- Neu
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
Bartel Gebrochene Versprechen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86854-408-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Ende des Kalten Krieges und der Aufstieg des Neoliberalismus
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-86854-408-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fritz Bartel ist Professor of International Affairs an der Bush School of Government and Public Service der Texas A&M University.
Weitere Infos & Material
1 Der Ölschock im Kalten Krieg
Am 10. Dezember 1976 reiste Willi Stoph, der Vorsitzende des DDR-Ministerrats, enttäuscht und mit leeren Händen aus Moskau ab. Er hatte die sowjetische Hauptstadt besucht, um eine Erhöhung der Öllieferungen an die DDR zu erreichen, doch sein Amtskollege Alexei Kossygin lehnte die Anfrage rundweg ab. »Dafür haben wir keine Ressourcen«, erklärte Kossygin bei ihrem Treffen im Kreml. »Bei uns ist der Mangel an Energie akut […]. Sie müssen also aus den Wolken heruntersteigen.« »Ich bin nicht im Himmel«, schoss Stoph zurück. »Aber Sie wollen von uns erhöhte Lieferungen«, erwiderte Kossygin. »Nach dem Bedarf können wir nicht liefern. Niemand in der Welt kann das.«1
Als die beiden Politiker durch die Straßen Moskaus zum Flughafen fuhren, wo Stophs Flieger auf ihn wartete, versuchte Kossygin die Stimmung zu heben, indem er seinen Genossen an die überwältigenden Vorzüge des sozialistischen Systems gegenüber der kapitalistischen Welt erinnerte, in der großes Chaos herrsche. »Wir verstehen, daß die Lage in der DDR nicht leicht ist«, so der sowjetische Ministerpräsident, aber »verglichen mit der Situation der kapitalistischen Staaten, [sind] alle sozialistischen Länder – die UdSSR ebenso wie die DDR – in einer unvergleichlich besseren Lage«. Für Kossygin waren die Vorteile offensichtlich. Die sozialistischen Länder seien »in der Lage, bis 1980, 1985 und darüber hinaus zu planen und die Linien unserer Entwicklung zu bestimmen«. Dagegen könnten »die kapitalistischen Länder nicht einmal für die nächsten drei Monate planen«. Vielleicht linderte Kossygins Vergleich tatsächlich die Enttäuschung seines Genossen, denn nun schloss sich Stoph der Kritik an den ideologischen Widersachern an und wies darauf hin, dass »alle Planifikationsversuche der kapitalistischen Staaten nur dazu geführt hätten, sie in die Krise zu manövrieren«. Kossygin pflichtete ihm bei und kam zu dem Schluss: »Unsere Lage ist also tausendmal besser.«2
Um dem zuzustimmen, musste man Mitte der 1970er Jahre kein kommunistischer Ideologe sein. Tatsächlich glaubten im Westen viele, die Wirtschaftskrisen am Anfang des Jahrzehnts hätten grundsätzliche Schwachstellen von Kapitalismus wie Demokratie offenbart. Das gleichzeitige Auftreten von hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflation im gesamten Westen verblüffte sowohl die ökonomischen Fachkreise, die sich mit Marktwirtschaften auseinandersetzen, als auch die demokratisch gewählten Regierungen, die sie politisch steuern mussten. Die herrschende Wirtschaftsdoktrin des Keynesianismus bot wenig Antworten auf die Welt der »Stagflation«, und die wenigen, die sie vorlegte – erhöhte Staatsausgaben und lockere Geldpolitik –, schienen die Probleme nur zu vertiefen. Da demokratische Regierungen den Forderungen aller Bürgerinnen unterworfen sind, meinten damals viele Stimmen, die westlichen Wohlfahrtsstaaten seien zu chronisch hoher Inflation verdammt: Um gewählt zu werden, versprachen Politiker der Bevölkerung zu viel des guten Lebens. In der Außenpolitik dominierte unterdessen das neue Schlagwort »Interdependenz« die Debatte über die Rolle des Westens in der Welt, und die Zeit, in der westliche Gesellschaften ihr eigenes Schicksal steuerten, schien zur Neige zu gehen. Was konnte der entwickelte Westen gegen seine Abhängigkeit vom Öl aus dem Nahen Osten tun? Viele Zeitgenossen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs sahen keinen Ausweg. Konnten demokratische Regierungen das Rätsel der Stagflation lösen, indem sie der Bevölkerung eine Rosskur verordneten? Das Schmerzensgeld sprach dagegen.
Der Ostblock wurde anders betrachtet. Westliche Beobachter hielten die sozialistischen Staaten für weitgehend immun gegen die Krisen, die die kapitalistische Welt befielen. Wie die Begegnung zwischen Kossygin und Stoph verdeutlicht, waren sozialistische Politiker ähnlich überzeugt von der Überlegenheit ihres Systems. Die Vervierfachung des Ölpreises von Ende 1973 bis Anfang 1974 wurde in der Sowjetunion, einer der größten Energieproduzentinnen weltweit, zunächst als finanzieller Glücksfall gesehen und nicht als strukturelle wirtschaftliche Herausforderung für die Moskauer Führung. Die sozialistischen Staaten Osteuropas verfügten selbst über wenig Ölvorkommen, konnten in den 1970er Jahren aber auf die großzügige Unterstützung der UdSSR zählen, die sie mit wachsenden Energielieferungen zu stark subventionierten Preisen versorgte. Da Handel und Preise im Ostblock fast ausnahmslos in Fünfjahresplänen festgelegt waren, schienen die Mitgliedsstaaten nicht von den dramatischen Inflationsspiralen und Preisschocks betroffen, die die westliche Welt lähmten. Und weil man die Ursache der Inflation im Hang von Demokratien sah, ihren Bevölkerungen zu viel zu versprechen, schien die autoritäre Struktur der sozialistischen Staaten insofern von Vorteil zu sein, als sie Regierungen unempfänglich für Forderungen aus der Bevölkerung machte. Zusammengenommen genügte das, um Kossygin und Stoph vor Zuversicht strotzen zu lassen, als sie an jenem Tag im Jahr 1976 durch die sowjetische Hauptstadt kutschiert wurden.
Hinter der bekundeten Zuversicht waren bei dieser Begegnung allerdings auch die Probleme erkennbar, die den Staatssozialismus ins Straucheln bringen sollten. Stophs Bitte um erhöhte Öllieferungen diente eigentlich einem ganz bestimmten Zweck: einem Abbau der explodierenden Staatsschulden der DDR bei westlichen Banken und Regierungen. Mit mehr Öl hätte die DDR mehr petrochemische Produkte herstellen und gegen harte Währung in den Westen exportieren können. So hätte sie wiederum weniger Kredite im Westen aufnehmen müssen, um ihre Importe zu finanzieren und die bestehenden Schulden zu bedienen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre hatten westliche Banken dem Ostblock noch bereitwillig Geld geliehen, und zwar aus demselben Grund, aus dem verschiedenste westliche Beobachterinnen den Staatssozialismus für überlegen hielten: Er verfügte über Energie, war autoritär verfasst und nicht von Inflation betroffen. Doch ab 1976 regten sich bei den Kreditinstituten erste Zweifel: Würden die sozialistischen Staaten tatsächlich imstande sein, ihre Kredite zurückzuzahlen? So gesehen war Stoph mit seiner Moskauer Wallfahrt auf der Suche nach Öl indirekt auch darum bemüht, die Banken zu beschwichtigen und so den reibungslosen Zufluss an westlichem Kapital aufrechtzuerhalten.
Die DDR stand nicht allein mit diesen Schwierigkeiten, denn alle im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) vertretenen Staaten teilten in unterschiedlichem Maße ihre Abhängigkeit von westlichem Kapital und sowjetischem Öl.3 Dass Kossygin Stophs Bitte ausschlug, deutet somit auf ein zweites Problem hin, das bei ihrem Treffen im Hintergrund schwelte: Nach zehn Jahren rasanten Wachstums näherte sich die sowjetische Energieproduktion in der Mitte der 1970er Jahre einem Plateau und würde nach 1980 voraussichtlich rückläufig werden. Die scheinbare Resistenz des Ostblocks gegen die Wogen der Weltwirtschaft hatte somit zwei Grundlagen: problemloser Zugang zu westlichem Kapital und eine stetig zunehmende Versorgung mit sowjetischen Energieressourcen. Sollten eine davon oder beide wegbrechen, wie es um 1980 dann geschah, müsste sich der gesamte Ostblock auf die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme gefasst machen, die den Westen nach 1973 plagten.
Dieses Kapitel zeichnet die Reaktionen des industrialisierten Westens und des sozialistischen Ostens auf die Ölkrise nach, um einen übergeordneten Aspekt herauszustellen: Obwohl die Krise anfangs die fundamentalen Unterschiede zwischen demokratischem Kapitalismus und Staatssozialismus zu bestätigen schien, zeigte sich mit der Zeit, dass beide Lager dem Druck ausgesetzt waren, der von ein und demselben Weltmarkt ausging. Keine der beiden Seiten konnte diesen Markt vollständig oder auch nur teilweise kontrollieren, sodass die Art und Weise, wie Staaten beider Systeme jeweils auf die Launen der Weltwirtschaft reagierten, zum Schlüsselfaktor für ihren Erfolg und ihr Überleben wurde. Die dramatische Expansion der globalen Kapitalmärkte nach der Krise bot beiden Seiten einen Weg, um die Strapazen der Anpassung an die neuen Marktbedingungen zu lindern. Doch die grundlegende Herausforderung, die die Krise für die demokratisch-kapitalistischen Staaten im Westen und die staatssozialistischen Systeme im Osten darstellte, ließ sich nicht dauerhaft umgehen. Die Krise verlangte von Regierungen auf beiden Seiten des ideologischen Grabens, die durch den Ölpreisschock entstandenen wirtschaftlichen Verluste im Inland zu verteilen, ihre Gesellschaften zu profitableren und energieeffizienteren Produktions- und Konsumsystemen umzubauen und den Zugang zu den globalen Kapitalmärkten zu wahren, die nach dem Ölschock rapide expandierten. Der Druck infolge dieser Herausforderungen...