E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Zweig Clarissa
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400186-9
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Romanentwurf
E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Reihe: Gesammelte Werke in Einzelbänden
ISBN: 978-3-10-400186-9
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.
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Sommer 1912
An dem Bahnhof in Wien erwartete sie ihr Bruder. Noch ehe sie ihn recht umarmt, fragte sie ihn schon: »Was ist mit Papa?« Eduard zögerte. »Er hat mit mir noch nicht gesprochen, ich glaube, er wartet, bis du kommst. Aber ich kann mir’s eigentlich schon denken. Ich fürchte, er hat den blauen Bogen bekommen.« »Den blauen Bogen?« Clarissa starrte den Bruder, ohne zu verstehen, an. »Ja, so heißt’s einmal bei uns, wenn einer in Pension geschickt wird. Ich habe schon lange so etwas munkeln gehört. Daß er ihnen unbequem im Ministerium oder im Generalstab war, ist schließlich kein Geheimnis seit jenem Angriff in der Armeezeitung gegen sein Buch, der zweifellos von oben her inspiriert war. Schon im Vorjahr wollten sie ihn abschieben, als Generalinspektor nach Bosnien, aber er hat sich geweigert. So haben sie ihn einfach abgesägt. Bei uns mag man die Leute nicht, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen. Ob einer was ist oder was kann, ist denen Nebensache. Kuschen muß er können oder intrigieren, sonst stellen sie ihm ein Bein.« Unwillkürlich kam ein harter Zug um sein sonst so offen-heiteres Knabengesicht, für eine Sekunde sah er plötzlich seinem Vater ähnlich. »Aber schwatzen wir jetzt nicht lang. Er wartet auf uns. Leicht wird’s ihm nicht sein. Komm!«
Er nahm der Schwester den Koffer aus der zitternden Hand. Beide schwiegen, während sie durch die Bahnhofshalle gingen. Sie vermochte ihre Gedanken noch nicht zu sammeln. Die Vorstellung ihres Vaters war ihr so verbunden mit Macht und glänzender Uniform, daß ihr unfaßbar war, irgend jemand könnte ihm das nehmen; nichts hatte jemals diesen Glanz, der von ihm ausging; er hatte ihre Kindheit überleuchtet, obwohl sie sein Gesicht nicht kannte. Er war ihr Stolz gewesen. Sie vermochte nicht zu fassen, daß er wie ein anderer gehen sollte, im grauen Anzug ohne diesen Schimmer von Farbe und Glanz um sich, er, den niemand kannte ohne den goldenen Kragen. Erst als der Wagen schon der Spiegelgasse zurollte, fragte sie mit zaghafter Stimme noch einmal: »Bist du sicher, Eduard?« »Soviel wie gewiß«, antwortete er, indem er zum Fenster wegblickte, um seine Erregung zu verbergen. »Und sicher ist, daß wir alles tun müssen, was er wünscht oder verlangt. Wir dürfen’s ihm nicht noch schwerer machen.«
In der einfachen Dreizimmerwohnung im vierten Stock – Schuhmeister hatte immer spartanisch bescheiden trotz seiner hohen Stellung gelebt – öffnete ihnen der Offiziersbursche; auch er schien merklich bedrückt, als er meldete, der Herr Oberstleutnant erwarte sie in seinem Arbeitszimmer. Als die beiden eintraten, stand ihr Vater vom Schreibtisch auf, legte den Zwicker, den er in den letzten Jahren wegen seiner zunehmenden Weitsichtigkeit benötigte, hastig ab und ging auf Clarissa zu. Er küßte sie wie immer auf die Stirne. Aber ihr war, als ob er diesmal weicher und fester zugleich sie an sich zog, als wollte er sich an ihr halten. »Geht es dir gut?« fragte er dann knapp. »Jawohl, Papa«, antwortete sie hastig, da bei der letzten Silbe der Atem ihr nicht mehr ganz gehorchte. »Setzt euch«, sagte er befehlend, auf die beiden Fauteuils weisend, während er zu dem Schreibtisch zurückging, und gütiger zu seinem Sohn: »Du kannst eine Zigarette rauchen. Genier dich nicht.« Es war ganz still. Man hörte durch das geöffnete Fenster, wie von der Michaelerkirche die Turmuhr elf schlug; alle drei waren militärisch pünktlich gewesen.
Der Oberstleutnant hatte neuerdings den Zwicker aufgesetzt und schichtete ein paar beschriebene Bogen, die vor ihm lagen, etwas nervös zusammen. Seiner Unsicherheit in der freien Rede bewußt, hatte er schon für die Aussprache mit seinen Kindern eine Art Memorandum konzipiert, in das er von Zeit zu Zeit niederblickte, um Halt zu gewinnen, wenn er ins Stocken kam. Nur die ersten Worte hatte er sich anscheinend auswendig zurechtgelegt; offenbar wollte er direkt Blick in Blick zu ihnen sprechen. Aber es gelang ihm nicht, sein Blick kam nur unsicher durch die geschliffenen Gläser den befangenen Blicken seiner Kinder entgegen, und er wich ihnen bald aus, indem er sich angestrengt über sein Exposé beugte.
Um sich einen Abstoß zu geben, räusperte er sich zuerst. »Ich habe euch beide«, begann er, und seine Stimme konnte sich nicht ganz von einer würgenden Trockenheit befreien, »heute herbestellt, um euch einige Mitteilungen zu machen, die euch und mich betreffen. Ihr seid beide erwachsen, und ich weiß, daß alles, was ich euch zu sagen habe, streng reservat unter uns bleibt. Also zuerst« – er blickte auf das Blatt, so daß sein Gesicht in Schatten fiel – »ich habe meinen Abschied aus dem kaiserlichen Dienst genommen. Mein Gesuch um Entlassung ist heute an die Armee-Kanzlei abgegangen.«
Er stockte und las dann ab. »Ich habe mich in fast vierzig Dienstjahren bemüht, immer aufrichtig zu sein. Ich habe nie eine Lüge gesagt, nicht nach unten und nicht nach oben, weder zu Subalternen noch zu den Vorgesetzten, auch zu den höchsten und allerhöchsten nicht. So brauche ich auch euch, meinen Kindern, nichts zu verschweigen. Ich bin« – die Stimme versagte ihm einen Augenblick – »ich bin nicht freiwillig gegangen. Daß man mir den Abschied mit dem Generalsrang verbrämt und vielleicht noch einen Orden nachwirft, ändert nichts daran. Für mich nicht das mindeste. Man hat mir nahegelegt, meinen Abschied zu nehmen, nahegelegt in einer Art, die keinen Zweifel über die Absicht ließ, mich loszuwerden. Ich hätte vielleicht protestieren können und um Audienz bei seiner Majestät einkommen, die immer gnädigsten und gütigsten Anteil an meiner Arbeit genommen haben. Ich habe es nicht getan. Mit achtundfünfzig Jahren bittet und bettelt man nicht mehr. Ihr werdet das verstehen.«
Er zögerte abermals einen Augenblick, ehe er weiter ablas. »Ich bin beinahe vierzig Jahre als Soldat in kaiserlichen Diensten gestanden. Und so weiß ich, daß die erste Pflicht des Soldaten Gehorsam ist. Wir haben Disziplin zu halten und jedem Befehl uns zu fügen, selbst wenn wir ihn für unrichtig und ungerecht erachten. Wir haben nicht zu kritisieren, und ich werde es nicht tun. Aber euch, meinen Kindern, darf ich sagen, was vorgefallen ist, damit ihr an mir nicht irre werdet und nicht denken könnt, ich hätte jemals meiner Pflicht nicht genügt; selbstverständlich bleibt auch dies streng reservat. Ihr wißt, daß ich mich seit Jahren fast ausschließlich mit Berechnungen über die ausländischen, möglicherweise feindlichen Armeestärken und Armeeausrüstungen befaßt habe, und ich glaube da meiner Sache so sicher gewesen zu sein, als Sicherheit auf diesem Gebiete möglich ist. Ich habe die Resultate dieser Berechnungen und Vergleichungen nie meinen Vorgesetzten verheimlicht, obwohl sie dort leider als überflüssig und unentscheidend gewertet wurden; ich habe insbesondere im Gegensatz zum übrigen Generalstab und dem Kriegsministerium auf die taktische und die Materialüberlegenheit der Balkanstaaten hingewiesen, die zweifellos jetzt zu einem Kriege gegen die Türken rüsten, und auch vergleichsweise die Schwäche in einigen Punkten unserer eigenen Ausrüstung nicht verschwiegen: indem der Munitionsverbrauch von mir siebenmal so groß angenommen wird, nämlich im Balkankrieg, bei dem man mit der Dauer eines Feldzugs rechnen muß; man hat meine diesbezüglichen Referate von Jahr zu Jahr unter den überflüssigen Akten verschwinden lassen. Ich war es gewöhnt, daß man sie bagatellisierte und abtat; ich wußte, daß die Initiative entscheidet, indes habe ich die Exaktheit der Information fortgesetzt, denn ich habe meine Pflicht nicht im Sinne einer Belohnung getan. Nun hatte ich den Vorzug, bei diesen Sommermanövern von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Thronfolger, in ein längeres Gespräch gezogen zu werden, der über jene Manöver meine Ansicht kennenzulernen wünschte, und ich äußerte mich so freimütig, als es mir die Disziplin gegenüber meinen Vorgesetzten erlaubte. Seine Kaiserliche Hoheit schien lebhaft interessiert, ich wurde dann noch zweimal zu einer Audienz in das Schloß Konopischt gebeten; er fragte mich unter anderm, ob meine statistischen Feststellungen mir die Grundlagen der Beurteilung für die Chancen in einem internationalen Konflikte bieten könnten, was ich meiner Überzeugung gemäß bejahte, denn ich habe nicht zum Spiele jede Stunde meiner Jahre an diese Arbeit gewandt, sondern ausschließlich, daß sie in der Stunde der Gefahr unserem Vaterlande dienlich sein könnten. Seine Kaiserliche Hoheit fragten dann, ob ich für ihn persönlich ein Referat dieser Art zusammenstellen könnte, und ich erklärte mich gerne bereit, sofern er es in eigenen Händen bewahre und vor jeder Indiskretion schütze, was er mir zusicherte. Ich habe« – die Stimme Schuhmeisters wurde im Lesen jetzt stärker und heftiger – »vier Wochen an diesem Referat gearbeitet, und so ehrlich, als es nur meine Berechnungen und mein Gewissen verstatteten. Da dem künftigen Herrn dieses Reiches, mit dem unser aller Schicksal unlösbar verbunden ist, daran gelegen schien, habe ich aus meiner Besorgnis keinerlei Hehl gemacht, daß in einem internationalen Konflikte insbesondere die artilleristische Unzulänglichkeit uns schwersten Gefahren aussetzen würde, und die von dem Generalstab vorberechneten Mobilisationstage der russischen Armee beinahe auf die Hälfte reduziert. Seine Kaiserliche Hoheit nahm das Referat persönlich entgegen und versicherte mir nochmals, daß es ausschließlich in seinen Händen verbleiben würde; nach einigen Monaten aber merkte ich schon aus einigen gereizten Bemerkungen und gleichzeitigen öffentlichen Angriffen in der Armeezeitung gegen meine tabellarischen Veröffentlichungen, daß mein Memorandum...