Zweig | Der Amokläufer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 215 Seiten

Reihe: Gesammelte Werke in Einzelbänden

Zweig Der Amokläufer

Erzählungen
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400246-0
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 215 Seiten

Reihe: Gesammelte Werke in Einzelbänden

ISBN: 978-3-10-400246-0
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Eine Art menschlicher Hundswut«: so beschreibt der von seinen eigenen Leidenschaften vernichtete Arzt der Titelerzählung den Amoklauf - und in diesem Sinne laufen die Charaktere aller Erzählungen Amok: Die in Ungnade gefallene Mme de Prie steigert sich fieberhaft in ihren Feldzug gegen die Pariser Gesellschaft, die sie zu vergessen droht, und scheut vor nichts zurück, um ihrem Leben Glanz zu verleihen. Ein verschmähter Ehemann gibt seine Karriere und sein Leben auf, um seine Frau für sich zurückzugewinnen, und kann deshalb ein Nein nicht mehr akzeptieren. In ihrem Wahn und ihrer Verbissenheit sind sie alle anmaßend - und müssen folglich auf ganzer Linie scheitern. Stefan Zweig beschreibt mit psychologischem Feinsinn und großer sprachlicher Suggestivkraft, wie unmenschliche Erfahrungen, innere Zwänge und misslingende Kommunikation den Menschen zum Äußersten treiben können.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.
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Das Kreuz


Es war im Kriegsjahre 1810. Eine ungeheure brandige Staubwolke wälzte sich auf der Heerstraße Katalaniens Hostalrich zu, das die Spanier so hitzig verteidigten und die Franzosen so rastlos bestürmten. Manchmal schlug ein lässiger Windstoß den weißen Schleier auseinander, aus dem schattenhaft schwerfällige Wagen, in lose Gruppen gereihte Soldaten, matt vorwärtsschleifende Pferde auftauchten, ein Provianttransport, den ein erfahrener Colonel mit seiner Truppe schützte. Geschlängelt und schräg kroch der weiße Weg aus dem lehmigen Land der Hügelwellen empor und strebte einem kleinen Walde zu, der violett flammte, rot umkantet von der niedersinkenden Abendsonne. Schon rollte die Staubwolke gemächlich ins Baumdunkel, das schweigsam den knarrenden Zug erwartete.

Plötzlich wie eine Rakete ein Schuß aus dem Dunkel. Ein Zeichen offenbar. In der nächsten Sekunde prasselte ein mörderisches Schnellfeuer auf den eingekeilten Zug. Rechts und links fielen Soldaten, ehe ihnen Zeit blieb, die Flinte zu fassen, aufwiehernd stürmten die erschreckten Pferde empor, so daß die Wagen überschlugen oder mit dumpfem Stoß ineinanderrannten. Mit einem Blick übersah der Colonel die Situation; Widerstand war Wahnsinn, Flucht gefährlich. Wie eine Trompete überschrie sein Ruf den Lärm. Er befahl den Angriff gegen eine Flanke, den Transport und die Verwundeten dem Feind überlassend. Fanatisch knatterte die Trommel unter den fiebernden Händen des kleinen Tambours, und ohne Ordnung, ungestüm und unwiderstehlich, sprangen die Franzosen gegen die linke Seite der Straße in den Wald, dessen Bäume sich seltsam zu beleben begannen. Blitze rannen herab von den Kronen, die schwankten von ungewohnter Last, dunkle Gestalten streiften wie schwarze Schlangen die Äste hinab, und manchmal fiel dumpf, wie eine riesige Frucht, menschliche Masse von den zornig nachschwingenden Zweigen. Spanier, die im Buschwerk kauerten, flüchteten zurück vor den blind ins Dunkel stechenden Bajonetten der Franzosen, die verzweifelt vorwärtsfegten, um die Lichtung der Höhe zu gewinnen. Dazwischen brandete dumpf das Getöse von Schuß und Schrei, verrauschend in schreckhaftem Echo. Allen voran, Pistole und Säbel in der Hand, stürmte der Colonel. Plötzlich griff sein Arm steil in die Luft mit gekrampfter Hand. Sein Fuß hatte sich in einer Wurzel gefangen, und nun, wie er hinschlug, schmetterte sein Kopf so heftig gegen einen Baum, daß er mit leerem Blick ins Dunkel eines Busches fiel, dessen Gerten heftig über ihm zusammensausten. Achtlos hetzte an dem Ohnmächtigen der Kampf vorbei. –

Als der Colonel die Augen wieder aufschlug, lag er einsam in Dunkel und Stille. Über ihm schaukelten die Äste in den abendlich verschatteten Himmel, die Luft mit dumpfem Sausen erfüllend. Wie er den Kopf heben wollte, fühlte er Blut auf den Lippen. Unsicher denkend tastete er den Striemen nach, welche die Gerten im Niederschnellen über sein Gesicht gezogen. Und rasch belebte sich nun das Erinnern. Von der Stelle des Überfalles trug der Wind undeutlich das wirre Geräusch angeschirrter Pferde und fortrollender Räder her, ferner und immer ferner. Offenbar entführte die siegreiche Guerillabande ihre Beute. In das erste Erinnern mischte sich schon dumpfer Schmerz: der Colonel fühlte, daß die Entscheidung gänzlich aus seinen Händen geglitten sei und nur mehr im Spiel des Zufalls schwanke. Einsam war er in einem fremden Walde, einsam in Feindesland. Ein Blitzen seines Säbels, ein Knacken im Unterholz konnte ihn ausliefern, eine wehrlose Beute für die Torturen der Aufständischen. Denn seitdem Augereau die Wege mit Schnellgalgen gemessen, seit ohne Gericht die Spanier zusammengeschossen wurden, fanden die Franzosen schreckhafte Spuren der Rache in den verlassenen Dörfern, die verkohlten Leichen der von langsamem Feuer verbrannten Soldaten, die faulenden Leichen der gepfählten Gefangenen, furchtbare Bilder überstandener Qualen und tierischer Grausamkeit. Das alles blitzte auf in seinem Gehirn, so rasch, so grell, daß er zusammenfuhr, wie von Fieber geschüttelt. Dunkler und dunkler rauschte um ihn der Wald des Unheils, der ihn gefangen.

Der Colonel überlegte, alles ungestüme Entscheiden erdrosselnd. Nur Flucht war möglich, nächtliche Flucht aus dem Gehölz, Flucht entweder Hostalrich zu oder die Straße zurück, bis er wieder französischen Truppen begegnete. Aber Flucht um jeden Preis, das fühlte er, so sehr ihm auch der Gedanke seiner kläglichen Wehrlosigkeit das Herz verbrannte. Noch verdammte ihn das fahle Licht, das über den Wipfeln hing, zur Untätigkeit. Mit verbissenen Lippen und brennenden Augen, reglos unter dem Busche liegend, mußte er noch warten, warten auf die runde Mondscheibe, die grünlich glimmernd aus den Abendnebeln zur Himmelshöhe schwamm, mußte horchen auf jede Erschütterung des Bodens, jede hinzitternde Regung der Luft, jeden Vogelschrei aus der Tiefe des Waldes, jedes Stöhnen in den abendwindgeschaukelten Ästen. Erinnerung an die endlosen Nächte Ägyptens erfüllte ihn mit Grauen, an jene schweflig gelben Nachthimmel, angefüllt mit grenzenlosem Schweigen und unnennbarer Drohung. Die ganze Schwere rettungslosen Verlassenseins hing sich an sein Herz.

Nach Stunden und Stunden endlich, als das Gehölz wie vereist stand im kalten Mondlicht, kroch er vorsichtig auf den Knien gegen die Stelle des Überfalls zurück, zitternd nicht so sehr von Angst wie von fiebriger Glut unbestimmter Erwartung. Mit einer unendlichen Behutsamkeit, die seiner Erregung furchtbarste Qual war, tastete er auf allen vieren nach vorne durch das Buschwerk der verfilzten Sträuche und das harte Netz der Baumwurzeln. Eine Ewigkeit wurde ihm der Weg von Baum zu Baum. Endlich glänzte, hell wie ein Teich, die Landstraße durch das schläfrige Dunkel der Umsäumung.

Aufatmend reckte er sich empor, um nun auf dem verlassenen Wege zurückzueilen, die Pistole in der Hand und den Säbel in steter Bereitschaft. Da – er fuhr zusammen – glitt ein Schatten hart vor ihn hin. Und lief wieder zurück. Und wieder her und hin, ganz undeutlich und doch fühlbar wie ein kalter Hauch.

Der Colonel packte die Pistole und starrte ins Dunkel der Bäume. Aber kein Laut zuckte auf. Und doch: langsam und stetig kroch wieder der Schatten in den Kies der Straße, und unruhig, unwesenhaft dunkelte er wieder verlöschend zurück. Ging und kam wie ein Pendelschlag, geheimnisvoll und lautlos, ein Gespenst der Nacht. Atemlos folgte der Colonel seinem Wege. Und schauerte jählings zusammen, als er die Augen emporwandte gegen das Mondlicht.

Knapp zu seinen Häupten, an dem vorgeneigten Zweige einer jungen Korkeiche pendelte eine nackte Leiche, bleich und grauenhaft schimmernd in der kreidigen Mondgrelle. Pendelte in ruhigem Gang wie der Schatten über die Straße. Und wie der erschreckte Blick weitergriff von Baum zu Baum, vervielfältigte sich das schaurige Bild. Tote, hoch aufgeknüpft in den Schatten der Baumkronen und nur fahl vom gespenstischen Zwielicht übergossen, schienen mit phantastischen Gesten zu winken, die bleichen Körper unruhig im Winde hin und her werfend. Röchelnd quoll der Atem aus der Kehle des Colonels, als er über den verzerrten Gesichtern die höhnisch aufgepflanzten Bärenmützen seiner Soldaten sah. Seine Soldaten, tapfere, brave Kerle, mit denen er noch gestern beim Wachtfeuer gescherzt, von Briganten, von Räubern, von Spaniern hingehängt wie gerupfte, erwürgte Hühner, zuerst gemeuchelt, dann gemartert, geschmäht, bespien! Taumelnd vor Wut sprang er auf, hämmerte im wahnwitzigen Bedürfnis, etwas zu tun, mit der Faust gegen die harten Bäume. Und warf sich wieder hin mit verbissenen Zähnen, Wurzeln ausreißend und zerknirschend, fiebernd in der Qual seiner Wehrlosigkeit, aufglühend im Verlangen, etwas zu tun, zu brüllen, zu schlagen, zu drosseln, zu morden. Ein Übermaß war in ihm vom qualvollen Drängen, eine hochgepeitschte Flamme der Wut und Verzweiflung. Und immer wieder die Schatten über der Straße und das dumpfe Sausen des Waldes! Seit Jahren und Jahren fühlte der Colonel zum erstenmal ein Brennen in den Augen wie von Tränen, zum erstenmal fuhr Napoleons Name mit einem Fluch von seinen Lippen, daß er ihn in dieses Land der Mörder und Leichenschänder gesandt habe. Und dieser verwühlte sich diese fassungslose, fiebernde Wut. Wie Feuer quoll es in seinen Händen.

Da plötzlich ein Geräusch! Ein Schritt … Blut und Atem, Fieber und Zorn, Denken und Besinnung stürzten in eine Sekunde der Erwartung. Tatsächlich: ein Schritt, ein heraneilender Schritt. Und schon ein Schatten zwischen den Bäumen dort, wo sich die Straße in den Wald bog. Instinktiv kauerte sich der Wartende ins Dunkel hinein, die Waffen gierig umkrampfend, dumpf und jubelnd keuchte seine Brust, als er im flüchtigen Mondschimmer einen Spanier erkannte. Ein Bote vielleicht, ein Hirte, ein Marodeur, ein Versprengter, ein Bauer, ein Bettler nur möglicherweise, – aber – es glühte und zuckte in seinen Händen: ein Spanier, ein Mörder, ein Schurke. Wut und Wille fieberten zusammen in ein Ziel. Einen Schritt ließ er, der Lauernde, dem eilenden Spanier voraus, dann warf er sich mit einem dumpfen Schrei der Wut auf den Erschreckten, umklammerte mit der Linken im Krampf seine Kehle, den Schrei des Entsetzens mit den Fingern erwürgend. Und dann – eine Sekunde wollüstig ruhend im Anblick der im Todeskampf verquollenen Augen – tauchte er sein Messer in den Rücken des Opfers, langsam zuerst, grausam und überlegt genießend. Und stieß es ihm dann in aufzuckendem Zorn wieder und wieder, rascher und rascher durch Rücken und Kehle, heftiger und heftiger, daß endlich die Klinge, am Wirbel abgleitend, ihm in die eigene Hand fuhr. Der...


Zweig, Stefan
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau 'aus freiem Willen und mit klaren Sinnen' aus dem Leben.

Stefan ZweigStefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau 'aus freiem Willen und mit klaren Sinnen' aus dem Leben.



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