Zoderer | Die Farben der Grausamkeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Zoderer Die Farben der Grausamkeit

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7447-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7447-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Richard will sich von der Liebe seines Lebens befreien, von der Obsession einer Leidenschaft, die ihn immer noch an Ursula fesselt, seine einstige Geliebte, die ihn verlassen hat. Um sein Familienglück zu retten, kauft er ein Bauernhaus am Berg. Die Umgestaltung des neuen Heimes soll ihn ablenken, erlösen von der Sehnsucht nach
Ursula, soll ihn zurückführen zu seiner Frau Selma, die er immer noch liebt, und zu ihren beiden Söhnen. Richard pendelt zwischen zwei Welten, zwischen Idyll und schmerzender Erinnerung, zwischen der Einsamkeit des Bergdorfs und der Betriebsamkeit der Stadt. Doch dann macht er einen Karrieresprung und wird als Auslandskorrespondent ins Berlin des Jahres 1989 geschickt. Inmitten der weltpolitischen Umwälzungen begegnet er dort ein zweites Mal Ursula und muss sich entscheiden ...
Mit atmosphärischer Dichte und poetischer Klarheit erzählt Joseph Zoderer in seinem neuen Roman eine Geschichte von den Möglichkeiten der Liebe und den Wunden, die sie schlägt, von der Sehnsucht, mehr als ein Leben zu haben, und vom Weg eines Mannes zu sich selbst.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Zweiter Teil
Eine Mauer der Freiheit
Erstes Kapitel
Abwesenheit Ihre Arme lagen auf seinen Schultern, immer wenn sie auseinandergingen, hatte sie die Arme um seinen Nacken gelegt. Jetzt war er frei, um die Nachtluft alleine zu atmen. Der erste Einsatzort war Paris. Sein Sender konnte sich ortsgebundene Korrespondenten nicht leisten, er wurde als springendes Pferd eingesetzt, entsprechend seinen Sprachkenntnissen. Er wohnte in der rue Balzac, suchte, wann immer die Zeit es erlaubte, wie jeder literarisch interessierte Tourist die Spuren, die Hemingway, Sartre oder Henry Miller in ihren Büchern gelegt hatten. Fast täglich saß er auch einmal im Museumscafé des Centre Pompidou, um den Rundblick zu genießen, die Dächer und Fassaden dieser von ihm angelesenen Stadt. Auf ihrer nachträglichen Hochzeitsreise hatte er mit Selma zwei Tage in Paris verbracht, mit fast keinem Geld in der Tasche. In einer der historisierten Wirtsbuden der verwinkelten Gäßchen auf Montmartre tranken sie eine Flasche Bordeaux und aßen eine Kleinigkeit. Das Lokal war lauschig, entsprach ihren romantischen Erwartungen. Aber am nächsten Morgen, nachdem sie die Hotelrechnung bezahlt hatten, blieb ihnen (die Zugbillets hatten sie) kaum noch genug Kleingeld, um mit der Metro zur Gare du Nord zu gelangen. Dennoch wollten sie einmal vor dem Café Les Deux Magots in einem der Strohsessel sitzen und einen Kaffee trinken. Beim Bezahlen mußten sie ihre letzten französischen Münzen mit englischen ergänzen, mit Shillings und Pennies, die der Kellner mit einer Geste der Verachtung in den Rinnstein schleuderte. Das war am Vormittag, und ihr Zug ging erst am Abend. Jetzt, ein halbes Jahrzehnt später, saß Richard (mit Kreditkarten und jeder Menge Kleingeld) gerne am Vormittag im Café Select und oft aß er Muscheln im Restaurant La Coupole auf der anderen Straßenseite und blickte dort auf die weißen Tischdecken, auf die Art-déco-Stühle, vielleicht saß er tatsächlich an irgendeinem Zweiertisch, an dem Sartre einmal mit seiner Simone gegessen, getrunken und gestritten hatte, hier vor oder hinter den großflächigen Vitrinen, inmitten oder im Hintergrund des Verkehrslärms und mit dem Blick auf den Boulevard und sein Menschen-gewimmel und die hochhackigen, schmalen Schuhe der Frauen. Ja, und die diese Schuhe trugen, bewegten sich, schien ihm, als ob sie sich auf ihr weiblich verwirrendes Geheimnis besinnen wollten. Richard hatte seine Augen offen und genoß die schillernden Farben des Lebens. Er bestellte ein Glas Champagner, jetzt war er doch am richtigen Ort, nie hatte er sich so nahe am Fluten des Weltmeeres gefühlt. Alles war schön, auch was nicht schön war. Das Grau des Trottoirs, die Zigarettenstummeln, die Pizza-brocken, die zertreten wurden, sogar die Urinspur, die jemand in der Nacht hinterlassen hatte und die am frühen Vormittag noch nicht aufgetrocknet war. Jedes dieser von Widerstand oder vom Willen zu Selbstwürde geprägter Gesichter der vorbeieilenden Frauen, und auch jene müden Münder hätte er berühren wollen, die vor seinen Augen den Boulevard überschwemmten. Warum, warum noch einmal und hier tauchte ihr Gesicht auf? Als ob Richard, frei von Wald und Haus und Kinderrufen, eine baumlose endlose Ebene bis zum weißschaumigen Mittelmeer vor sich hätte: so sehnte er sie in völlig enthemmtem Verlangen herbei, Ursula. Durch das Sonnenfenster des La Coupole schimmerte, so träumte er hellwach, Ursulas winziger kirschroter Fleck rechts vom Mundwinkel. Er wollte ihn küssen, nichts zog ihn mehr an als dieser von anderen wohl kaum so wahrgenommene Farbpunkt in ihrem Gesicht, für ihn (warum, verstand er nicht) ein Verletzlichkeitspunkt oder der Punkt ihres Fürsichseins, ihres Geheimnisses, das sie vielleicht selbst nicht kennen wollte. Ursula wollte dort nicht geküßt werden. Und er hatte nie seine Lippen über ihr Geheimnis gelegt (das vielleicht kein anderes war als die Narbe einer angeborenen Enttäuschung). Jetzt, hinter der Vitrine des La Coupole, war es die winzige offengebliebene Wunde, die er für immer schließen wollte mit seinem Mund, und wäre es inmitten der muschelausleckenden Restaurantgäste geschehen. Ja, zwischen den Passanten, die zur nächsten Metrounterwelt eilten, sah Richard deutlich ihr Gesicht, bildete er sich ein, dieses schmale Profil mit den dunklen Haaren, die flatterten, wenn sie durch die Redaktionskorridore eilte, und die sie, wenn sie einmal ruhig stand oder später, wenn sie vor ihm oder neben ihm saß, gerne – wenigstens ein paar dicke Strähnen über dem linken Ohr – nervös, nein, rhythmisch mit dem Zeigefinger ein- und ausrollte, ja, während sie anderen zuhörte, spielte sie mit ihrem Haar, und Richard sah ihr entspanntes, lachendes Gesicht, als wäre sie jetzt mit ihm hier in Paris am Boulevard Montparnasse. Als er ihr Fingerspiel mit dem Haar zum ersten oder zum zweiten Mal in der Redaktion gesehen und dann gesucht hatte als Beobachter, hatte er sich geschworen: Dieses Gesicht, diese Haarrolle über diesem Zeigefinger, diesen irgendwo hinschauenden Blick möchte ich, will ich, werde ich einmal in meinem Leben einfangen und für mich behalten. Die Zeit … er trug sie mit sich, vergaß sie aber oft, vergaß, daß er mit ihr ganz frei hätte umgehen können. Ihm ging es gut, nie und nimmer wäre er imstande gewesen, einen Menschen zu ermorden. Alle in der Redaktion hatten Ursulas dahineilenden Schritt, dieses leichte Vornübergebeugtsein (wie bei einer Dauerstartminute einer Hundertmeter-Läuferin) gesehen, ihr breit strahlendes Lächeln. Alle träumten von ihr, alle liebten sie in ihren Träumen, davon war Richard überzeugt. Trotz ihrer jungen Jahre wußte Ursula immer, welchen Weg sie zu gehen hatte. Sie, nicht Richard, war zur Einsicht gekommen, daß sie die Redaktion verlassen mußte. Sie war diskret und gescheit wie eine Fledermaus. Bevor sie ging, hatte sie sich bereits einer ebenso guten, wenn nicht besseren Stelle in einem öffentlichen Amt vergewissert. Sie, diese Zuallementschlossene, gab es in seinem Leben nicht mehr, nein, er konnte sie sich nicht in Paris denken. Hier hatte sie weder in eine der Boutiquen an der Champs-Élysées einen Blick geworfen noch war sie mit ihm jemals im Jardin du Luxembourg gewesen, wo er fast täglich herumflanierte, nein, es war kein Waldersatz, auch kein Wiesengrünersatz, es war die Stadt pur, nichts als Stadt mitten im Abgasgestank und Verkehrsgedröhn, dieses Gehen in einer gedämpften, von ihm bewußt regulierten Ruhe. Ursula war nicht da, und er hatte keine Skrupel, daß er sie hierher wünschte. Aber er litt nicht, obwohl er die Art-déco-Stühle ohne Komplizin ansah, auch wenn er sie gerne auf einem hätte sitzen gesehen, und sei es mit dem Rücken zu ihm. Abends, wenn er seinen kurzen Radiokommentar durchgegeben oder einen Lagebericht auf Tonband gesprochen hatte, trieb er sich gerne im Quartier Latin herum, nahm die Metro nach Saint-Michel und bummelte in die rue de la Huchette zu dem Konzertkeller Caveau de la Huchette. Auf dem Weg dorthin spürte er Ursula neben sich, hörte ihre Schritte im Kopf, diesen ruhigen Schlenderrhythmus, der ihr eigen war. Kaum Worte, die er hörte, sie war eine, die bedacht redete, nie schrie, nein, sie wurde nie laut oder hysterisch. Aber sie suchte nicht seine Hand. Hätte sie seine Hand wenigstens mit den Fingerspitzen berührt, wäre ihm bewußt geworden, daß sie nicht als Abwesende neben ihm herging. Die Alleebäume grünten, Richard sah die aufquellenden Knospen der Platanen und der Roßkastanien und sah die Mörtelmaschine vor sich und hörte ihr geröcheltes Rotieren. Er sah den Löwenzahn gelb aufblühen und Selmas Rücken vor dem Karren, den er den Wiesenhang hinaufdrückte, sie zog mit einem Haken über dem Rad und er schob mit Freude und Kraft. Am liebsten hörte Richard Jazz, obwohl er wußte, daß Ursula damit kaum in Stimmung zu bringen war. Trotzdem begleitete sie ihn wortlos, lautlos, tatsächlich war sie abwesend, er sprach aber mit ihr – eigentlich war er fast schon bei sich daheim in seinem Saint-Germain-des-Prés, er sagte ihr, daß alle Jazzliebhaber im Le Montana gewesen seien, in der rue St.-Benoît. Das schien sie nicht zu beeindrucken, aber immerhin lächelte sie und ließ das Weiß ihrer Zähne leuchten. War sie traurig, weil sie abwesend war? Er brauchte hier (nicht wie in einem Zufallsdorf) niemanden zu grüßen, also konnte er mit ihr, der Abwesenden, reden, ohne abgelenkt zu werden. Sie aber war so wirklich abwesend wie nie zuvor; den Duft ihrer Nähe – er roch ihn nicht mehr. Also verlangte sie nicht mehr nach ihm? Warum wunderte er sich darüber? Ihre Abwesenheit in Paris unterschied sich von ihren bisherigen Abwesenheiten. Sie liebte ihn nicht mehr. Bisher hatte er in jeder Abwesenheit ihr Verlangen gespürt, ihr tränenloses Sehnen nach gemeinsamer Wortlosigkeit, als sie alles, wirklich alles, gemeinsam und gleichzeitig fühlten. Jetzt ging sie mit ihm über den Boulevard, und er war eine Schaufensterpuppe, die sie an der Hand mitzog. Er war aus Holz, nein, aus Plastik, und sie spuckte weder Holz noch Plastik an. Und doch wußte Richard, daß sie mit ihm lebte, daß Ursula nie abwesend sein konnte, weder lebend noch tot. Als sie ihn verließ, sagte sie: Sei nicht traurig, ich lebe nur vorübergehend anders, aber unsere Reise ist nicht zu Ende. Und sie strich ihm mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken. Wir zwei treffen uns an irgendeinem Weg, wohin der auch führen wird, vielleicht in Lissabon. Warum hatte sie Lissabon gesagt? Er war nie in Lissabon gewesen. Diese Stadt war ihm fremder als irgendeine Stadt, auch wenn er irgendwann gedacht hatte, daß es der Ort des Geheimnisses sein...


Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei HAYMONtb Das Glück beim Händewaschen. Roman (2009).



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