Zimmermann Umbrüche
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7296-2038-4
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Aus meinem Leben
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2038-4
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Immer wieder schaute ich die Bilder des Gartens an, den das Dichter- Paar* während vieler Jahre zu einem Paradies gestaltet hatte. Dabei kamen mir meine Gärten in den Sinn. In der Schweiz, in Asien, Amerika. Keiner hatte mir je gehört, aber sie gehörten zu mir, und ich hatte sie alle geliebt.Die Lust, sie zu beschreiben, war da. Moment-Aufnahmen aus den ewig- grünen Tropengärten und von den hiesigen Gärten, die in den Jahreszeiten mit immer neuen Farben spielen. Wie Aquarelle sollten sie wirken, hin- geworfen mit leichter Feder.Doch so leicht ging es nicht. Ich sperrte mich selber ein, weilte zu lange bei Pflanzen und Blumen.– Du bist Erzählerin, sagte der Lektor. Geh aus den Gärten hinaus und erzähle.
Der Ratschlag war gut. Schon bald fielen mir Erinnerungen von ausserhalb der Gartenumrandung zu. Menschen, die mir nahe standen. In meiner Kindheit, Mutter, Vater, die Geschwister.Freunde, die mir in der Jugend wichtig waren und noch immer sind. Das Leben zu zweit mit Christoph. Die Kinder, die Pflegekinder, die Anvertrauten. Die gemeinsamen Freuden, die Ängste, die Kehrtwendungen.Die neuen Aufgaben in Asien und in der Schweiz. Und der Schutz in mancherlei Gefahren.Die Textseiten bevölkerten sich, es wurden mehr und mehr, und nun liegt plötzlich so etwas wie ein Lebenslauf vor. – Mach es dicks Buech, hatte mir Hugo Ramseyer gesagt, als er mir das dünne Garten-Manuskript zurückgab.Ich bin ihm dankbar. Dankbar bin ich auch Bettina Kaelin Ramseyer, der Co-Leiterin, und dem ganzen Zytglogge-Verlag, der seit dreissig Jahren alle meine Bücher verlegt hat, elf an der Zahl, und sie jetzt mit «Umbrüche» zum vollen Dutzend abrundet. K. Zi.«Schmerz und Wehmut haben ihren Platz darin. Aber zugleich tauchen ein ungewöhnlicher Reichtum und eine besondere Fähigkeit des Erlebens, manchmal auch eine abenteuerliche Folge von Schrecken, Strapazen und Gefährdung aus dem Gedächtnis empor. Es ist das Zeugnis eines erfüllten Lebens.»Charles Cornu (zu «Und singe dir ein Lied»)* Fotoband «Das verborgene Haus – Zeit und Augenblick» von Alois Lang mit Texten von Erika Burkhart und Ernst Halter. Ammann Verlag 2008.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
San Francisco, 2003 Erwartungsvoll versuche ich den Rollladen hochzuziehen. Völlig andere Technik hier. Nach der langen Reise und der kurzen Nacht möchte ich endlich das Gärtchen sehen. Gestern war es schon finster und die Rollläden unten, als ich ins Zimmer kam. Ich sehe blauen Himmel, weisse Häuser mit Flachdach, schaue hinunter vom ersten Stock und – von diesem Garten habe ich geträumt, aber die Wirklichkeit übertrifft den Traum. Diese Farben! Gelb, rosa, orange, rot, ein poppiges Gemisch von Blüten auf einem Gewirr von Stängeln, umtanzt von hellbraunen Schmetterlingen und, kaum grösser als sie, ja, es sind Kolibris, grün schillernde Vögelchen, die wie zierliche Pfeile durch den Garten fliegen. Ich kann mich kaum lösen vom nie vorher gesehenen Bild. Hinter mir liegt ein Umzug vom Aussenquartier in die Berner Altstadt, liegt die lange, schwere Krankheit von Christoph, liegt sein Tod. Ich blieb nur noch halb am Leben und floh. Viele Flugstunden nordwärts über Grönland, dann nach Westen, nicht nach Osten wie früher. Floh quer über ganz Kanada zum Pazifik, dann der Küste entlang nach Süden. Abends stach das Flugzeug auf die Halbinsel hinunter und landete in San Francisco. Am Flugplatz umarmte ich meine jüngste Tochter, die einjährige Enkelin und den Schwiegersohn. Während der Fahrt auf der Uferstrasse verstummte ich vor der Unendlichkeit des Wassers, das golden vor der untergehenden Sonne lag. Im kleinen Breakfast-Room neben der Küche haben wir gegessen und geplaudert bis tief in die Nacht. Das Baby war längst am Schlafen. Heute darf ich es hüten und vielleicht auch im Gärtchen etwas tun. – Ja gern, sagt Eva, die orangegelben Blumen müssen weg. Was vom ersten Stock aus zauberhaft wirkte, sieht unten, beim näheren Betrachten, etwas anders aus. Die Blumen – nicht Kapuzinerli, wie ich vermutet hatte – liegen auf einer Masse halb vertrockneter Stängel, auf einem verworrenen Unterholz, das die Rosen, die Kamelien, das Zitronenbäumchen erstickt. Es ist heiss hinter dem schützenden Lattenzaun. Auf der Strasse, die zum Pazifik hinunterführt, sei das Klima anders, vom Ozean wehe immer ein Wind, und an der Küste sei es beinah kalt. Den Blütenteppich zerstören mag ich noch nicht. Ich halte mich an den Efeu, der viel zu üppig an der Lattenwand wächst und sich mit kräftigen Trieben in das Gärtchen krallt. Seine Lebenskraft kenne ich von Europa her, ihn zu stutzen, reut mich nicht. – You walk? Entsetzt bleibt die Nachbarin vor ihrer Garage stehen, während ich die Kleine in den Kinderwagen setze. Ohne Auto mit einem Kind hier einkaufen gehen, kann sich nur eine Schweizer Grossmutter leisten. Sie hat Zeit. So steil hinauf wie an der hiesigen Avenue hat sie in Bern nie einen Kinderwagen gestossen. Bei jeder abfallenden Querstrasse sieht sie links unten die blaue Wand, und der Atem stockt ihr beinah, höher als die Häuser an der Küste ragt sie in den Himmel. Dunkelblau am Morgen, hell am Mittag, hell und heller, und abends, wenn das Gold aus dem Himmel darüber fliesst, blendet die Wand so sehr, dass die Autofahrer erblinden. Oben, beim grossen Schulhaus, steht die Lehrerschaft auf der Strasse, ereifert sich vor laufender TV-Kamera gegen Kürzungen im Bildungsprogramm. Auch hier? Ich hebe das Kind aus dem Wagen und betrachte das Bild, das sich mir rechts unten bietet. Die Bucht, verzweigt wie ein Vierwaldstättersee zwischen Hügeln, dahinter die Ketten kalifornischer Berge, vorne, ganz nah, die Golden Gate Bridge. Hat man sie auf dem Einkaufsweg täglich vor Augen, fällt der Glamour des Weltstars etwas von ihr ab, und sie wird zu dem, was sie ist: ein zierliches Meisterwerk, harmonisch in die Landschaft gehängt. Derweil zieht das Kind winzige Blümchen zwischen den Zementquadern des Trottoirs aus, legt dann den Kopf nach hinten und betrachtet die Vogelschwärme, die sich auf den wirr durcheinander hängenden Stromleitungen versammeln. Lang ists her, seit ich ein so lautstarkes Vogelgezwitscher vernommen habe. War es in den Urwäldern von Kalimantan? Über Smog haben die Leute hier nicht zu klagen, so nah am Pazifik und umgeben von grünen Lungen; über Nebel schon, der kann tagelang aufliegen, aber an ihm ersticken die Vögel nicht. Die Hochhäuser von Downtown stehen weit weg, hier wohnt der Mittelstand, Angestellte mit höchstens zwei Wochen Ferien im Jahr. Eine Reise in die Schweiz kann sich keiner leisten, aber daheim hat man es gern schön. Vor den kleinen Häusern blühen Tulpen, Rosen, Dahlien, reifen Äpfel und Zitronen, alles zur gleichen Zeit. Pflanzen aus Nord und Süd, aus Ost und West, einige halten sich an Jahreszeiten, andere nicht. Sie sind Individualisten wie die Menschen, die von allen Erdteilen hierher kamen und durcheinander gemischt jeden nach seiner Eigenart leben lassen. So wenigstens empfinde ich es und fühle mich wohl bei den freundlichen Grüssen, die alle dem Baby gelten. Ich nehme es auf den Arm, wir schauen dem Turnunterricht neben dem Schulhaus zu. Kopftücher sind hier kein Thema, es turnen etliche mit. Ob Kippa am Hinterkopf oder Kreuzchen am Hals, noch tragen die Kinder Symbole, die ihren Eltern wichtig sind. Niemand regt sich darüber auf. Die Kleine wird wieder festgebunden im Wagen, Strasse und Trottoir fallen steil ab. Im Supermarkt gleiten die Finger der Kassiererin rasch über die Tasten, während sie mit dem Baby schäkert, der flinke Einpacker schenkt ihm ein Bildchen, und ich stosse den Kinderwagen mit vollen Taschen wieder hinauf zum Schulhaus auf dem Kamm, jetzt mit Sicht nach Süden, auf die Hügel von Los Altos, den Schutzwall vor dem Ozean. Dich möchte ich neben mir haben bei diesem Blick in die Weite. Mit dir möchte ich erleben, wie freundlich die Menschen hier sind, so anders, als wir uns die Amerikaner vorgestellt hatten. Könnten wir nur darüber sprechen, aber mein liebster Gesprächspartner in all den vergangenen Jahren ist nicht mehr da. Das Kind schaut fragend zu mir auf, ich nehme es in die Arme und küsse es. Auch dich hätte er gern noch aufwachsen sehen, hätte Freude an dir gehabt wie an den andern Grosskindern, den etwas älteren in der Schweiz. Nach dem Mittag, wenn das Baby schläft, liegt das Gärtchen im Schatten des Hauses. Zeit für mich, hinunterzugehen, den Balken von der hintern Garagentür wegzuschieben und in das Rechteck hinauszutreten, dessen Gestaltung die Vermieterin im zweiten Stock meiner Tochter, seis aus Grosszügigkeit oder aus Bequemlichkeit, völlig überlässt. Hier darf ich wirken, wies mir gefällt. Niemand sagt, mach nicht zu viel, ruh dich lieber ein wenig aus. Ich entscheide selber und bin trotzdem nicht allein. Touristenattraktionen brauche ich keine, es ist der Alltag der jungen Familie, der mich interessiert. Zwischendurch schreibe ich Erinnerungen an Christoph in ein schwarzes Heft. Gestern war ich mit dem Baby an einem Brown Bag Concert. Es fand über Mittag in der Privatschule statt, in der Eva Klavier unterrichtet. Eine Villa mitten im grossen Park. Kleine Geigerinnen, kleine Pianisten spielten vor, das Publikum sass am Boden und ass dazu seinen Lunch aus braunen Papiersäcken. Was mich beeindruckte, waren nicht die Darbietungen. Ausgenommen vielleicht die der kleinen Chinesin mit keck abstehenden Zöpfchen, die voll Temperament durch ein Vivaldi-Konzert raste. Sonst entsprachen die Leistungen etwa denen unserer Schweizer Kinder an einer Vortragsübung. Beeindruckt, wenn nicht gar ergriffen, war ich vom Publikum. Da sassen diese Erst- bis Fünftklässler auf dem Parkettboden, assen ihren Lunch und hörten zu. Kein Gerangel, kein Tuscheln, kein Geschwätz. Sie hörten dem Spiel ihrer Mitschülerinnen zu und spendeten dann kräftig Applaus. Durch das Programm führte die Schulleiterin. Freundlich sprach sie zum Publikum, als seien es Erwachsene, stellte jeden der kleinen Künstler vor und musste nie um Ruhe bitten. So was geht nur in einer reichen Privatschule, hätte ich früher gedacht, wäre ich nicht zuvor in einem öffentlichen Primarschulhaus von San Francisco gewesen. Mächtiges Gebäude, Schulhof aus Asphalt, an verkehrsreicher Strasse. Dort trat mein Schwiegersohn mit seinem Quartett in der Turnhalle auf. Während zweier Stunden spielte es klassische Musik. Die Klassen waren leise hereingekommen, hatten sich auf den Turnhallenboden gesetzt, hörten zu und meldeten sich dann beim Gespräch mit den Musikern eifrig zu Wort. Entgangen war mir nicht, wie sich eine Lehrerin neben einen der Schüler gesetzt und ihn fest im Auge behalten hatte. Ein Spezialfall. Weniger pflegeleicht als die hundert andern amerikanischen Schüler und Schülerinnen, ein lustiges Gemisch von heller und dunkler Haut, von krausem und glattem Haar, von schmalen und runden Augen. Als ich der Schulleiterin in der Privatschule nach dem Konzert gratulierte, freute sie sich. – Bitte erzählen Sie das in der Schweiz, sagte sie, man hat drüben ein ungutes Bild von uns, und das zu Recht. Sie hatte im Frühling – wir sind im Jahr 2003 – mit vielen Tausend anderen in den Strassen der Stadt gegen den Kriegsbeginn im Irak demonstriert. Eine riesige Demonstration sei es gewesen, still und friedlich, mit Kindern und Kerzen. – Aber so was kommt bei uns nie im TV, und bei Ihnen wohl auch nicht. – Nein, in den Medien wird meist das Böse, das Entsetzliche aus den andern Ländern vermittelt. Die Mehrzahl der Menschen rings um den Erdball möchte nichts anderes, als friedlich...