Zipfel / Mühlhäuser / Campbell | Vor aller Augen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Zipfel / Mühlhäuser / Campbell Vor aller Augen

Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86854-459-6
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-86854-459-6
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Essays, Reflexionen und Gesprächen zeigen die Autor*innen dieses Bandes, in welch vielfältigen Konstellationen sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten auftritt. Zusammengestellt im Rahmen der International Research Group 'Sexual Violence in Armed Conflict' führt das Buch in die historischen Dimensionen ein und diskutiert zentrale politische und juristische Fragen der Gegenwart. Es gehört zum Alltagswissen, dass sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten allgegenwärtig ist. Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und wissenschaftlicher Forschung wurde sie jedoch erst in jüngster Zeit. Die Frauen-, Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungen der 1970er Jahre hatten Vergewaltigungen im Krieg und im Frieden öffentlich thematisiert, aber erst mit der Gründung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda in den 1990er Jahren begann man, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Akt des Völkermords zu begreifen. Trotz dieser Entwicklungen mangelt es bis heute an effektiven Gegenstrategien und an einem Verständnis für die Komplexität dieser Form der Gewalt.

Gaby Zipfel (1951-2021) war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und hat gemeinsam mit Regina Mühlhäuser die International Research Group 'Sexual Violence in Armed Conflict' ins Leben gerufen. Von 1992 bis 2012 war sie Redakteurin des Mittelweg 36; von 1998 bis 2021 Mitglied des Editorial Boards von Eurozine. Regina Mühlhäuser ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Sie koordiniert die International Research Group 'Sexual Violence in Armed Conflict'. Zuletzt erschien von ihr in der Hamburger Edition Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941-1945. Kirsten Campbell ist Rechtswissenschaftlerin und Soziologin. Sie lehrt Rechtssoziologie und Gesellschaftstheorie am Goldsmiths College, University of London, und leitet das internationale Forschungsprojekt 'The Gender of Justice' zur Strafverfolgung geschlechtsspezifischer Gewalt während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien.

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Weitere Infos & Material


EINFÜHRUNG
JOANNA BOURKE, KIRSTEN CAMPBELL, REGINA MÜHLHAUSER, FABRICE VIRGILI, GABY ZIPFEL
»Warum tut ihr mir das an?« Frage einer Vietnamesin während
einer Gruppenvergewaltigung durch
US-Soldaten im Vietnamkrieg Es ist hinlänglich bekannt, dass sexuelle Gewalt in Kriegs- wie in Friedenszeiten allgegenwärtig ist. Doch dieses gesellschaftliche Wissen hat bisher nicht dazu beigetragen, diese Form von Gewalt einzuschränken, geschweige denn zu überwinden. Vielmehr scheint das Wissen um die Allgegenwärtigkeit die verbreitete Vorstellung zu befördern, sexuell gewalttätiges Verhalten sei zeitlos und würde biologischen Trieben entspringen. Dieser Vorstellung zufolge kann sexuelle Gewalt, wenn überhaupt, nur eingedämmt, nie aber überwunden oder ausgerottet werden. In Kriegen und bewaffneten Konflikten ist sexuelle Gewalt nicht nur weit verbreitet und omnipräsent, sondern auch vielgestaltig und heterogen. Akte sexueller Gewalt können unterschiedliche Formen annehmen, etwa forciertes Auskleiden, erzwungene Fellatio, sexuelle Folter, vaginale oder anale Vergewaltigung mit Penis, Fingern, Händen oder Gegenständen; erzwungene Schwangerschaft, sexuelle Versklavung und Zwangsprostitution. Sowohl das Ausmaß als auch die Intensität, mit der sexuelle Gewalt ausgeübt wird, können variieren. In manchen Konflikten ist sie ein verbreitetes Phänomen, in anderen scheint sie vergleichsweise selten vorzukommen. Meistens richtet sich diese Form von Gewalt in bewaffneten Konflikten gegen Frauen und Mädchen, aber auch Jungen und Männer können Opfer werden. Darüber hinaus stiften Frauen manchmal zu sexuellen Gewaltakten an, ermutigen die Täter oder begehen selbst solche Taten. Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten passiert vor aller Augen. Sie ist kein Tabuthema, wie häufig unterstellt wird. Wer über sie spricht und was dabei zur Sprache kommt (oder eben verschwiegen wird), gilt es jedoch genau aufzuschlüsseln, um zu verstehen, wie sich dieses öffentliche Reden und seine Auslassungen zu dem verhalten, was wem durch wen tatsächlich geschieht, wenn sexuelle Gewalt ausgeübt wird. Welche Vorstellungen von Tätern und Opfern bestimmen dieses Reden? Und welche Vorannahmen und Implikationen unterliegen solchen Diskursen? Die Versuche, solche Formen der Gewalt im Krieg zu untersuchen und zu verstehen, haben sich mit dem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein seit den 1970er-Jahren grundlegend verändert. Damals wurden die alltäglichen Gewalterfahrungen von Frauen zunehmend in der öffentlichen Debatte wie auch in der Politik sichtbar. Diese veränderte Herangehensweise war vor allem das Ergebnis von Diskussionen und Interventionen von Frauengruppen. Frauen, die Opfer dieser Form von Gewalt geworden waren, wurden ermutigt, über ihre Erfahrungen zu sprechen – in privaten, halb-öffentlichen und öffentlichen Räumen. Durch ihre Schilderungen von Vergewaltigungen in Friedenszeiten wurde deutlich, dass sexuelle Aggressionen keinesfalls eine mehr oder weniger unvermeidliche Begleiterscheinung des Kriegs oder eine (seltene) Überschreitung der akzeptierten Grenzen kriegerischer Gewaltausübung sind. Vielmehr offenbarten die Erzählungen der Frauen, dass sexuelle Gewalt im Frieden wie im Krieg Teil der gelebten Erfahrungen von Frauen und Mädchen ist und darüber hinaus fest zur Logik des Kriegs gehört. Die Frauenbewegung der 1970er-Jahre entwickelte diese Erkenntnis weiter und machte sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen in Kriegs- wie in Friedenszeiten zu einem politischen Thema. Aus feministischen Analysen der Verwobenheit (intersectionality) von Macht, Gewalt, Geschlechterverhältnis und Sexualität ging immer deutlicher hervor, dass sexuelle Gewalt keine Naturkatastrophe, sondern ein soziales Phänomen ist, das durch jeweils spezifische kulturelle, gesellschaftliche und historische Bedingungen strukturiert wird. Damals machten Forschungsarbeiten zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – insbesondere zu Kolonialismus, Sklaverei, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie zur Teilung Indiens, zum Bangladesch- und zum Vietnamkrieg – das Phänomen zunehmend sichtbar. Dabei verstand die Frauenbewegung sexuelle Gewalt in erster Linie als Mechanismus und Instrument patriarchaler Machtausübung und hierarchischer Geschlechterverhältnisse, während afroamerikanische Feministinnen darüber hinaus den Einfluss rassistischer Ideologien und einer rassistischen Politik betonten. Weitere gesellschaftskritische Stimmen lenkten die Aufmerksamkeit auf die ökonomischen Aspekte geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, sexueller Autonomie und Gewaltausübung. Zur selben Zeit rückten die Proteste gegen den Vietnamkrieg wie auch die internationale Friedensbewegung den Fokus auf sexuelle Gewalt als Teil der militärischen Konditionierung von Soldaten im Zuge der Kriegführung gegen feindliche Zivilbevölkerungen. Mit der wachsenden Debatte über die Menschenrechte seit 1989 fand dieses neue Bewusstsein auch Eingang in die internationale Politik und das Völkerrecht. Während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien sowie des Kriegs und Genozids gegen die Tutsi in Ruanda und dessen Nachbarstaaten wurde die Ausübung sexueller Gewalt zentral für das Verständnis dieser Konflikte, und zwar während sie noch wüteten. Nichtregierungsorganisationen (Nongovernmental Organizations; NGOs) begannen Ressourcen bereitzustellen, um Opfer sexueller Gewalt zu unterstützen und ihnen zu helfen, ihre Rechte wahrzunehmen. Sonderberichterstatterinnen der Vereinten Nationen (United Nations; UN) erstellten Berichte zu verschiedenen Kriegsschauplätzen. Seit 1999 hat der UN-Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen verabschiedet, in denen sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten verurteilt und die verbreitete oder systematische Ausübung als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit benannt wird. Mit der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, des permanenten Internationalen Strafgerichtshofs sowie weiterer Ad-hoc- und gemischter Tribunale wurde der Straftatbestand »sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen« erneuert und als Akt des Völkermords (1998) sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit (2001) anerkannt, wobei die Strafverfolgung von den spezifischen Umständen eines Falles abhängt. Diese Entwicklung trug maßgeblich dazu bei, sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten als Gewalt zu verstehen, und führte zu einem angemesseneren Verständnis solcher Handlungen als Verbrechen. Interventionen aus der Frauenbewegung, Veränderungen in der zeitgenössischen Kriegführung und sich verändernde Vorstellungen in der internationalen Politik und Rechtsprechung haben dazu geführt, dass sexuelle Gewalt in Konflikten zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und wissenschaftlicher Diskussionen geworden ist. In den letzten zwanzig Jahren wurden zahlreiche Forschungsarbeiten aus verschiedenen Disziplinen veröffentlicht, die sich mit sexueller Gewalt auf aktuellen wie historischen Kriegsschauplätzen befassen.1 Heutzutage wird weithin anerkannt, dass sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten unterschiedliche Funktionen erfüllt, abhängig von der jeweiligen zeitlichen und räumlichen Situation. So kann sie beispielsweise ein Bestandteil ethnischer oder politischer »Säuberungen« sein, eine Form der kollektiven Bestrafung oder ein »opportunistischer Akt«, der von einzelnen Tätern begangen wird. Neuere empirische Befunde erlauben präzisere Fragen, etwa 1) nach den spezifischen Verhaltensweisen individueller (weiblicher und männlicher) Akteur*innen in kulturell und historisch geprägten Konfliktsituationen, 2) nach der jeweiligen Rolle des Militärs als Institution im Vergleich zu anderen »totalen Institutionen«, 3) nach der Thematisierung der Gewaltakte in der Zivilgesellschaft (Medien, Erinnerungspolitiken, Opfer- / Täterzuschreibungen) sowie 4) in der nationalen wie internationalen Rechtsprechung. Der wachsende Fundus an Arbeiten zu diesen und anderen Fragen weist auf ein breites Spektrum an Motiven, militärischen Logiken und situativen Dynamiken hin, die die Häufigkeit, die Praktiken und die Konstellationen sexueller Gewalt zu beeinflussen scheinen. Doch trotz des wachsenden öffentlichen Bewusstseins und der zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Thema in der Wissenschaft besteht bis heute keine Einigkeit über die Regelhaftigkeit dieser Form von Gewalt in kriegerischen Konflikten, ihre Verbreitung und ihre unterschiedlichen Formen. Inwiefern Zusammenhänge zwischen sexueller Gewalt in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegssituationen bestehen und, wenn ja, wie diese aussehen, ist umstritten. Auch über die Frage, ob die kulturellen und gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen Akte sexueller Gewalt begünstigen (und wenn ja, welche), wird debattiert. In jüngster Zeit konzentriert sich die Forschung in Australien, den USA und Westeuropa tendenziell auf Afrika, was sexuelle Gewalt in anderen Regionen und besonders in der westlichen Welt verschleiert. Aktuelle Diskussionen über »sexuelle Gewalt als...



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