Geschichten zum Verlusterleben und dessen Transformation
E-Book, Deutsch, 316 Seiten
ISBN: 978-3-456-95573-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zielgruppe
Interessierte Laien, Psychotherapeuten, Seelsorger, Pflegefachpersonen (v.a. im Bereich palliative Care), Trauerbegleiter, Philosophen, Lehrer, Betroffene, die einen Menschen durch Trennung oder Tod verloren haben
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Palliativpflege, Sterbebegleitung, Hospiz
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Praktische Theologie Seelsorge, Pastoraltheologie
Weitere Infos & Material
1;Trennung, Tod und Trauer;1
1.1;Inhaltsverzeichnis;6
1.2;Vorwort;14
2;1 Einleitung und Übersicht;16
2.1;1.1 Woru?ber sprechen wir?;16
2.2;1.2 Die soziale Amputation;17
2.3;1.3 Risikofaktoren fu?r die eigene Gesundheit;18
2.4;1.4 Trauer als Anpassungsprozess;20
2.5;1.5 Vorstellungen u?ber Trauerverarbeitung;22
2.5.1;1.5.1 Intensives Leid;23
2.5.2;1.5.2 Sich «durcharbeiten»;24
2.5.3;1.5.3 Lösen aller emotionalen Bindungen;25
2.5.4;1.5.4 Die Erwartung, das fru?here Leben wiederherzustellen;27
2.6;1.6 Traditionelle Modelle der Trauerverarbeitung;28
2.6.1;1.6.1 Das Psychodynamische Phasenmodell;28
2.6.2;1.6.2 Die Bindungstheorie;29
2.6.3;1.6.3 Das biologische Modell;30
2.6.4;1.6.4 Das Stressmodell;31
2.6.5;1.6.5 Das Copingmodell der Trauer;32
2.7;1.7 Woran erkennt man eine «geglu?ckte» Trauer?;34
2.8;1.8 Soziale und andere Ressourcen;35
2.9;1.9 Hilfe und Selbsthilfe;37
3;2 Lebensentwu?rfe;38
3.1;2.1 Identität als soziale Errungenschaft;38
3.1.1;2.1.1 Konstituierende Faktoren der Identität;38
3.1.2;2.1.2 Das zerbrochene Ich nach einem sozialen Verlust;39
3.1.3;2.1.3 Das soziale Netzwerk nach dem «Bruch»;40
3.1.4;2.1.4 Die Familie und Freunde;42
3.1.5;2.1.5 Ressourcen fu?r das Selbsterleben – Emotions- und Selbstregulation;42
3.2;2.2 Verbundenheit, Bindung und Sicherheit;46
3.2.1;2.2.1 Vor- und Nachteile sozialer Einbindung;46
3.2.2;2.2.2 Die Bindungstheorie und ihre Biologie;47
3.2.3;2.2.3 Auswirkungen ungenu?gender Bindungserfahrung;49
3.2.4;2.2.4 Liebe und das Glu?ck einer neuen Bindung;50
3.2.5;2.2.5 Liebe und Verliebtsein als biologischer, generativer Prozess;50
3.2.6;2.2.6 Bindungstheorie und Verlusterleben;52
3.2.7;2.2.7 Bindungsverletzungen und ihre Heilung;53
3.2.8;2.2.8 Kosten und Nutzen von Sicherheit;55
3.2.9;2.2.9 Ein biologisches Verständnis des Verlusterlebens;56
3.3;2.3 Das mit der Bezugsperson Gemeinsame;59
3.3.1;2.3.1 Gemeinsam Erlebtes;59
3.3.2;2.3.2 Gemeinsame Freunde, Familie und Bekannte;60
3.3.3;2.3.3 In der «Welt» einen Platz haben;62
4;3 Das Trauma;64
4.1;3.1 Folgen eines Traumas;64
4.2;3.2 Trauer als Trauma;66
4.2.1;3.2.1 Das Erschrecken u?ber den Verlust;66
4.2.2;3.2.2 Die zerbrochene Welt;68
4.2.3;3.2.3 Vom Schrecken zur Verarbeitung;70
4.2.4;3.2.4 Phasen der Trauer, neu definiert;72
4.2.5;3.2.5 Was bedeutet «verarbeiten»? Wie sieht Trauer aus?;75
4.3;3.3 Phänomenologie;76
4.3.1;3.3.1 Die Matrix der Trauer;76
4.3.2;3.3.2 Trauer als existenzielle Erfahrung;77
4.3.3;3.3.3 Desillusionierung und Enttäuschung;78
4.3.4;3.3.4 Was zu mir gehört, ist auf einmal fort;79
4.3.5;3.3.5 Schmerz und Trauer – ein und dasselbe?;80
4.4;3.4 Emotionale Folgen eines Verlusts;81
4.4.1;3.4.1 Gefu?hlseinbru?che – «Pangs of emotion»;81
4.4.2;3.4.2 «Ich spu?re gar nichts, nur Leere»;82
4.4.3;3.4.3 «Das Leben geht weiter»;83
4.4.4;3.4.4 «Warum gerade ich?»;84
4.4.5;3.4.5 «Bin ich der Hu?ter meines Bruders?»;86
4.4.6;3.4.6 Berechtigte und unberechtigte Selbstvorwu?rfe;87
4.4.7;3.4.7 Schuldgefu?hle als Handlungsanleitung;88
4.4.8;3.4.8 Der Abschied, der keiner war;89
4.4.9;3.4.9 Exkurs: Trauer bei Persönlichkeitsveränderungen;90
4.4.10;3.4.10 Was man noch hätte sagen oder tun wollen …;91
4.5;3.5 Exkurs: Das Unbewusste der Beziehung;92
4.5.1;3.5.1 Die kleinen Dinge tun weh;92
4.5.2;3.5.2 Der emotional-assoziative Gedächtniskomplex;95
4.5.3;3.5.3 Implizites und explizites Gedächtnis;95
4.5.4;3.5.4 Das Gedächtnis spielt mir einen Streich;98
4.5.5;3.5.5 «Hilfe, ich werde verru?ckt!»;100
4.5.6;3.5.6 Der «lebendige Tote»;101
5;4 Bewältigungsstrategien;104
5.1;4.1 Nichts ist geschehen: Verleugnen und ungeschehen machen;104
5.2;4.2 Tod und ewiges Leben – Über die Kraft des Glaubens;108
5.2.1;4.2.1 Die Glaubensfrage;110
5.2.2;4.2.2 William James und die Varietäten der religiösen Erfahrung;112
5.2.3;4.2.3 Auswirkungen spiritueller Erfahrungen und religiösen Verhaltens auf die Trauerreaktion;113
5.3;4.3 Schuld und Su?hne: Kann die Welt repariert werden?;115
5.4;4.4 Rumination und Destruktion;118
5.4.1;4.4.1 Ruminatives Verhalten als Coping;118
5.4.2;4.4.2 Ruminieren als Prävention;120
5.5;4.5 Maladaptive Copingstrategien;122
6;5 Der Lernprozess;132
6.1;5.1 Warum Schmerz kein guter Indikator fu?r «gutes» Trauern ist;132
6.2;5.2 Der Prozess des Trauerns;136
6.2.1;5.2.1 Das duale Prozessmodell;136
6.2.2;5.2.2 Die vier «Aufgaben» der Trauer nach Worden;139
6.3;5.3 Akkommodationsprozesse;140
6.4;5.4 Posttraumatic Growth: ein bislang wenig verstandener Prozess;143
6.5;5.5 Trauern bedeutet Lernen;150
6.5.1;5.5.1 Das Gehirn ist ein adaptives Organ;150
6.5.2;5.5.2 Die Wirklichkeit hat sich verändert – ist alles anders?;152
6.5.3;5.5.3 Was ist erforderlich, damit Lernen gelingt?;153
6.5.4;5.5.4 Lernen und Motivation;154
6.5.5;5.5.5 Oasen in der Wu?ste;156
6.6;5.6 Soziales Lernen;158
6.6.1;5.6.1 Lernfelder und soziale Umwelt;158
6.6.2;5.6.2 Wer darf mit auf die Expedition?;159
6.6.3;5.6.3 Über die Sprengkraft unterschiedlicher Erfahrungen;160
7;6 Trauerbegleitung und gesellschaftliche Lernhilfen;162
7.1;6.1 Assistierte Trauer;162
7.2;6.2 Sinnvolle Trauerbegleitung;166
7.3;6.3 Rituale in der Trauer;167
7.3.1;6.3.1 Totem und Tabu;169
7.3.2;6.3.2 Trauern Kinder anders?;172
7.3.3;6.3.3 Begleitung von Kindern und Jugendlichen;174
7.4;6.4 Leitlinien und Interventionen;175
7.4.1;6.4.1 Wenn der Trauerprozess stockt;176
7.4.2;6.4.2 Empirische Evidenz: Was sagt die Wissenschaft?;180
7.4.3;6.4.3 Selbsthilfegruppen und andere Angebote;181
7.5;6.5 Hilfe zur Selbsthilfe (Toolkit);184
7.5.1;6.5.1 Das Thema «Erkennen»;184
7.5.2;6.5.2 Das Thema «Aufbrechende Gefu?hle»;185
7.5.3;6.5.3 Das Thema «Neuorientierung»;188
8;7 Stolpersteine, die den Prozess komplizieren;192
8.1;7.1 Emotionale Blockierung oder Überflutung;192
8.2;7.2 Risikofaktoren und zu viel Trauer;194
8.2.1;7.2.1 Maladaptive Strategien und Handlungsweisen;194
8.2.2;7.2.2 Zu hoher Erwartungsdruck und andere maladaptive Einstellungen;198
8.3;7.3 Zielkonflikte, Beziehungskonflikte, emotionale Konflikte;202
8.3.1;7.3.1 Nicht loslassen können;202
8.3.2;7.3.2 Innere Konflikte und Unerledigtes;203
8.3.3;7.3.3 Unsichere Bindungserfahrungen, Vertrauensmangel;203
8.3.4;7.3.4 Zur Akzeptanz der Trennung;205
8.3.5;7.3.5 Hoffnung auf ein Wiedersehen, auf Neubeginn;205
8.3.6;7.3.6 Hadern mit dem Schicksal, Auflehnung, Protest;207
8.3.7;7.3.7 Zu viel Trauer;208
8.3.8;7.3.8 Falsch verstandene Verbundenheit;209
8.4;7.4 Das Entstehungsmodell der Komplizierten Trauer;210
9;8 Komplizierte Trauer;218
9.1;8.1 Ätiologie und Phänomenologie;218
9.2;8.2 Symptome der Komplizierten Trauer;219
9.2.1;8.2.1 Unterschiedliche Phänomenologie durch Schemastörungen und Vulnerabilitäten;224
9.2.2;8.2.2 Komplizierung des Trauerprozesses: Lernstörung oder eigenständige Störung?;227
9.3;8.3 Abgrenzung zu anderen emotionalen Störungen;229
9.3.1;8.3.1 Komplizierte Trauer und andere psychische Störungen;229
9.3.2;8.3.2 Depression;229
9.3.3;8.3.3 Angst;231
9.3.4;8.3.4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTB);233
9.3.5;8.3.5 Persönlichkeitsstörungen;234
9.4;8.4 Diagnostik;234
9.4.1;8.4.1 Woran erkenne ich eine Komplizierte Trauer?;234
9.4.2;8.4.2 Prävalenz und Komorbidität;235
9.5;8.5 Tools und Entscheidungshilfen fu?r die Praxis;236
10;9 Therapie der Komplizierten Trauer;240
10.1;9.1 Ein kurzer historischer Abriss;240
10.1.1;9.1.1 Die humanistischen Ansätze;242
10.1.2;9.1.2 Analytisch-psychodynamische Ansätze;243
10.1.3;9.1.3 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze;243
10.2;9.2 Vorgehen anhand eines Falls;245
10.3;9.3 Analyse des Vorgehens;247
10.3.1;9.3.1 Klärung des therapeutischen Auftrags;247
10.3.2;9.3.2 Zielvereinbarung;248
10.3.3;9.3.3 Vorgeschichte;249
10.3.4;9.3.4 Erschlossene Motive und Schemata;249
10.4;9.4 Therapieplanung;251
10.4.1;9.4.1 Klärung und/oder Bewältigung?;251
10.4.2;9.4.2 Konfrontation mit vermiedenen Inhalten;253
10.5;9.5 Evidenzbasierte Protokolle;254
10.6;9.6 Fallkonzeption – Vorgehen;256
10.6.1;9.6.1 Rudimentäre Fallkonzeption fu?r Ruedi M.;257
10.6.2;9.6.2 Therapeutisches Beziehungsverhalten;261
10.6.3;9.6.3 Der therapeutische Prozess;261
11;10 Toolkit fu?r Therapeuten;264
11.1;10.1 Hilfen fu?r die Fallkonzeption;264
11.2;10.2 Motivationale Klärung zur Therapiemotivation;267
11.3;10.3 Therapeutische Techniken und Hilfsmittel fu?r die Bewältigung;270
11.4;10.4 Emotionsregulation;273
11.5;10.5 Ressourcenaktivierung;275
11.6;10.6 Bedu?rfnisse des Klienten und therapeutisches Handeln;277
11.7;10.7 Wie lernen wir?;280
12;11 Resu?mee;284
12.1;11.1 Über das Werden und Vergehen;284
12.2;11.2 Trennungen sind soziale Verluste;286
12.3;11.3 Trauer erinnert an den eigenen Tod;289
12.4;11.4 Die Konfrontation mit dem eigenen Tod;290
12.5;11.5 Der Umgang mit dem Tod als kulturelle Errungenschaft;291
12.6;11.6 Überlebensschuld und die Frage nach dem Sinn;294
12.7;11.7 Du?rfen Verstorbene ins Leben eingreifen?;295
12.8;11.8 Trauern bedeutet immer auch leben und leben wollen;296
13;Literaturverzeichnis;298
14;Angaben zum Autor (u?ber mich);308
15;Sachwortverzeichnis;310
1 Einleitung und Übersicht
1.1 Worüber sprechen wir?
Einen nahestehenden Menschen zu verlieren, sei es durch eine endgültige Trennung, den Tod oder durch geistigen und seelischen Zerfall, verursacht durch eine Demenz, kann nicht nur unmittelbar Veränderungen im Erleben bewirken, sondern langfristig das ganze Leben verändern. Für den Umgang mit persönlichen Verlusten brauchen wir den Begriff «Trauer». Wir trauern offensichtlich um viele Dinge, denn der Begriff wird auch beim Verlust von Fähigkeiten oder Eigenschaften verwendet, etwa bei der Einbuße eines Teils unserer Fähigkeiten oder wenn wir durch einen Unfall behindert werden. Manchmal trauern wir auch um verpasste Gelegenheiten oder um Dinge, die uns ans Herz gewachsen sind, wie etwa ein gestohlenes Lieblingsfahrrad oder eine zerbrochene Vase. Aber sind dies wirklich dieselben Prozesse? Und was bedeutet überhaupt «trauern» oder «sich in Trauer befinden»? Genau darum geht es hier: um ein vertieftes Verständnis dessen, was wir allgemein unter Trauer verstehen oder was wir meinen, tun zu müssen, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Vorweggenommen sei, dass in diesem Buch nicht hauptsächlich alltägliche Verluste behandelt werden, sondern soziale Verluste von hoher Relevanz für das eigene Selbstverständnis und für die Art und Weise, wie wir die Welt begreifen. Soziale Verluste können traumatische Folgen haben, unabhängig davon, ob die nicht mehr in meinem Leben existierende Person noch lebt oder gestorben ist. Sie haben ähnliche Auswirkungen, weil es in beiden Fällen darum geht, sich von jemandem zu trennen, der oder die ein Teil des eigenen Lebens geworden ist. Und beide Arten von Trennungen fordern uns zu ihrer Bewältigung trotz unterschiedlicher Aspekte und Konsequenzen viel Energie ab. Es ist ein Thema, das Menschen umtreibt und jede Beziehung birgt auch die Gefahr, verloren zu gehen. Tatsächlich geht es in der Geschichte der Menschheit vielfach um Verluste, sowohl von Personen, die für ganze Völker und Nationen von hoher Bedeutung waren, als auch von Territorien und damit Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber sowie über Abschiedszeremonien in verschiedenen Kulturen und deren Bedeutung wird in diesem Buch jedoch nicht geschrieben. Hingegen wird an geeigneter Stelle durchaus auf die Bedeutung von Zeremonien und Ritualen hingewiesen. Ein weiterer Kernpunkt ist vielmehr die zentrale Frage nach einer übergreifenden Psychologie des Verlusterlebens. Wie wirken sich Verluste auf die Seele aus, wenn wir unter Seele das Zusammenwirken geistiger und körperlicher Prozessen oder, präziser, die sinnstiftende Einheit eines lebenden, informationsverarbeitenden und bewusstseinsfähigen Systems verstehen. 1.2 Die soziale Amputation
Gehen wir davon aus, dass Menschen enge Verbindungen miteinander eingehen und als von anderen abhängige Lebewesen in die Welt gesetzt werden, so bedeuten Trennungen mitunter den Verlust der eigenen Lebensfähigkeit, sofern diese Abhängigkeit voneinander durch einseitige Ressourcenverteilung geprägt ist. Derartige Verhältnisse sind allerdings nicht typisch für das Zusammenleben, im Gegenteil sind menschliche Beziehungen auf Gleichgewicht bedacht, auf ein Geben und Nehmen, das in verschiedenen sozialen Beziehungen deutlich wird. Der Arbeitnehmer bezieht ein Gehalt und gibt dafür Zeit und Leistung, ein Kind bezieht lebensnotwendige Ressourcen und gibt den Eltern dafür Lebensqualität, Sinn und ein erhöhtes Maß an Zusammengehörigkeit, was im hohen Alter unter Umständen auch eine Versicherung bedeuten kann. Dieses soziale Gefüge gerät durch den Verlust eines Angehörigen aus dem Gleichgewicht und muss in einem Anpassungsprozess neu gefunden werden. Dies ist bewusst abstrakt formuliert, weil es darum geht, eine Sprache und damit ein Verständnis für Verluste zu finden, das nicht schon durch Begriffe wie «trauern» scheinbar erklärt ist. Der Verlust einer nahestehenden Person löst nicht nur individuell, sondern auch im weiteren sozialen Umfeld eine Erschütterung aus die einerseits als Bruch und als Wegfall wichtiger Ressourcen wahrgenommen wird. Andererseits ergeben sich durch die Auflösung eines bisher stabilen Kräftegleichgewichts für die verbliebenen Mitglieder des engsten sozialen Netzes, das gemeinhin als Familie bezeichnet wird, neue Möglichkeiten. Vorstellungen über den Begriff «Familie» können sehr unterschiedlich sein, hier sei lediglich festgestellt, dass darunter auch nichtverwandtschaftliche Beziehungen verstanden werden können. Der Begriff der Familie, wie ich ihn verwenden möchte, schließt nahe Freundschaften und Liebesbeziehungen ein, die nicht unbedingt von einer kulturellen Einrichtung sanktioniert wurden. Der Verlust einer Person in einem solchen Beziehungsnetzwerk kann als ein Mobile gedacht werden, in dem verschiedenste Akteure in einem komplizierten Gleichgewicht konzentrisch umeinander kreisen und in dem auf einmal ein zentraler Faden reißt und die verbliebenen Teile aus dem Rhythmus geraten: Nichts funktioniert mehr so, wie es zuvor scheinbar mühelos funktioniert hat. Diese Metapher ist nicht zu weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Tod eines gemeinsamen Kindes eine bislang wunderbar gelingende Beziehung auseinanderbringen kann oder dass sich eine Familie nach dem Tod des bisherigen Familienoberhauptes bis aufs Messer bekriegt. Umgekehrt kann der Verlust eines bisher dominierenden Mitglieds im Einzelnen ungeahnte Energien entfalten und individuelle Entwicklungen ermöglichen, die bislang im Geflecht der sozialen Beziehungen behindert wurden. 1.3 Risikofaktoren für die eigene Gesundheit
Der Tod eines Familienangehörigen gefährdet nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern kann gesundheitliche Auswirkungen auf vitale Organfunktionen haben. So ist beispielsweise das Phänomen, dass langjährig Verheiratete nach dem Tod eines Partners innerhalb von wenigen Wochen ebenfalls sterben, unter dem Begriff «broken heart» (dt.: gebrochenes Herz) in die Literatur eingegangen. Näheres dazu findet sich zum Beispiel bei Stroebe, Schut & Stroebe, 2007. Wie kann das sein? Es gibt verschiedene Erklärungen. So zeigte sich in vielen Untersuchungen, dass das Suizidrisiko vor allem bei Witwern nach dem Tod der langjährigen Partnerin erhöht ist. Auch wenn dieser Umstand berücksichtigt wird, bleibt für Hinterbliebene immer noch ein erheblich höheres Mortalitätsrisiko und das Risiko einer somatischen Erkrankung oder einer psychischen Störung ist deutlich erhöht. Der Verlust eines nahestehenden Menschen löst nicht nur eine soziale Störung aus, sondern bewirkt ein gestörtes inneres Gleichgewicht in dem ausbalancierten System verschiedener Prozesse und ihrer Komponenten, die unser Wohlbefinden regulieren. Dazu gehören unter anderem Hormone und Neurotransmitter, die wichtige organische Prozesse, wie die Regulierung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, die Magen-Darm-Aktivität sowie den allgemeinen Schlaf-Wach-Rhythmus und grundlegende Funktionen des Immunsystems steuern. Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht vollständig, sondern soll nur verdeutlichen, wie stark soziale Wahrnehmungen und sozialer Stress die Befindlichkeit zu beeinflussen vermögen. Nicht immer lösen soziale Verluste Stressreaktionen aus. Es wäre auch vorstellbar, dass eine stressinduzierende Interaktion mit einem Partner wegfällt und ein Rückgang oder Wegfall der Stressfolgen zu erwarten ist. Dass dies nicht immer so ist, zeigt, wie komplex menschliche Beziehungsgeflechte sind und wie kompliziert daher die Reaktionen auf einen Verlust ausfallen können. Soziale Verluste stellen Stressoren dar, die im System Mensch zahlreiche Reaktionen auslösen, welche wir unter dem Begriff «Stressfolgen» subsumieren können. Der Weg einer Fehl- oder Überregulation des emotionalen Empfindens bis zur ernsthaften chronischen Erkrankung verläuft über verschiedene Stufen, wie Hall und Irwin (2001) hergeleitet haben. Je nach Kontext, wie zum Beispiel soziale und ökonomische Ressourcen, oder persönlichen Eigenschaften, wie Geschlecht, Alter oder biologisch-genetische Voraussetzungen, wird ein Verlust mehr oder weniger stark als Stressor empfunden. Dieser wahrgenommene Stress wiederum wird moderiert durch verschiedene als «Coping» bezeichnete Prozesse. Unter Coping versteht man seit Lazarus (1966) Anstrengungen, die ein Individuum unternimmt, um mit bestimmten Situationen klarzukommen. Sie sind nicht immer bewusst gesteuert, sondern beinhalten implizites Wissen über die Welt, das eigene Vermögen und Selbstkonzepte, die in das Handeln eingehen. Coping beinhaltet auch Verhalten und Denkprozesse, die für die Bewältigung eines Problems hinderlich sind, wie etwa selbstquälerisches Grübeln oder Selbstmedikation durch übermäßigen Alkoholkonsum. Coping ist also erst einmal ein wertfreier Begriff und sagt nichts über dessen Wirksamkeit in einer entsprechenden Situation aus. Später hat Lazarus (z.B. 1975) selbst das Gefühlserleben unter dem Aspekt des Copings betrachtet und die wichtige Aussage gemacht, dass Stress, aber auch die entsprechenden Gefühle immer als Wechselwirkung zwischen wahrgenommener Situation und den eigenen Fähigkeiten, mit ihr umzugehen, zu verstehen sind. Das ist wichtig, denn wie wir mit einem Verlust umgehen, bestimmt die psychischen und somatischen Folgen. So kann es zu emotionalen Störungen kommen, die wiederum das Schlafverhalten negativ beeinflussen. Angstwellen und andere als unkontrollierbar wahrgenommene Gefühlszustände können den Schlaf, aber auch die Appetitregulation und weitere gesundheitsrelevante Bereiche beeinträchtigen. Zusätzlich löst wahrgenommener Stress die Freisetzung von Stresshormonen und anderen Botenstoffen aus, die den Körper in ein...