E-Book, Deutsch, 475 Seiten
Zuckermann Das Trauma des "Königsmordes"
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86393-581-8
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Französische Revolution und deutsche Geschichtsschreibung im Vormärz
E-Book, Deutsch, 475 Seiten
ISBN: 978-3-86393-581-8
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Deutschland (Frankfurt am Main), wo Zuckermann auch studierte. Mit 21 Jahren kehrte er von Frankfurt nach Israel zurück. Dort lehrte er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv.
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Vorwort
Was bedeutet es, wenn man beschließt, ein im Jahr 1989 erschienenes Buch über dreißig Jahre später erneut zu veröffentlichen? Mehrere Antworten sind auf diese Frage möglich. Das Buch kann zum „Klassiker“ avanciert sein, zum unübergehbaren Teil eines kulturellen Kanons, dem man eine neue Auflage widmet. Es kann auch – damit möglicherweise verschwistert – ein kommerzieller „Dauerbrenner“ sein, den man zwischendurch mal „auffrischen“ muss. Es mag ein an sich wertvolles Werk sein, welches man gleichwohl überarbeiten bzw. ergänzen oder „auf den neuesten Stand“ seines Sujets bringen muss. Die ersten beiden Antworten treffen auf den vorliegenden Band nicht zu – weder „Klassiker“ noch „kommerzieller Dauerbrenner“ –, was die dritte Möglichkeit anbelangt, steht mir als Autor kein Urteil darüber zu. Stattdessen soll hier eine Rechenschaft darüber abgelegt werden, worum es in diesem Buch ging und was sich seit seiner Publikation im Bereich des in ihm erörterten Themenkreises wissenschaftlich zugetragen hat.
Das Buch erschien, wie gesagt, 1989, dem zweihundertsten Jubiläumsjahr der großen Französischen Revolution, in welchem auch die Berliner Mauer fiel; ein Jahr später erfolgte der staatsoffizielle Zusammenbruch der Sowjetunion. Das darf insofern für signifikant erachtet werden, als die gesinnungsmäßige Emphase des Buches sich am marxistischen Strang der Revolutionsgeschichtsschreibung orientierte (Mathiez, Lefebvre, Soboul), mithin die emanzipatorische Ausrichtung der Revolution als Paradigma der Moderne herauszustellen trachtete. Aber mit dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ (der ja keiner gewesen war) wurde nun dieses Paradigma gleichsam durch die Realgeschichte infrage gestellt, ja von Grund auf erschüttert. Das will wohlverstanden sein: Die Ziele der bürgerlichen französischen Revolution galten mir, dem Marxisten, nur als historische Vorstufe dessen, worum es der Moderne zu gehen hatte: um die gesellschaftliche Befreiung des Menschen, wie sie sich im Marx’ schen Denken als Sozialismus/Kommunisus darstellte. Konnte dies aber zur Zeit der Niederschrift dieses Buches realiter überhaupt antizipiert werden? Natürlich nicht. Dies bedarf aber der Erläuterung.
Ernst Bloch sagte einmal in einem Vortrag: „Sowjetischen Marxisten wurde Marx zum Platoniker, lässt sich sagen, mit einer solchen Reinheit der Idee, und bloß der Idee, dass einem schlecht werden könnte vor solchem Idealismus unter der Maske von Materialismus, von Praxis.“ Eine bittere Erkenntnis des bekennenden Marxisten. Denn was könnte man Marxisten Schlimmeres nachsagen, als dass sie sich dem philosophischen Idealismus – also der Vorstellung, dass Ideen die historische Realität der Gesellschaft bestimmen und nicht die materiellen Grundlagen des jeweiligen sozialen Seins – verschrieben hätten. Zwar ist klar, dass zwischen dem materiellen Sein und dem Bewusstsein ein dialektisches Verhältnis besteht, mithin sich Sein und Bewusstsein stets wechselseitig durchwirken, aber als nachgerade axiomatisch gilt Marxisten der berühmte Satz von Karl Marx: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Und wenn der philosophische Idealist Hegel von einer gegensätzlichen Reihenfolge von Wirkung und Ursache ausgeht, so wendet sich Marx gerade darin dezidiert dagegen.
Es musste, so besehen, den Marxisten Bloch in der Tat betroffen machen, dass im östlichen Kommunismus gerade im Namen des Marxismus der Überbau (verkürzt ausgedrückt: die Sphäre der Ideen) von der Basis (der materiellen Sphäre menschlichen Seins und Handelns) losgelöst wurde. Der Grund hierfür lag nicht in subjektiv bösartiger Intention, sondern rührte von einem objektiven Strukturproblem her. Bloch hat dies genau erkannt: „Das kann mit dem Boden zusammenhängen, einem Boden, der durch keine bürgerliche Revolution genährt war, der seit der Teilung des ost- und weströmischen Reiches im Jahre 396 immer ferner rückte, der keine Scholastik kennt, keine Renaissance, keine Probleme der Reformation, keine Aufklärung, kein 1789. Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution. Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt, die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich? War es da nicht ganz gesetzmäßig, um einen üblichen Ausdruck der vulgären und schematischen Orthodoxie zu gebrauchen, dass sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern musste? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“
Was sich viele Feinde des Sozialismus nicht klarmachen, wenn sie den Untergang des Sowjetkommunismus schadenfroh als historische Entscheidung im Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus feiern, mithin daraus auch eine historiosophische Schlussfolgerung und endgültige Entscheidung gezogen haben wollen, ist, dass dieser Einwand Blochs sich gerade auf Wesentliches in Marxens Denken berufen darf. Denn – lapidar ausgedrückt – hätte der schiere Gedanke, dass die proletarische Revolution gerade im zaristischen Russland ausbrechen werde, Marx gewiss entsetzt. Das sei kurz erörtert.
Bei Marx ist der wahre revolutionäre Umbruch stets das Ergebnis eines evolutionären Vorlaufs, der erst dann den Umschlag hervorbringt, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sich gesellschaftlich real an der Basis entwickelt hat, und dem Bewusstsein dieser realen Entwicklung, wie es sich im Überbau niederschlägt, nicht mehr zu halten ist und eine Entscheidung erfordert. Das ist die sogenannte revolutionäre Situation – sie ist historisch entstanden und manifestiert sich als Strukturproblem. Man kann also nicht einfach mal so „eine Revolution beschließen“, gleichsam als Gedankenspiel. Die Revolution ist, Marx zufolge, den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen sie hervorgeht, insofern unterworfen, als es bei ihm keine künstlichen Sprünge geben kann: Eine jede historische Phase muss sich ihrem System gemäß voll verwirklicht haben, ehe sie in die nächste revolutionär übergehen kann. Wenn wir also von den drei zentralen Phasen in der Neuzeit ausgehen, die für Marx die Abfolge der aus den materiellen Bedingungen entstandenen Produktionsweisen darstellen, lässt sich sagen, dass der bürgerliche Kapitalismus erst dann die neue gesellschaftliche Formation bilden kann, wenn sich der Feudalismus voll entfaltet, quasi sich vollendet hat. Und so auch beim Sozialismus: Er kann erst dann aus dem Kapitalismus erwachsen, wenn dieser an die Grenzen seiner Entfaltung gelangt ist, sich sozusagen überlebt hat.
Wann derlei Grenzen erreicht sind, lässt sich nicht leicht bestimmen. Klar ist aber, dass es für die Heraufkunft des Kapitalismus notwendige strukturelle Bedingungen gibt: Er hat zumindest die Industrialisierung der Ökonomie zur Voraussetzeung, mithin die Herausbildung der neuen historischen Klassen des Bürgertums und des Proletariats als Träger der neuen Produktionsmittel, sei es als herrschende, sei es als beherrschte Klasse. Der Konflikt zwischen den beiden Klassen ist Marx zufolge unausweichlich, und er ist insofern von gewichtiger Bedeutung, als im Verhältnis beider Klassen sowohl die Entfaltungsmöglichkeiten des Kapitalismus als auch sein revolutionärer Untergang angelegt sind. Für Marx war also historisch ein Sprung vom Feudalismus direkt zum Sozialismus nicht denkbar, und zwar nicht nur realgeschichtlich, sondern auch im Hinblick auf die innere Logik seiner Geschichtsphilosophie – eben die der evolutionären Entwicklung auf die revolutionäre Umwälzung hin.
Und das ist es, was Ernst Bloch im eingangs zitierten Diktum moniert: Wenn er von der Platonisierung der Marx’schen Lehre spricht, von einem „Idealismus unter der Maske von Materialismus“, dann kritisiert er nicht nur den ideologischen Verrat, den sowjetische Marxisten an der Lehre selbst begehen, sondern auch die Leugnung der nachgerade unmöglichen Bedingungen für die Etablierung eines Sozialismus im zaristischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Feststellung: „Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution“, besagt ja nichts anderes, als dass im noch weitgehend feudalistischen Zarismus keine Strukturbedingungen für eine sozialistische, geschweige denn kommunistische Revolution bestanden haben. Russland jener Zeit war (im Vergleich zu England, Frankreich und Deutschland) weder in einem Maß industrialisiert, das die reale Etablierung eines kapitalistischen Systems ermöglicht hätte, noch waren die gesellschaftlichen Strukturen für eine damit einhergehende Herausbildung eines den Feudalismus überwindenden Bürgertums und des ihm antagonistisch verschwisterten Proletariats gegeben.
Was das zur Folge hatte, war eine Tragödie: „Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt“, sagt Bloch, „die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume...




