E-Book, Deutsch, Band 2, 272 Seiten
Reihe: Penelop
Zinck Penelop und die zauberblaue Nacht: Kinderbuch ab 10 Jahre – Fantasy-Buch für Mädchen und Jungen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-0395-3
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 272 Seiten
Reihe: Penelop
ISBN: 978-3-7336-0395-3
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Valija Zinck wurde 1976 geboren, studierte zeitgenössischen Tanz und Improvisation und arbeitete zunächst als Choreographin und Lehrerin für kreativen Kinder- und Jugendtanz. Als sie selbst Kinder bekam, entdeckte sie das Schreiben fantastischer Abenteuerbücher für sich. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern und leider ganz ohne Tiere lebt sie in Berlin.
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4 Düstere Erinnerungen
»Der Tag, an dem ich die Aschenpaste kreiert habe, war der schlimmste meines Lebens«, begann der Vater. »Ich hatte die Paste, wie ihr ja wisst, nicht zum Spaß zusammengerührt, sondern um mich für Leute unserer Art unspürbar zu machen. Weil ich abgrundtiefe Angst hatte. Angst zu sterben. So wie Alpha Regius an diesem Tag gestorben ist.«
Herr Gowinder sah auf seine großen Hände, die ineinander verschlungen auf dem Tisch lagen.
»Alpha Regius?«, fragte Penelop. »Der, der unser Buch mit dem schimmernden Einband geschrieben hat?«
Leopold nickte.
»Genau der. Ich habe an diesem Tag den Menschen verloren, den ich nach dir, Lucia, am meisten verehrt, ja geliebt, habe. Du warst ja noch nicht auf der Welt, Penelop. Alpha Regius war nicht nur einer der inspirierendsten Männer unsrer Art und unser aller großes Vorbild, sondern er war auch mein Lehrer und Mentor. Und ich vermisse ihn immer noch schmerzlich. Oder vielleicht vermisse ich ihn jetzt schmerzlicher denn je.«
Der Vater hielt inne.
Die gelbe Uhr gab beharrlich ihr leises von sich, und Penelop kam es plötzlich so vor, als würde die Zeit verrinnen und knapp werden. Knapp wofür? Das konnte sie nicht sagen, es war nur so eine Ahnung, ein kaum fassbares Gefühl.
»Und weiter?«, fragte die Mutter nach einer Weile vorsichtig.
»Was? Ach ja …« Der Vater sah die Mutter jetzt direkt an.
»Damals habe ich zu dir gesagt: ›Ich verschleiere mich, ich werde unsichtbar für meinesgleichen. Wir werden umziehen und an einem neuen Ort ein normales Leben führen.‹ Und das ging ja auch gut. Wir waren jung, wir waren verliebt, und ich war abgelenkt und musste mich dem Schmerz um Alpha Regius nicht stellen. Und als Penelop dann geboren wurde, war unser Leben sowieso so erfüllt.«
Penelop wurde es kribblig warm im Bauch. Es war einfach immer wieder so schön, das mit dem »Erfülltsein« zu hören.
»In den langen Jahren meiner Gefangenschaft habe ich nur an euch gedacht. Immer nur an euch. Aber jetzt, da ich wieder frei bin und mich nach all der Zeit niemand mehr verfolgt, jetzt kommt alles, was damals geschehen ist, wieder hoch.«
»Das verstehe ich nicht.« Penelop zog die Stirn kraus. »Wieso ›nach all dieser Zeit niemand mehr verfolgt‹? Du hast doch Fellseifer und Platell außer Gefecht gesetzt.«
»Ich habe mich damals vor einer ganzen Gruppe von Leuten versteckt. Fellseifer und Platell gehörten zwar auch mal dazu, aber sie sind irgendwann wieder ausgestiegen und haben ihre eigenen Ziele verfolgt. Jedenfalls gehörten sie nicht zu denen, die Alpha Regius auf dem Gewissen haben.«
»Auf dem Gewissen? Du meinst …« Die Mutter hielt sich die Hand vor den Mund, und der Vater sprach mit brüchiger Stimme weiter.
»Ja. Ich habe damals gesehen, wie Alpha Regius getötet wurde. Auf dem Gang, vor der Tür von Frau Winkel.«
»Wer ist denn jetzt wieder Frau Winkel?«, fragte Penelop.
»Frau Winkel war Alpha Regius’ Gehilfin, Assistentin, Sekretärin oder so, vielleicht auch seine Lebensgefährtin. Ich weiß es nicht genau. Ich habe sie nur zweimal gesehen.
Alpha Regius hatte mich zu ihrem Arbeitszimmer bestellt. Frau Winkel sollte mir meine Arbeit, die ich über Gegenkräfte geschrieben hatte, zurückgeben. Alpha Regius hatte diese Arbeit nach Unklarheiten durchgesehen und bei ihr hinterlegt.
Ich war an diesem Tag viel zu früh dran und stieg deshalb sehr langsam die gewundene Treppe nach oben. Wäre ich doch schneller gegangen! Wäre ich doch …«
Der Vater verstummte. Nach einer Weile rüttelte Penelop ihn behutsam am Unterarm, denn er schien völlig vergessen zu haben, dass er gerade etwas erzählte.
»Was? Ach so, ja, das Arbeitszimmer von Frau Winkel lag ganz am Ende eines weiten, langen Ganges. Ich öffnete die bronzene Schwingtür, die das Treppenhaus von diesem Gang trennt, und da standen sechs Gestalten weit hinten, direkt vor Frau Winkels Tür. Unseresgleichen. Natürlich, alle in diesem Gebäude waren unseresgleichen. Einer der sechs war Alpha Regius. Die anderen habe ich nicht erkannt, denn sie standen mit dem Rücken zu mir. Nur Alpha Regius, der stand so, dass ich sein Gesicht sehen konnte, und das war kalkweiß.
Dann ging alles unglaublich schnell. Er rief ›Verschwinde!‹ – ich glaubte, er meinte mich. Er hob beide Hände, so als ob er sich ergäbe. Aber vielleicht wollte er auch seine Gegenüber verschwinden lassen, ich weiß es nicht. Auch die anderen hatten plötzlich die Hände nach oben gerissen, merkwürdig gekrümmt.
»Es wird weitergehen«, hallte Alpha Regius’ Stimme durch den Gang. »Ich bleibe ich.« Und er sackte zusammen und fiel dumpf zu Boden. Ich war wie erstarrt. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war.
»Tja, good bye, old Alpha, wird wohl nichts mit ›ich bleibe ich‹«, stieß einer verächtlich hervor und tastete nach Alpha Regius’ Puls. »Du wirst jetzt nur noch Erde.«
Ein anderer aber brüllte: »Hey, da hinten ist jemand! Schnappt ihn euch!«
Ich bin sofort ins Treppenhaus, dann nach unten und hinaus ins Freie gerannt. In den verblichenen Gräsern vor dem Gebäude habe ich mich notdürftig verwurzelt und bin nach oben gezischt. Ehe einer von diesen Leuten aus dem Gebäude herausgekommen war, war ich in den Wolken verschwunden. Ich wusste nicht, ob sie mich erkannt hatten.«
Penelop stand auf. Sie musste sich bewegen, musste die Beklemmung aus ihren Gliedern schütteln. Cucuu strich um ihre Beine. Penelop bückte sich, nahm die Katze auf den Arm und drückte ihr Gesicht in das stumpfe Fell. Der Vater sah zu ihnen. Aber Penelop kam es so vor, als blicke er durch sie hindurch und würde dort, weit weg, nur sich selbst sehen, wie er fortflog …
»Ich flog sofort nach Hause. Und das war der Abend, Lucia, als ich so verstört zu dir kam und gleich hoch in unser Zimmer rannte, um meine Bücher zu Rate zu ziehen. Ich habe Kräutertinkturen gemischt und zu experimentieren begonnen. Alles, was ich zustande brachte, war hochexplosiv. Zu gefährlich, um sich damit unsere Wahrnehmbarkeit aus den Haaren zu ziehen. Aber irgendwann habe ich das mit der Asche rausgefunden: Ich hatte die Paste erschaffen, die uns für unseresgleichen unspürbar macht. Sie erzeugte graue oder weiße Haare, und leider dämpfte sie auch meine Kraft extrem. Aber das war ein geringes Opfer für Sicherheit, dachte ich mir. Und dann sind wir hierher, in unser geliebtes Holzhaus umgezogen. Und ich habe versucht, meine Leute, meine Welt zu vergessen. Ich habe versucht, ohne sie zu leben, ja, ohne sie glücklich zu sein.«
Der Blick des Vaters verweilte immer noch auf Penelop und Cucuu. Doch nun nahm er sie wieder wahr, sah sie unverwandt an.
»Ich höre Alpha Regius’ Stimme in mir wispern und werde traurig. Es ist, als hätten meine Erinnerungen in tiefgefrorener Erde gelegen, sie sind richtig frisch. Sie kreisen mich ein. Ich frage mich, ob ich Alpha Regius nicht hätte helfen können, ihn retten, wenn ich damals auf dem langen Gang sofort zu ihm geeilt wäre. Diese Frage lastet auf meinem Herzen wie ein Stein.«
»Warum?«, fragte Penelop.
»Warum«, wiederholte der Vater leicht befremdet.
»Warum haben die Alpha Regius getötet, meine ich.«
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht weil er ein sehr Mächtiger unserer Art war. Er hat uns beigebracht, quer und durchdringend zu denken. Nicht nur die üblichen vorgefertigten Gedanken. Er war der beste Lehrer, den wir je hatten.«
Penelop ließ Cucuu wieder hinunter auf die Dielen. Sie bekam plötzlich eine unglaubliche Sehnsucht, auch so einen Lehrer oder eine Lehrerin zu haben. Und auch danach, sich mehr in der Welt ihrer Art zu bewegen. Selbst wenn es da vielleicht gefährlich war. Sie wollte sich dort auskennen, sie wollte, wie ihr Vater soeben, auch mal und sagen können. Und da Leopold bisher kaum von seinem früheren Leben erzählt hatte, sog Penelop nun all seine Wörter auf, als wären sie Regen und sie selbst ein viel zu trockenes Beet.
»Alpha Regius hat sich für Gleichberechtigung eingesetzt«, begann Herr Gowinder nun wieder. »Schon als sehr junger Mann hat er dafür gesorgt, dass auch Mädchen magisches Training erhielten. Bis vor noch gar nicht so langer Zeit war das nämlich reine Männer- und Jungensache gewesen. Aber Alpha Regius hat diese verkrusteten Strukturen mehr und mehr aufgeweicht.«
»Hört sich vernünftig an«, murmelte die Mutter. »Und er war ein Mann. Das ist besonders. Viele Menschen setzen sich ja für Dinge ein, die sie selbst betreffen.«
»Ja, er war sehr besonders«, fuhr der Vater fort. »Es gab jedoch diese Gruppe von Leuten, die sich nannte. Die wollten zurück zu mehr Tradition. Sie verlangten eine einheitliche Ausbildung, in der funktionales Zaubern und absoluter Gehorsam das Wichtigste sein sollten. Sie wurden mehr. Und sie wurden immer gewaltbereiter. Eines Tages wollten sie tatsächlich mich anheuern, Alpha Regius zu bespitzeln. Sie vermuteten, dass hinter seiner außerordentlichen Kraft ein dunkles Geheimnis läge. Dieser Job würde mir eine hohe Position mit viel Geld einbringen. Ich habe natürlich abgelehnt und Alpha Regius davon erzählt. Er hat darüber nur gelacht und gemeint: ›Lass sie nur, Leopold.‹«
»Und diese Leute waren dann die, die ihn …?«, fragte die Mutter.
»Die Menschen auf dem Gang haben jedenfalls diese Kleidung getragen: Dunkle seidige Jacken mit einem goldenen Kondor auf dem Rücken. Mittlerweile haben sie sich in alle Winde verstreut. Keiner von ihnen ist mehr...