E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Zuckermann Schlamassel!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-627-02299-0
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Familienroman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-627-02299-0
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcia Zuckermann wurde 1947 in Berlin geboren. Ihr jüdischer Vater überlebte den Holocaust als politischer Gefangener im KZ Buchenwald, ihre protestantische Mutter war als Kommunistin im Widerstand aktiv. 1958 floh die Familie aus der DDR nach West-Berlin, wo Zuckermann eine Ausbildung als Werbewirtin im Verlagswesen absolvierte. Sie lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. 2016 erschien ihr erfolgreicher Familienroman Mischpoke! in der FVA.
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Johns Mizwa
London revisited, 1962
Die Vergangenheit ist unvorhersehbar.
Tot ist sie nicht, eher untot.
Ich stehe an der Reling und spucke in die Themse.
Die meisten Passagiere haben die »Île de France«[1] hier in London bereits verlassen. Unschlüssig stehe ich immer noch an Deck. Vorahnungen? Kalte Füße? Es sind zu viele Erinnerungen. Überwiegend ungute. Nichts hilft gegen das, was man schon getan hat!
Heute, am 18. September 1962, bin ich auf dem Weg. Ich habe eine Mizwa, eine religiöse Pflicht, zu erfüllen. Denn da ist dieses Foto, seit über zwanzig Jahren verfolgt es mich, ständig mahnt es mich an, meiner Pflicht gegen meinen Vater nachzukommen. Seit über zwei Jahrzehnten habe ich mich davor gedrückt. Erst aus Hilflosigkeit, später aus Trägheit. Doch da war dieser brennende, anklagende Blick auf einem vergilbten Foto, dieser Blick hat mich bis in meine Träume verfolgt. Zornig starrt ein weißhaariger Greis mich an. Er trägt einen Strick um den Hals. Fünf Minuten später war er tot. Die deutsche Wehrmacht hatte nach Einnahme der polnischen Stadt Swiecie / Schwetz alle Notabeln des Landkreises zusammengetrieben und gehenkt. Auf dem jüdischen Friedhof. Unterschiedslos. Ob Polen, Kaschuben oder Juden. Der Weißhaarige mit dem Strick um den Hals ist, nein, er mein Vater, Zacharias Segall. Im Bildhintergrund ist zu erkennen, dass der Fotograf für diese Aufnahme auf dem Grab des alten Kohanim gestanden haben musste, auf dem Grab des ehemaligen Kompagnons meines Vaters. Wenn die Legende stimmt, dann wird dem Fotografen der Tanz auf dem Kohanim-Grab schlecht bekommen sein, dachte ich unwillkürlich. Dass ich mich an den alten Wunderglauben aus dem Dorf meiner Eltern noch erinnere, erstaunt mich selbst.
»Die Kohanims stehen am Ufer der Weichsel und sehen die Leichen ihrer Feinde vorbeitreiben«, sagten die Leute damals. Nebbich!
Meine Schwester Else hatte mir die Fotografie, die unseren Vater Zacharias Segall kurz vor seiner Exekution zeigt, seinerzeit aus der Schweiz geschickt. Das Erste, was einem an dem Foto auffällt, ist, dass es so perfekt aussieht wie ein Pressefoto. Belichtung, Schärfe, Raumaufteilung, Ausdruck, alles stimmt. Irgendwie sieht es inszeniert aus. Es erinnert an ein lebendes Tableau der Bürger von Calais, das Denkmal von Rodin. War der Kommandant dieser Gräueltat ein perverser Schöngeist, der dem Massaker von Schwetz eine künstlerische Note geben wollte? Vielleicht war es aber auch die letzte patriotische Botschaft der unterworfenen Polen, die sich ihren Eroberern nach Art der Bürger von Calais mit Henkerstrick um den Hals ergeben, um so heroisch für die Nachgeborenen in die Geschichte einzugehen?
Aber hatten sie denn eine Wahl?
Nicht nur die Professionalität der Aufnahme deutet darauf hin, dass der Fotograf kein Partisan gewesen sein konnte. Dazu stand er zu nahe bei den Opfern. Folglich musste der Fotograf ein Wehrmachtsangehöriger gewesen sein, der die Bluttat auf Befehl fotografierte. Doch wie war es dann zu erklären, dass dieses seltsame Foto aus einem Wehrmachtsarchiv auf geheimen Wegen vom Kriegsschauplatz im besetzten Polen in die Schweiz geschmuggelt werden konnte? Mitten im Krieg! Warum? Wer machte so etwas, und zu welchem Zweck? Dahinter lauern gleich zehn weitere Fragen …
Doch alle Fragen überdeckt der stumme Schrei im wütend-fordernden Blick meines Vaters:
Die Aufforderung gilt mir, dem Sohn. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur vorbringen, dass ich nie gelernt habe, Sohn zu sein. Dazu kannte ich meinen Vater zu wenig, und selbst meine Mutter ist mir in jungen Jahren abhandengekommen, so wie man etwas verliert, das man zurückgelassen hat und später nicht mehr wiederfinden kann. Von ihr weiß ich sogar noch weniger. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb so lange gegen diesen Appell, gegen diese jüdische religiöse Pflicht, gegen diese Mizwa gesträubt. Erstens bin ich nicht besonders gläubig, und zweitens: Was kümmern mich diese Horrorgeschichten aus der alten Welt? »Vater« und »Mutter« waren für mich nur leere Worte, »Schwester« ebenso. Doch wenn ich ehrlich bin, war neben Bequemlichkeit und Abwehr auch eine Portion Groll im Spiel.
Meine Schwester Else ist fast zwei Jahrzehnte älter als ich. Sie stammt aus der ersten Ehe meines Vaters und ist somit streng genommen meine Halbschwester, auch sie kenne ich nur flüchtig. Else war eines Tages während der alljährlichen Kur der Segalls im böhmischen Karlsbad mit einem Kofferfabrikanten aus Berlin durchgebrannt. Mit einem Nichtjuden noch dazu, mit einem Goi! Noch in Karlsbad hatten sie heimlich geheiratet, denn ihr war klar, dass sie für diese Ehe mit einem Christen nie den Segen des Vaters bekommen würde. Folglich musste meine Schwester Else der Liebe wegen alle Brücken hinter sich abbrechen. Genau wie sie es vorausgesehen hatte, kam es dann auch: Nach alter jüdischer Tradition wurde Else als »Apigores«, als Abtrünnige vom Stamm Israel, aus der Familie verstoßen. Dass der unerwünschte christliche Ehemann sonst eigentlich »eine sehr gute Partie« war, änderte daran nichts. Hier ging es nicht ums Geld, hier ging es ums Prinzip! Erfahrungsgemäß ist das immer schlimmer. Über Geld kann man verhandeln, über Prinzipien nicht.
Egal wie sehr sich Bruno Dahnke später um eine Verständigung mit der Familie seiner Frau bemühte, ja plagte, alle Liebesmüh war vergebens. Brunos Briefe schickte mein Vater ungeöffnet zurück. Als Bruno dann persönlich in Schwetz / Swiecie seine Aufwartung machen wollte, ließ man ihn bereits im Vorzimmer vom Vorzimmer abblitzen. »Jemand, der meine Tochter entführt und Schande über mein Haus gebracht hat, egal ob Jude oder Nichtjude, wird von mir nicht empfangen! Punktum!«
Wie in solchen Fällen üblich, hatte mein Vater meine Schwester Else wegen der heimlichen Ehe mit einem Goi für tot erklärt. Alle Segalls und Anverwandten mussten sogar eine Woche Schiwe sitzen und trauern, als wäre Else tatsächlich gestorben. Jedes Andenken an sie wurde getilgt: sämtliche Fotos, Briefe, Schulhefte, Kleidungstücke und Gegenstände, kurz alles, was jemals an meine Schwester erinnern könnte, wurde auf dem jüdischen Friedhof von Schwetz begraben, im unheiligen Bereich des Friedhofs, dort, wo auch abgetrennte Gliedmaßen, Embryos und tote Säuglinge ohne Seele[2] beerdigt wurden. Else war seither toter als tot. Selbst ihr Name durfte nicht mehr erwähnt werden. Man tat so, als hätte es meine Schwester nie gegeben. Über diesen archaischen jüdischen Brauch zerstritt sich mein Vater sogar mit seinem Geschäftspartner und Cousin, Samuel Kohanim, der das als unnötig grausam und anachronistisch verurteilte: »Wir sind im zwanzigsten Jahrhundert!«, woraufhin unser Vater konterte: »Nein, nach meiner Rechnung weit im fünfzigsten, nach der Rechnung unserer Vorväter! Und an unseren Bräuchen halte jedenfalls fest, im Gegensatz zu dir! Bist du vor lauter Modernität eigentlich noch ein Jude?«
Ihr Ton wurde darüber so scharf, und sie zerstritten sich so grundsätzlich, dass sie ein Jahr lang nicht miteinander sprachen. Wenn sie sich im Kontor des Sägewerks oder der Möbelfabrik in Schwetz trafen, was unvermeidlich war, schauten sie mit verkniffenen Lippen aneinander vorbei. Die Verständigung zwischen den beiden sprachlos zerstrittenen Geschäftspartnern fand in dieser Zeit nur über den »Schabbes-Goi«, den christlichen Prokuristen, statt, der sie sonst an jüdischen Feiertagen und am Sabbat, vom Freitagnachmittag bis zum Sonntagmorgen, im Geschäft vertrat. Diesen bizarren Zustand beendeten die beiden erst, als die Eisenbahnlinie geplant wurde, die Königsberg und Danzig mit Berlin verbinden und direkt an ihrem Werksgelände vorbeiführen sollte. Samuel Kohanim, der eingefleischte Modernist, hatte dazu eine unternehmerische Vision. Diese veranlasste ihn zu einer Aktennotiz an meinen Vater.
An diesem historischen Tag nach Jom Kippur unterbreitete Samuel meinem Vater die Idee zur Gründung einer Papiermühle, die um ein Vielfaches größer werden sollte als die Papier- und Kartonagenfabrik ihres alten Rivalen Bukofzker in Schwetz. Die geplante große Papiermühle sollte ein werden, das massenhaft Zeitungspapier über Danzig bis Königsberg und westwärts bis nach Berlin, Hamburg und Leipzig liefern sollte. Samuel hatte bereits zu potenziellen Verlagshäusern in Berlin, Leipzig und Hamburg Fühlung aufgenommen, Ankaufspreise in Erfahrung gebracht, Absatzmöglichkeiten ausgelotet und Zusagen zu Kostenvoranschlägen...




