E-Book, Deutsch, Band 6331, 424 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
E-Book, Deutsch, Band 6331, 424 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-72991-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit Jahrtausenden treffen Menschen Vorkehrungen, um vergangenes Wissen zu konservieren. Woher kommt dieses Interesse am Aufbau von Erinnerungsräumen? Wie werden Erinnerungen, die doch zunächst immer individuell sind, allgemein verbindlich? Wie nutzt man solche Erinnerungen - zur Bestätigung der Gegenwart, zum Anstoß einer Erneuerung oder zur Relativierung des eigenen Standpunkts? Und wie wirken sich die Medien der Erinnerung wie Buchdruck, Photographie oder digitale Speicherung auf die kulturellen Erinnerungsräume aus? Um diese Fragen zu beantworten, überschreitet Aleida Assmann souverän die Grenzen der Nationen, Epochen, Künste und wissenschaftlichen Disziplinen. Und obwohl literarische Texte im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen, kommen ebenso historische, kunsthistorische, philosophische und psychologische Fragen zur Sprache.
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;2
4;Über den Autor;2
5;Impressum;4
6;Vorwort;5
7;Inhalt;7
8;Einleitung;11
9;Erster Teil: Funktionen;25
9.1;I. Das Gedächtnis als ‹ars› und ‹vis›;27
9.2;II. Die Säkularisierung des Andenkens – Memoria, Fama, Historia;33
9.2.1;1. Gedächtniskunst und Totenmemoria;33
9.2.2;2. Fama;38
9.2.2.1;Alexanders Tränen am Grabe Achills;39
9.2.2.2;Ruhmestempel und Denkmäler;43
9.2.3;3. Historia;48
9.2.3.1;Herkommen und Gedächtnis;48
9.2.3.2;Der historische Sinn;50
9.2.3.3;Das Grab des Vergessens;53
9.2.3.4;Monumente, Relikte, Gräber;55
9.3;III. Der Kampf der Erinnerungen in Shakespeares Historien;62
9.3.1;1. Erinnerung und Identität;64
9.3.2;2. Erinnerung und Geschichte;69
9.3.3;3. Erinnerung und Nation;75
9.3.4;4. Nachspiel auf dem Theater;84
9.4;IV. Wordsworth und die Wunde der Zeit;89
9.4.1;1. Memoria und Erinnerung;89
9.4.2;2. Erinnerung und Identität;95
9.4.2.1;John Locke und David Hume;95
9.4.2.2;William Wordsworth;100
9.4.3;3. Recollection: Erinnerung und Imagination;103
9.4.4;4. Anamnesis: mystische Spiegelung;107
9.5;V. Gedächtniskisten;114
9.5.1;1. Das Gedächtnis als Arche – Hugo von St.Viktors christliche Mnemotechnik;115
9.5.2;2. Das Kästchen des Darius – Heinrich Heine;119
9.5.3;3. Die grausame Kiste – E. M. Forster;126
9.6;VI. Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung;130
9.6.1;1. Geschichte und Gedächtnis;130
9.6.2;2. Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis;133
9.6.2.1;Aufgaben des Funktionsgedächtnisses;138
9.6.2.2;Aufgaben des Speichergedächtnisses;140
9.6.3;3. Ein Gespräch mit Krzysztof Pomian über Geschichte und Gedächtnis;143
10;Zweiter Teil: Medien;147
10.1;I. Zur Metaphorik der Erinnerung;149
10.1.1;1. Schriftmetaphern: Tafel, Buch, Palimpsest;151
10.1.2;2. Raum-Metaphern;158
10.1.2.1;Ausgraben;162
10.1.3;3. Zeitliche Gedächtnis-Metaphern;165
10.1.3.1;Verschlucken, Wiederkäuen, Verdauen;166
10.1.3.2;Einfrieren und Auftauen;168
10.1.3.3;Schlafen und Erwachen;169
10.1.3.4;Geister-Beschwörung;171
10.2;II. Schrift;179
10.2.1;1. Schrift als Verewigungsmedium und Gedächtnisstütze;181
10.2.2;2. Zur Konkurrenz von Schrift und Bild als Gedächtnismedien;190
10.2.2.1;Schrift als Energiekonserve;190
10.2.2.2;Francis Bacon und John Milton;191
10.2.3;3. Der Niedergang der Buchstaben – Burton, Swift;197
10.2.4;4. Von Texten zu Spuren;204
10.2.4.1;William Wordsworth;205
10.2.4.2;Thomas Carlyle;207
10.2.5;5. Schrift und Spur;209
10.2.6;6. Spuren und Abfall;213
10.3;III. Bild;218
10.3.1;1. Imagines agentes;221
10.3.2;2. Symbole und Archetypen;224
10.3.3;3. Frauenbilder im Männergedächtnis;229
10.3.3.1;Mona Lisa als Magna Mater (Walter Pater);229
10.3.3.2;Der Liebhaber als Sammler (Marcel Proust);233
10.3.3.3;Rekonstruktives und explosives Bildgedächtnis (James Joyce);236
10.4;IV. Körper;241
10.4.1;1. Körperschriften;241
10.4.2;2. Stabilisatoren der Erinnerung;249
10.4.2.1;Affekt;251
10.4.2.2;Symbol;255
10.4.2.3;Trauma;258
10.4.3;3. Falsche Erinnerungen;265
10.4.3.1;Die amerikanische ‹False-Memory-Debate›;266
10.4.3.2;Kriterien der Glaubwürdigkeit von Erinnerungen in der oral history;270
10.4.3.3;Die ‹Wahrheit› falscher Erinnerungen – Vier Fallbeispiele;273
10.4.4;4. Kriegstrauma in der Literatur;278
10.4.4.1;Trauma und Mythos – Hofmannsthals Die ägyptische Helena;279
10.4.4.2;Trauma und Phantastik – Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five;284
10.4.4.3;Trauma und ethnisches Gedächtnis – Leslie Marmon Silkos Ceremony;290
10.5;V. Orte;298
10.5.1;1. Das Gedächtnis der Orte;298
10.5.2;2. Generationenorte;301
10.5.3;3. Heilige Orte und mythische Landschaften;303
10.5.4;4. Exemplarische Gedächtnisorte – Jerusalem und Theben;305
10.5.5;5. Gedenkorte – Petrarca in Rom, Cicero in Athen;308
10.5.6;6. Genius Loci – Ruinen und Geisterbeschwörung;314
10.5.7;7. Gräber und Grabsteine;322
10.5.8;8. Traumatische Orte;328
10.5.8.1;Auschwitz;329
10.5.8.2;Gedächtnisorte wider Willen: die Topographie des Terrors;334
10.5.8.3;Die Aura der Gedächtnisorte;337
11;Dritter Teil: Speicher;341
11.1;I. Archiv;343
11.2;II. Dauer, Verfall, Rest – Konservierungsprobleme und die Ökologie der Kultur;348
11.3;III. Gedächtnis-Simulationen im Brachland des Vergessens – Installationen von Gegenwartskünstlern;359
11.3.1;1. Anselm Kiefer;360
11.3.2;2. Sigrid Sigurdsson;364
11.3.3;3. Anne und Patrick Poirier;367
11.4;IV. Das Gedächtnis als Leidschatz;372
11.4.1;1. Christian Boltanski – ‹The Missing House›;375
11.4.2;2. Naomi Tereza Salmons Photographienzyklus ‹Asservate›;378
11.5;V. Jenseits der Archive;383
11.5.1;1. Lumpensammler – Zum Verhältnis von Kunst und Abfall;384
11.5.2;2. Ein kleines Museum für den Rest der Welt – Ilya Kabakow;390
11.5.3;3. Die Enzyklopädie der Toten – Danilo Kiš;397
11.5.4;4. Die Bibliothek der Gnade –Thomas Lehr;401
11.5.5;5. Lava und Müll – Durs Grünbein;404
12;Schluß: Zur Krise des kulturellen Gedächtnisses;408
13;Bibliographische Notiz;415
14;Register;417
I.
DAS GEDÄCHTNIS ALS ‹ARS› UND ‹VIS›
Wie nach Rom führen viele Wege zum Gedächtnis – theologische, philosophische, medizinische, psychologische, historische, soziologische, literatur-, kunst- und medienwissenschaftliche. Aber auch der Weg der Literaturwissenschaft gabelt sich noch einmal. Auf einem Wegweiser steht das Wort ‹ars›, auf dem anderen das Wort ‹vis›. Zunächst zum Stichwort ‹ars›. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Gedächtnisthema haben in den letzten Jahren bevorzugt ihren Einstieg durch das Tor der römischen Mnemotechnik gewählt. Mnemotechnik ist Gedächtniskunst, und Kunst ist hier in ihrer älteren Bedeutung im Sinne von Technik zu verstehen. Die Mnemotechnik hat nicht nur eine lange Tradition, sondern auch eine unvergeßliche Gründungslegende, auf die wir im folgenden Kapitel noch ausführlicher zurückkommen werden. Nach dieser Legende soll ein gewisser Simonides das Verfahren zum erstenmal in einer katastrophischen Situation angewendet haben. Er war in der Lage, nach Einsturz der Decke im Haus seines Gastgebers die verstümmelten Leichen der Festgesellschaft anhand ihrer Sitzordnung zu identifizieren. Das Verfahren, das Simonides spontan angewendet hatte, wurde von der Mnemotechnik zu einer bewußten Lerntechnik ausgebaut. Dabei wurde aus den Elementen von Örtern und Bildern (loci et imagines) eine Art mentaler Schrift entwickelt, mit der in das Gedächtnis wie auf eine leere Seite geschrieben werden kann. Mit dieser Technik, die das Gedächtnis vom Ohr auf das Auge umpolte, sollten Wissensgegenstände und Texte im Kopf mittels distinkter und einprägsamer Bilder ebenso zuverlässig fixiert werden wie Buchstaben auf einer Schreibfläche. Die römische Mnemotechnik wurde konzipiert als ein erlernbares, zu ganz verschiedenen Zwecken einsetzbares Verfahren, das zuverlässige Speicherung und identische Rückholung des Eingegebenen anzielt. Die Dimension der Zeit wird von der Mnemotechnik ausgefiltert, Zeit greift selbst nicht strukturierend in den Prozeß ein, der sich deshalb auch als ein rein räumliches Verfahren darstellt. Dieses Verfahren kann in beliebigen Situationen angewendet werden. Es läßt sich damit eine Gerichtsrede memorieren, die um der größeren Wirkung willen auswendig vorgetragen werden muß, ebenso wie das heilsrelevante Wissen der Bibel oder der Stoff für eine medizinische Klausur. Was im einzelnen memoriert werden soll und zu welchem Zweck, ist nicht mehr Gegenstand der ursprünglich rein instrumentell konzipierten Mnemotechnik. Solange in der Kultur und ihren Bildungsinstitutionen gelernt und auswendig gelernt wird, wird es entsprechende körperliche und geistige Mnemotechniken geben, die jedoch nicht nur wie die römische allein auf dem Auge und der Fähigkeit zu imaginärer Visualisierung beruhen, sondern auch das Ohr durch das Repetieren von Klangstrukturen und den Körper durch das Wiegen im Rhythmus, das Abzählen an Fingern usw. mit einschließt. Die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat sich bisher stark an der antiken Mnemotechnik ausgerichtet. The Art of Memory heißt das Pionierwerk von Dame Frances Yates, Renaissanceforscherin und Spezialistin für okkulte Strömungen in der frühen Neuzeit, das in den 60er Jahren eine verschollene Tradition freilegte. An Yates konnten 25 Jahre später Literaturwissenschaftler wie Renate Lachmann und Anselm Haverkamp anschließen. Sie nahmen das Paradoxon der ‹vergessenen Erinnerungskunst› produktiv auf und verbanden die Mnemotechnik mit avancierten Theorien wie Intertextualität, Psychoanalyse und Dekonstruktion. Auf diese Weise gewann die antike Tradition der rhetorischen Memoria eine überraschende Aktualität und entwickelte als literaturwissenschaftlicher Forschungsansatz eine beeindruckende Produktivität.[1] Die Bedeutung dieser Tradition, die unbestritten ist, wird auf den folgenden Seiten immer wieder bestätigt werden. Gleichzeitig sollen jedoch verstärkt auch Zugänge zum Gedächtnisthema erschlossen werden, die auf der Basis einer topologischen Wissensorganisation nicht erfaßt werden können. Es geht dabei insbesondere um den von der Mnemotechnik ausgesparten Zusammenhang von Erinnerung und Identität, d.h. um kulturelle Akte des Erinnerns, Andenkens, Verewigens, Rückbezugs, Vorwärtsentwurfs und nicht zuletzt das in all diesen Akten immer mit eingeschlossene Vergessen. Den mit ‹ars› überschriebenen Weg zum Gedächtnis möchte ich Speichern nennen und darunter jedes mechanische Verfahren verstehen, das die Identität von Einlagerung und Rückholung anzielt. Wo dieses Verfahren auf materielle Stützen zurückgreift, erscheint dieser Anspruch als selbstverständlich: Wenn wir jemandem einen Brief schreiben, dürfen wir davon ausgehen, daß, wenn er am anderen Ort ankommt, sämtliche niedergeschriebenen Wörter ihren Adressaten erreichen und nicht nur ein gewisser Prozentsatz der Ausgangsmenge. Dasselbe gilt für ein Buch, das wir kaufen, und die Datei, die wir im PC aufrufen; wir dürfen erwarten, daß nach einem beliebigen zeitlichen Intervall sämtliche identischen bytes erhalten geblieben sind. Speichern ist, wie die Kunst der Mnemotechnik beweist, auch ohne materielle Träger und technische Apparatur möglich. Speichern ist auch eine Sonderfunktion des menschlichen Gedächtnisses, wenn es um das Auswendiglernen von Wissensgegenständen wie liturgischen Texten, Gedichten, mathematischen Formeln oder historischen Daten geht. All das verhält sich grundsätzlich anders, wenn wir dem Wegweiser zum Gedächtnis folgen, der mit dem Wort ‹vis› beschrieben ist. Wenn Cicero der Patron der Mnemotechnik ist, dann ist Nietzsche, auf den wir noch mehrfach zurückkommen werden, der Patron des Paradigmas der identitätsstiftenden Erinnerung. Im Falle des Erinnerns wird die Zeitdimension, die beim Speichern stillgestellt und überwunden ist, akut. Indem die Zeit aktiv in den Gedächtnisprozeß eingreift, kommt es zu einer grundsätzlichen Verschiebung zwischen Einlagerung und Rückholung. Während bei der Mnemotechnik die exakte Übereinstimmung von input und output entscheidend war, kommt es bei der Erinnerung zu ihrer Differenz. Dem Verfahren des Speicherns möchte ich deshalb den Prozeß des Erinnerns gegenüberstellen. Anders als das Auswendiglernen ist das Erinnern kein vorsätzlicher Akt; man erinnert sich, oder man erinnert sich eben nicht. Korrekter wäre es wohl zu sagen, daß etwas einen erinnert, dessen man sich erst nachträglich bewußt wird. F. G. Jünger, der einen von vielen Vorschlägen gemacht hat, wie die Worte ‹Gedächtnis› und ‹Erinnerung› begrifflich voneinander abzugrenzen sind, hat einerseits ‹Gedächtnis› mit ‹Gedachtem›, also Kenntnissen, gleichgesetzt und andererseits ‹Erinnerung› mit persönlichen Erfahrungen assoziiert. Er schreibt: Die Inhalte des Gedächtnisses «kann ich mir beibringen, wie sie mir beigebracht werden können. Erinnerungen aber kann ich mir weder beibringen, noch können sie mir beigebracht werden.»[2] Das Erinnern verfährt grundsätzlich rekonstruktiv; es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung. Im Intervall der Latenz ruht die Erinnerung also nicht wie in einem sicheren Depot, sondern ist einem Transformationsprozeß ausgesetzt. Das Wort ‹vis› weist darauf hin, daß in diesem Falle das Gedächtnis nicht als ein schützender Behälter, sondern als eine immanente Kraft, als eine Energie mit eigener Gesetzlichkeit aufzufassen ist. Diese Energie kann die Möglichkeit des Rückrufs erschweren wie im Fall des Vergessens oder blockieren wie im Fall des Verdrängens, sie kann aber auch von einer Einsicht, vom Willen oder einer neuen Bedürfnislage gelenkt sein und zu einer Neubestimmung der Erinnerungen veranlassen. Der Akt des Speicherns geschieht gegen die Zeit und das Vergessen, deren Wirkungen mit Hilfe bestimmter Techniken außer Kraft gesetzt werden. Der Akt des Erinnerns geschieht in der Zeit, die aktiv an dem Prozeß mitwirkt. Zur Psychomotorik des Erinnerns gehört insbesondere, daß Erinnern und Vergessen stets untrennbar ineinandergreifen. Das eine ist die Ermöglichung des anderen. Wir können auch sagen: Das Vergessen ist der Gegner des Speicherns, aber der Komplize des Erinnerns. Dieses unhintergehbare Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen steht hinter jener anthropologischen Kraft, von der weder die Tiere noch die Maschinen etwas wissen. Die Maschinen können speichern, was der Mensch mit einer entsprechenden Mnemotechnik in bestimmten Grenzen ebenfalls kann. Die Menschen können aber obendrein erinnern, wozu die Maschinen bisher noch nicht imstande sind. Die Unterscheidung zwischen einer memoria als ‹ars› und einer memoria als ‹vis› geht auf zwei unterschiedliche Diskurstraditionen der Antike zurück. Im Kontext der römischen Rhetorik wird memoria als einer von fünf Verfahrensschritten aufgeführt: inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio. Daneben gibt es den psychologischen Diskurs, in dem die memoria als eine...