Zipfel | Eine Handvoll Rosinen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Zipfel Eine Handvoll Rosinen

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-218-01011-5
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-218-01011-5
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ludwig Blum ist ein rechtschaffener Mann. Er glaubt an die Gesetze. An den Staat. An die Gerechtigkeit. Als Fremdenpolizist in Traiskirchen, dem größten Flüchtlingslager Österreichs, leistet er Hilfe, wo er kann, und unterlässt sie, wo ihm die Hände gebunden sind. Bis es um die Abschiebung von Aram Khalil geht und im Zuge einer Betreuungskrise Hunderte Flüchtlinge auf der Straße schlafen müssen. Da beginnt Ludwig Blum an den Gesetzen zu zweifeln und daran, ob die Welt eine gerechte ist. In diesem Moment begegnet er dem afghanischen Schlepper Nejat Salarzai, der ihm auf brutale Weise eine andere Art der Ordnung vor Augen führt.
Daniel Zipfel ist seit vielen Jahren Asylrechtsberater. Dementsprechend realistisch zeichnet er in seinem beeindruckenden Romandebüt das bizarre Bild einer untragbaren und hochaktuellen Situation, die alle Beteiligten an ihre Grenzen führt. Fernab jeglichen Klischees zeigt er ambivalente Figuren, die ein klares Urteil unmöglich machen.

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3.
„Zu unserem Hochzeitstag alles Gute.“ Blum trank einen Schluck Malzkaffee, betrachtete den Satz auf dem Notizzettel, zögerte. Schließlich setzte er den Kugelschreiber an und strich ihn durch, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb zu den anderen Sätzen. Die Karte mit den silberfarbenen Blumen war noch in Zellophan verpackt. „Und alles wegen einem einzigen Asylanten.“ Die Schreibkraft stand noch immer in Blums Büro, kopfschüttelnd, die wenigen Akten, die sie von ihm bekommen hatte, an die Brust gepresst. „Das ist ja nur meine Meinung, Herr Amtsdirektor, aber da wird Ihnen ganz übel mitgespielt.“ Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: „Sie kann Ihnen doch nicht alles wegnehmen, nur weil ein Asylant sich bei einer Abschiebung mal schnell die Finger aufschneidet.“ Blum schob den Teller mit seinem Brot an den Rand des Schreibtischs. Pumpernickel, drei Scheiben Wurst auf einem dünnen Butterbelag, sorgfältig in Streifen geschnitten. Die meisten waren übriggeblieben. „Verfahrenspartei“, murmelte er, ohne die Schreibkraft anzusehen, „eine Verfahrenspartei konnte sich während einer Amtshandlung eine schwere Verletzung zufügen.“ Er riss einen neuen Notizzettel vom Block, strich über die winzigen Risse im Glas seiner Armbanduhr, setzte den Kugelschreiber erneut an. „Außerdem hat sie mir ja nur ein paar Akten weggenommen.“ Aus den Augenwinkeln sah er die Schreibkraft noch immer den Kopf schütteln. „Alles wegen einem einzigen Asylanten, das kann sie doch nicht machen.“ „Und das alles wegen einem einzigen Afghanen?“ Hannah blickte zu ihm auf, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen, und blies den Rauch ihrer Zigarette aus. „Ja. Nein. Die Selbstverletzung war ja nicht der Grund“, sagte Blum. „Und ich habe ja noch Akten.“ Er starrte auf den leeren Spielplatz, auf die Bäume dahinter, die schon fast alle Blätter verloren hatten. Sie standen auf dem Bodengitter vor dem Haus 5, wo der Wind nicht so stark war. Das Laub bedeckte den steinernen Blumenkasten neben dem Eingang, den Asphaltstreifen, der zum Hauptweg führte. Ahorn- und Buchenblätter, vereinzelt auch Kastanie, gelb und rot. Die kalte Luft verdünnte Hannahs Parfum. „Heute hat mich wieder einer angeredet“, meinte sie und strich sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht. „In der türkischen Bäckerei am Bahnhof. Was ich eigentlich mit dem Lager zu tun habe, ob ich hier arbeite. Dann hat der Bäcker sich noch eingemischt, dass sogar die Semmeln aus Deutschland angeliefert werden, dass man die heimischen Betriebe vergessen hat. Das Lager bringt den Traiskirchnern nur Obdachlose, hat er gemeint, und er freut sich auf die Polizeischule, die der Herr Bürgermeister versprochen hat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe gesagt, dass ich nichts zu tun habe mit dem Lager, dass ich nur Dolmetscherin bin.“ Blum betrachtete die Remuneranten vom Reinigungsdienst, die in gelben Westen und weißen Gummistiefeln über den Rasen liefen. Ständig riss der Wind ordnungswidrig verstaute Kleidungsstücke und Schuhe von den Fensterbänken, verteilte sie auf dem ganzen Gelände. „Der Bäcker hat auch gesagt, dass in der Nacht wieder wer am Bahnhof geschrien hat“, fuhr Hannah fort, „und heute Morgen ist das Klo dort voller Blut gewesen. Das sind die Obdachlosen, Ludwig, die machen den Leuten Angst. Ich will auch nicht mehr am Bahnhof parken.“ „Die Leute sollen sich beruhigen“, entgegnete Blum. „Sollen der Behörde vertrauen.“ Er vergrub die Hände in den Taschen. „Wir machen schon unsere Arbeit.“ Der Wind bauschte die Plastiksäcke der Remuneranten, hob sie vom Boden auf. „Ist nicht schon Sturmzeit?“, fragte Hannah. „Schon vorüber“, meinte Blum. „Anfang September bis Ende Oktober.“ „Schade“, lächelte sie und drückte den Zigarettenstummel mit den Fußspitzen durch das Gitter. „Ich dachte, wir würden ein Glas trinken gehen.“ „Jungwein gibt es jetzt“, meinte Blum, blickte auf die Haarsträhne, die ihr wieder nach vorne gefallen war. „Wir könnten einen Jungwein trinken. Inschallah.“ Hannah brach in lautes Lachen aus. Die Remuneranten hoben die Köpfe und blickten zu ihnen herüber. „Ja“, sagte sie, „inschallah.“ Kurz danach musste Blums Armbanduhr stehen geblieben sein, aber es fiel ihm erst am Abend auf, als er das Lager verließ. Er drehte am goldenen Rädchen der Uhr, während er die Otto Glöckel-Straße hinaufging, vorbei an den Notunterkünften hinter der evangelischen Kirche, vor denen sich wieder eine Schlange gebildet hatte, obdachlose Flüchtlinge, die im Lager nicht mehr untergekommen waren. Sobald Blum das Rädchen losließ, standen die Zeiger still. Vielleicht war es nur die Batterie. Er stolperte fast über eine verhüllte Gestalt, die neben dem Wartehäuschen vor der Schule kauerte. Der Uhrmacher in der Wiesergasse könnte noch geöffnet haben. Blum eilte an dem Kriegerdenkmal und der türkischen Bäckerei vorbei über die Bahngleise. Über seinem Kopf gingen flackernd Straßenlaternen an, leuchteten gelb dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Sie standen schon auf dem Bahnhof, was hieß, dass die Diakonie voll war, ebenso Kampls Notschlafstelle in der Kirchengasse. Menschen in weiten Jacken, die Hauben tief in die Stirn gezogen, dazwischen Kinder auf großen Reisetaschen. Schweigend warteten sie auf die Badner Bahn nach Wien, mehrere Dutzend, wie jeden Abend, weil es in Wien vielleicht noch Schlafplätze gab. Blums Atem bildete Wolken. Die Luft schmeckte nach Rauch und feuchtem Laub, nach einer kalten Nacht. Wenn die Leute auf dem Bahnsteig Glück hatten, würde der Wind ausbleiben. Einen Moment lang, in einer der Seitengassen, wo die Farbe von den alten Holztüren abblätterte, hatte Blum das Gefühl, es würde ihm jemand folgen, aber als er sich umdrehte, war die Straße leer. Im selben Augenblick kam der Anruf des Heurigenwirts hinter dem Hauptplatz. Er rief persönlich an, nicht seine Frau, was hieß, dass es ihm ernst war, wenn er mit der Polizei drohte. „Ich kann ihn nicht abholen“, sagte Blum in sein Telefon. „Ich muss zum Uhrmacher.“ „Ich kann auch anders, Ludwig, ganz anders! In einer Viertelstunde trägt ihn die Polizei raus, das verspreche ich dir.“ Noch bevor Blum etwas erwidern konnte, hatte der Wirt aufgelegt. Fluchend steckte er das Telefon wieder ein, bog bei der Weinpresse ab und eilte in Richtung Hauptplatz. In den Fenstern der niedrigen Winzerhäuser kündigten vergilbte Plakate den Jungwein an, Aufkleber von Sicherheitsfirmen an den Scheiben. Ein Weinfass mit einer schwarzen Katze hieß Besucher in Traiskirchen willkommen. In der Trauerweide über dem kleinen Kanal hockten Krähen, blickten auf Blum herab. Er beschleunigte seine Schritte, lief vorbei am Rathaus, der Pestsäule und dem Kirchturm mit der Sonnenuhr. Hier bewegten sich die Schilder der Heurigenwirte im Wind, pendelten Laternen und Kränze aus Weinlaub an gusseisernen Stangen über dem Gehsteig. Kurz vor dem Holztor hörte er wieder Schritte hinter sich, jemand rempelte ihn von hinten an, zischte im Vorübergehen „Asylantenfreund“ und eilte weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Blum öffnete konsterniert den Mund, wollte etwas erwidern, ließ es dann aber bleiben. Im Heurigen schlug ihm ein warmer Geruch nach Traubenmost und Bratenfett entgegen. Der Semperit-Stammtisch war vollbesetzt, die Gesichter über die Gläser gesenkt. Vor Kurzem hatte es wieder Entlassungen gegeben. Einer der älteren hob die Hand, winkte Blum, das tätowierte Firmenlogo auf dem Unterarm. „Er ist wegen dem Kampl da“, hörte Blum die Stimme der Wirtin, woraufhin sich der Arm wieder senkte. Über das Tablett mit den Weingläsern hinweg fügte sie hinzu: „Höchste Zeit, dass du ihn abholst, Ludwig! Das nächste Mal bekommt er Hausverbot!“ Sie wies mit dem Kopf in Richtung Hinterzimmer. „Dort sitzt er, im Eck. Beruhigt hat er sich ja wieder, zu seinem Glück, aber die kaputten Gläser kriegt er diesmal verrechnet. Und das nächste Mal fliegt er gleich raus, wenn er die anderen Gäste belästigt.“ Das Hinterzimmer war leer, nur in einer Ecke saß zusammengesunken eine massige Gestalt im Wollpullover, den Kopf über dem Henkelglas. Ein kleines hölzernes Kreuz baumelte hinter dem Bart hervor. Die Bierdeckel waren über die Tischplatte verstreut, der Salzstreuer lag zwischen Glasscherben auf dem Boden. Blum blieb vor dem Tisch stehen, die Hände in den Taschen, und blickte eine Weile auf die breiten Schultern hinab, auf die spärlichen grauen Haare. Jakob Kampl schien ihn nicht zu bemerken. Blum räusperte sich. „Doktor Livingstone, nehme ich an?“ Kampl antwortete nicht, führte das Glas an die Lippen, um es gleich wieder abzusetzen. Die breiten Schultern zuckten. „Wir gehen jetzt, Jakob“, sagte Blum, „wir gehen jetzt beide.“ Als Kampl nicht reagierte, zog er einen Stuhl heran, hängte seinen Mantel über die Lehne, setzte sich, sammelte die Bierdeckel zusammen und hob den Salzstreuer auf. „Sie haben mir nur noch einen Spritzer gegeben, Ludwig“, sagte Kampl zur Tischplatte. Blum klopfte die Bierdeckel zu einem Stapel zurecht, steckte sie zurück in die Halterung. Den Salzstreuer stellte er neben den Aschenbecher, rückte beides gerade. „Das ist das dritte Mal diese Woche“, meinte Blum, „Das nächste Mal hole ich dich nicht ab. Hast du Geld? Das Kreuz hängt dir ins Glas.“ Schweigend steckte Kampl das Holzkreuz in den Kragen seines Pullovers. Aus dem Schankraum drang die Stimme des Wirts herüber, wieder ging es um die Obdachlosen. Er habe wieder...


Daniel Zipfel, geboren 1983 in Freiburg im Breisgau, lebt und arbeitet in Wien als Autor und Jurist in der Asylrechtsberatung. Zahlreiche Stipendien und Preise: u.a. Longlist des MDR-Literaturwettbewerbs 2014, Start-Stipendium des BMUKK 2013. Seine Erzählungen sind in österreichischen Literaturzeitschriften erschienen. "Eine Handvoll Rosinen" ist sein erster Roman.



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