vollends bewusst sein, und wenn nicht: An welche (geistigen) Voraussetzungen ist die Verwendung von Symboliken gebunden? Fasst man – wie dies häufig geschieht – den Gebrauch von Symbolen als eine Form der zwischenmenschlichen Verständigung auf, dann möchte man meinen, dass dazu gewisse sprachliche Fähigkeiten erforderlich wären oder dass der Bezug auf Symbole zumindest als eine Vorform des Sprechens (oder ein Ersatz dafür) zu begreifen sei. In diesem Falle wäre anzunehmen, dass sich der Sinn für Symbole parallel zum Spracherwerb entwickelt. Symbole sind demnach schlicht Teil des Spektrums menschlicher Kommunikation. Wenngleich diese Auffassung nicht wirklich falsch ist, so droht sie doch gerade die interessantesten Aspekte auszublenden. Sich ihrer Grenzen klar zu werden bildet die Grundlage, aus der heraus alle wesentlichen Einsichten zum Thema Symbole erwachsen. Es bietet sich daher an, mit der Betrachtung einfachster Formen des Sprachgebrauchs bei Kleinkindern anzufangen, um der Bedeutung symbolischer Strukturen behutsam auf die Spur zu kommen. Gewöhnlich heißt es, dass Babys nach etwa einem halben Jahr beginnen, sprachliche Bedeutungen zu verstehen. Der aktive Gebrauch von Worten als Bezeichnungen für Dinge setzt dann im Alter von ein bis zwei Jahren ein. Zur Unterstützung dieser Entwicklung – oder jedenfalls zur Beschäftigung der kleinen Quälgeister – dienen erste Bilderbücher, in denen einfache Objekte, zumeist Fahrzeuge, Spielzeug und Tiere abgebildet sind. Bei Bilderbüchern dieser Art wird noch keine Geschichte erzählt – jedes Bild entspricht einem Wort. Es ist, als bestände die Welt schlicht aus einer Menge von Gegenständen und jedes davon hätte einen Namen, sodass die Sprache nichts als eine verbale Verdoppelung der Welt beinhaltete.13 Die sprachliche Welt wäre dann ein – mehr oder weniger unvollkommenes – geistiges Abbild der materiellen Welt. Jede Idee entspräche einem Ding und umgekehrt. Und wie jeder hinreichend bedeutsame Gegenstand seine eigene sprachliche Bezeichnung hat, so können bekanntlich für bestimmte reale Gegebenheiten anstelle von Begriffen gegebenenfalls auch Symbole stehen, so etwa auf den Tasten einer Armatur. Beim Bilderbuch hingegen tritt das Bildsymbol gar an die Stelle der wirklichen Objekte (Feuerwehrauto, Frosch, Maulwurf), die oft schlecht verfügbar oder weniger pflegeleicht sind, sodass beim gemeinsame Anschauen gewissermaßen eine logische Zuordnung von Realobjekt, Bildsymbol und Wort vor Augen geführt wird. Nun ist diese in der Kleinkindbildung übliche Verfahrensweise schon allein deshalb fragwürdig, weil Sprache eben nicht auf so simple Weise funktioniert, nicht einmal im abendländischen Kulturkreis mit seiner auf der Unterscheidung von Subjekt, Prädikat und Objekt basierenden Grammatik. Wir verständigen uns ja gewöhnlich nicht, wie dies im Übrigen viele Vertreter der sogenannten Analytischen Philosophie zu glauben scheinen, anhand von Sätzen wie »Dieser Ball ist rot.«, sondern gebrauchen Formulierungen wie »Hammer, Alter!«, »Sehr geehrte Damen und Herren«, »Fein, mein Kleiner!« oder »Na, na, na!«, denen nicht ohne weiteres einer der Wahrheitswerte »wahr« oder »falsch« zugewiesen werden kann. Dass die Wirklichkeit durch Sprache nicht nur abgebildet sondern auch konstruiert wird, da diese stets – wie man sagt – durch die kulturelle Brille der Begriffe wahrgenommen wird, und dass jede Kommunikation neben sachlichen auch soziale Botschaften vermittelt, ist von zahlreichen namhaften Autoren in verschiedenen Theoriesprachen festgehalten worden, so etwa durch die Schule von Paolo Alto (Watzlawick, Bateson), die Sprechakttheorie (Austin, Searle) oder die Systemtheorie (Luhmann), um hier nur einige der wichtigsten Ansätze zu nennen. »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« reimte bekanntlich bereits Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft. Es ist hier nicht der Ort, die unterschiedlichen Versionen und akademischen Debatten im Einzelnen durchzugehen, zumal man Erkenntnisse dieser Art besser auf die eigene Erfahrung stützt. Die großen Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts haben nicht von ungefähr viele ihrer Einsichten aus der Beobachtung ihrer eigenen Kinder gewonnen. Entscheidend war der Blick auf das Allgegenwärtige, nicht der privilegierte Zugang zu künstlich erzeugten Daten. Wo sonst bekäme man die Gelegenheit, die Entwicklung des Denkens, Sprachvermögens und Sozialverhaltens in vergleichbarer Intensität studieren zu können? Die Tochter des Autors dieser Zeilen gehörte jedenfalls nicht zu jenen, die als erstes Wort »Auto« sagen (womit das Kind womöglich die Idee einer gemeinsamen Unternehmung und des unterwegs-Seins verbinden mag). Ihre ersten Verknüpfungen von Sprachäußerung und Verhalten betrafen die von einem »Bim-Baum« begleitete Pendelbewegung einer vom Großvater vor ihren Augen hin- und hergeschwenkten Uhr, die Intervention mit »Nein« beim provokativen Krabbeln in Richtung einer für sie verbotenen Zone um den Kachelofen herum und das mit einem »Da!« verbundene Zeigen auf eine Gruppe frisch geschlüpfter Schmetterlinge in einem Busch. Keiner der drei Fälle betrifft die explizite Bezeichnung von Gegenständen. Im ersten handelt es sich um die Miniatur eines rituell wiederholten Bewegungsablaufs: Das langsame und kontrollierte Pendeln war für das Kleinkind zugleich gemeinsames Erlebnis, Vorführung und physikalische Studie; es war ebenso faszinierend wie vorhersehbar und bildete daher einen optimalen Anreiz zur »Verlautbarung« des Vorgangs. Der zweite Fall verdeutlicht die Eigenschaft von Kommunikation, Zustimmung oder Ablehnung zu signalisieren – etwa mittels der Unterscheidung zwischen Ja und Nein.14 Die der körperlichen Intervention vorausgehende verbale Reaktion ruft auf Seiten des Kindes eine dem Kitzeln vergleichbare Wonne hervor: Es muss geradezu immer wieder aufs Neue die verbotene Tat andeuten, um in genüsslicher Erwartung zuerst das mündliche Verbot zu vernehmen und dann die unter Protest erlittene Ingewahrsamnahme zu erzwingen. Die dritte Situation endlich verdeutlicht die Bedeutsamkeit kontextbezogener Verweise auf das Hier und Jetzt15, durch die die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf ein bestimmtes Phänomen oder ein gemeinsames Thema gelenkt wird, ohne dass der jeweilige Gegenstand damit bereits explizit auf einen Begriff gebracht werden müsste.16 Alle drei Beispiele stellen situationsgebundene Lernerfahrungen dar, die – wie nicht schwer zu sehen ist – später als Modell für ähnliche Situationen dienen werden, in denen das Gelernte in abgewandelter Form wiedererkannt wird. Jede Schaukelbewegung erinnert fortan an das großväterliche Pendeln, jedes Verbot an jene Urszene am Kachelofen, jede zeigenswerte Auffälligkeit an das gemeinsam beobachtete Ereignis im Busch. Auf diese Weise kann das Kind nach und nach Strukturen in seiner Umwelt identifizieren, indem es sie vorläufig jenen in seinem Gedächtnis bereits vorhandenen zuordnet, welche im Bewusstsein jeweils die ursprüngliche Situation repräsentieren. Dies mag dann ein Ausgangspunkt für weitere (auch sprachliche) Differenzierungen sein. Die verbale Untermalung solcher psychischen Entwicklungssprünge spielt offenbar eine wesentliche Rolle, und dies nicht nur insofern, als es sich in den geschilderten Situationen um Interaktionen handelt. Tatsächlich lässt sich die symbolische Rekapitulation des Beobachteten oder Vorgestellten als die entscheidende Komponente für die Entwicklung des logischen Denkens begreifen. Diese geht einher mit dem stellvertretenden Gebrauch von Wörtern, Objekten und Bewegungen, anhand derer das Kind sich die Rollen, Problemlagen oder Konstellationen seiner sozialen Umwelt spielend zu eigen macht. Dazu werden Geschehnisse aller Art kommentiert und nacherzählt, Situationen nachgestellt und Abläufe simuliert. Puppen stehen für Personen, Kisten für Fahrzeuge. Ein oft zitiertes Beispiel hierfür bietet jenes von Piaget beschriebene Kleinkind, dass bei der Betrachtung einer Streichholzschachtel mehrmals den Mund öffnet und schließt, bevor es schließlich den Mechanismus der Schachtel begreift und diese zu öffnen lernt. Piaget bezeichnet die stellvertretende Verwendung von Gegenständen, Körperteilen usw. zur Modellierung der wahrgenommenen Umwelt allgemein als »Symbolspiel«.17 Ein Großteil des kreativen Verhaltens von Kindern besteht aus unterschiedlichen Varianten derartiger Symbolspiele. Insbesondere die sprachliche Modellierung der gewonnenen Erfahrungen wirkt sich entscheidend auf die Erschließung der Welt aus. Es geht bei dieser basalen Form des Sprachgebrauchs insofern weder vorrangig um Informationsaustausch, noch um eine argumentative Verständigung über unterschiedliche Ansichten, sondern schlicht um die allmähliche Aneignung einer sozialen Lebenswelt, die nur qua Kommunikation zu einer gemeinsamen, kollektiv geteilten Welt werden kann. Die Vernachlässigung solcher grundlegenden Funktionen der menschlichen Sprache wie die rituelle Markierung routinisierter Handlungsabläufe (Lernsituation 1), die Signalisierung von Zustimmung bzw. Ablehnung (Lernsituation 2) oder die Verortung in einem bestimmten Kontext (Lernsituation 3) durch das besagte Bilderbuchparadigma wäre indes unerheblich – da dem Kind schließlich andere Lernmöglichkeiten offenstehen –, käme nicht noch der schwerwiegendere Vorbehalt hinzu, dass durch den...