E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Zimmer Morandus
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-945400-96-8
Verlag: Edition Faust
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-945400-96-8
Verlag: Edition Faust
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Zimmer war gebürtiger Marburger und wuchs an der Mittelmosel auf. Nach beruflichen Stationen in Bonn und dem kanadischen Edmonton lebte und arbeitete er mehr als 20 Jahre lang in Frankfurt am Main, unterrichtete an der Universität zu Köln und war von 2009 bis 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag. Matthias Zimmer starb im Juli 2023 in Frankfurt am Main.
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I
Ich bin meine Vergangenheit. Ich bestehe in und aus meiner Erinnerung. Für einen Historiker wie Landau war das eine banale, selbstverständliche Feststellung. : Ich bin, der ich geworden bin. Vergangenheit und Gegenwart sind nur durch einen Wimpernschlag getrennt. Jeden Moment kann die Vergangenheit in uns einbrechen und Vergessenes freilegen. Wir sind keine unbeschriebenen Blätter, keine geschichtslosen Projekte. Wir sind in Geschichte und Geschichten verstrickt. Wenn wir uns Geschichten erzählen, lernen wir, uns zu verstehen. Wir sind unsere Geschichten. Wir sprechen durch unsere Geschichten, weil sie unser Gedächtnis sind. Und am Ende verwehen unsere Geschichten wie wir selbst, es sei denn, sie werden aufgeschrieben und weitergegeben.
Landau konnte mit Sartre an sich nichts anfangen, aber traf den innersten Kern seiner Forschungen. Es war eine Art Leitmotiv, das sich durch seine Untersuchungen zog. Was sind wir, was macht uns aus? Der Mensch ist das sich erinnernde Tier, nichts wird vergessen. Gerade in letzter Zeit spürte Landau, wie sehr sich frühe Erinnerungen wieder in sein Bewusstsein drängten und seine Träume beherrschten. Die Kunst des Alterns. Waren das erste Anzeichen einer neuen Lebensphase? Wie viel er auch darüber gelesen hatte, jetzt erst wusste er: Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie bleibt des Menschen Wegbegleiter, manchmal auch sein Fluch. Erst durch Erinnern verstehen wir, gewinnen uns selbst. Erinnerung ist dabei immer in andere Geschichten und Zeitläufte verstrickt, in fremde Biographien, fremde Erinnerungen.
Zum Alter gehört das Vergessen. Es verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung, heißt es in einer jüdischen Weisheit. Aber wie weit reichte sie zurück? Nur in die eigene Biographie oder griff sie doch erheblich weiter? War die Geschichte individuell zu betrachten oder vielmehr kollektiv? Die Antwort hinge wohl davon ab, inwieweit ein jeder Herr seiner eigenen Biographie war. Und er selbst? Das alte Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung betraf freilich gerade auch den Historiker. Es blieb unauflösbar und geheimnisvoll.
Landau tadelte sich ob seiner Grübeleien und schritt den Saskatchewan Drive entlang, hin zu seinem Büro im Henry-Marshall-Tory Building der University of Alberta. In Kanada trugen die Universitätsgebäude häufig Namen. Manchmal waren damit Erinnerungen an große Taten für die Universität verbunden, wie im Fall des ersten Universitätspräsidenten Henry Marshall Tory, manchmal nur die Erinnerung an einen ausgestellten Scheck. Die Kanadier zeigten hier einen etwas nüchternen Pragmatismus. Auch Erinnerung hat ihren Preis. Im Sekretariat fischte er seine Post aus dem Postfach und zog sich damit in sein Büro zurück, ein funktionaler Raum, dem er durch zwei englische Clubsessel, eine Stehlampe, die an Art Deco denken ließ, und überfüllte Bücheregale die Anmutung von Gemütlichkeit zu geben versuchte. Den großen Teil seines Lebens verbrachte Landau im Büro. Früh hatte er sich ein diszipliniertes Arbeiten angewöhnt, das er in seinem Berufsleben beibehalten hatte. Dazu gehörte die strenge Trennung von Arbeit und Privatleben. In seinem Haus im Akademikerviertel Belgravia, das nach dem Auszug seiner beiden Kinder für ihn und seine Frau beinahe grotesk überdimensioniert war, hatte er sich nie ein Arbeitszimmer eingerichtet.
Landau war ein Meister der Trennung. Mit seiner amerikanischen Frau Mary sprach er nur englisch. Deutsch, die Sprache, in der er bis zu seiner Flucht aus Wien 1938 aufgewachsen war, spielte in seinem Beruf als Professor für neuere deutsche Geschichte eine Rolle, aber niemals in seinem Privatleben. Auch seine beiden in Kanada geborenen Kinder Mark und John hatten die Sprache erst bei den Besuchen in Österreich gelernt. Zuhause wurde ausschließlich englisch gesprochen. Nicht, dass Landau des Deutschen nicht mehr mächtig gewesen wäre, im Gegenteil. Gerade die Trennung der Lebenssphären sorgte dafür, dass seine Muttersprache nicht, wie es bei anderen Migranten aus dem deutschsprachigen Raum häufig zu beobachten war, stückweise durch englische Redewendungen und Syntax kolonisiert wurde. Er sprach immer noch ein grammatikalisch und idiomatisch korrektes Deutsch. Manchmal, zugegeben, zeigte es Ansätze des Musealen, ein Festhalten an Ausdrücken, die aus dem Gebrauch gekommen waren, und hie und da erlaubte er sich auch eine umstandslose Übersetzung englischer Wörter, wenn der deutsche Begriff ihm nicht geläufig war. Den Anrufbeantworter als „Antwortmaschine“ zu bezeichnen, gut, das hatte ihm vor ein paar Jahren ein Schmunzeln seiner österreichischen Freunde eingebracht, erinnerte er sich, allerdings waren solche sprachlichen Fehlleistungen eine Ausnahme, zumal Landau es sich in den letzten zehn Jahren zum festen Programm gemacht hatte, jedes zweite Jahr die mehrmonatigen Sommerferien in Österreich zu verbringen.
Und war er nicht immer ein talentierter Netzwerker gewesen? Durch Geschick und seine guten Beziehungen, vor allem zu Bruno Kreisky, hatte sich die Gelegenheit eines Stipendiums in Wien ergeben, mit Logismöglichkeit, zentral in der Leopoldstadt, unweit von seinem alten Gymnasium. Zu seiner Zeit trug es noch den Namen des Erzherzogs Rainer, mittlerweile war es nach einem berühmten Ehemaligen, Sigmund Freud, benannt. Alle zwei Jahre wurde das Stipendium erneuert und gab Landau damit Gelegenheit, neue Kontakte in seiner alten Heimat zu knüpfen, vor allem innerhalb der SPÖ, der er weltanschaulich durchaus nahestand. Immerhin war er für transatlantische Fragen informeller Ratgeber der Partei geworden und hatte sich mit einer englischsprachigen Geschichte Österreichs seit dem Krieg revanchiert, dabei die Verdienste der Sozialisten ein wenig stärker betont, als es für einen unparteiischen Historiker unbedingt schicklich erschien.
Bisweilen leisteten ihm Mary und die Kinder in Wien Gesellschaft, nie aber die vollen drei Monate, die er dort regelmäßig verbrachte. Er schätzte das. So blieb ihm Zeit, alte Freundschaften wieder aufleben zu lassen, Bekanntschaften, die nach der erzwungenen Emigration abrupt abgebrochen waren. Wie großbürgerlich seine Familie einst gelebt hatte! Der Vater war ein anerkannter Chirurg am Allgemeinen Krankenhaus gewesen, ein belesener Mann, der gerne Gäste aus Literatur und Musik bei sich bewirtete. Als die Stimmung umschlug, hatte er noch vor dem Anschluss an das Reich Vorkehrungen getroffen, um Österreich schnell in Richtung USA zu verlassen. Wohl hatte er das kommende Unheil, wenn nicht gesehen, so doch geahnt. Er selbst, Landau, war damals dreizehn Jahre alt gewesen, freilich zu jung, um die Dimension der Ereignisse erfassen zu können, andererseits alt genug, um Zeit seines Lebens eine Traurigkeit zu empfinden, die nur diejenigen befällt, die ihre Heimat für immer verlassen. Die Lebensumstände … Landau seufzte. Auch für ihn blieb Wien eine Zwischenstation, da eine Rückkehr aus beruflichen und familiären Gründen nicht möglich war.
Seine Frau hatte er während des Studiums in Yale kennengelernt, bei einem Gartenfest seines akademischen Lehrers Hajo Holborn. Mary war eine enge Freundin von Hanna Holborn, die den Sommer bei ihrem Vater verbrachte. Wie frisch, wie natürlich Mary wirkte! Sehr amerikanisch, optimistisch, immer gut gelaunt. Er hatte ihr in den Jahren der Ehe einiges zugemutet. Schon die Übersiedlung ins kanadische Edmonton, wo er Anfang der sechziger Jahre nach einigen Lehraufträgen in den USA seine erste feste Stelle gefunden hatte. Was für ein Kulturschock, besonders für Mary! Sie war ein Gewächs der Ostküste und nun mit ihm in der Prärie gelandet. Ihre Erziehung im durch und durch protestantischen Geist war beinahe puritanisch, und seine jüdische Herkunft damit schon Problem genug, wenngleich er in keiner Weise praktizierte, ja später ihretwegen sogar konvertiert war. Besser Edmonton als Wien, dachte sich Landau. Ein Leben im urbanen Wien, der Stätte der Musik, der leichten , des süßen Lebens, der Kunst, undenkbar, das hätte Mary komplett überfordert. Deswegen hatte sich die Frage einer Rückkunft gar nicht gestellt, er selbst hatte sie Mary nie gestellt, denn instinktiv war er sich ihrer Ablehnung, ja Empörung sicher. Und doch hatte ihn Wien nie losgelassen, die Stadt hielt ihn in ihren Fesseln, wie er sich eingestehen musste. Hörte er das Fiakerlied, hatte er sogleich lächerliche Tränen in den Augen, die zärtlichsten, wohligsten Erinnerungen hüllten ihn ein, dessen war er sich wohl bewusst, hielt diese Gefühlsduselei aber vor seiner Frau und seinen Kindern verschlossen. Was für ein Bild würde er auch von sich geben? Das passte nicht zu jenem, das er von sich selbst hatte – als Lehrer, als Vater, als Ehemann. Sein Leben war notwendige professionelle, mitunter ironische Distanz zu den Dingen, antrainiert durch die Umstände und die akademische Ausbildung. Dadurch konnte er sich und seine Familie schützen. Mit der Zeit war, wie er sich selbst eingestand, die Seele mit Hornhaut überwachsen; galt er vielleicht deshalb oft als unnahbar, ja...