Ziefle | Suna | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Ziefle Suna


12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0225-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8437-0225-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sie schläft nicht. Nicht im Arm, nicht im Kinderwagen, nicht in der Wiege. 'Sie kann hier keine Wurzeln schlagen', sagt der Arzt. 'Finden Sie Ihre.' Also trägt die junge Mutter Luisa Nacht für Nacht ihr waches Kind durchs schlafstille Haus und erzählt: von ihrer serbischen Mutter, ihrem türkischen Vater und ihren deutschen Adoptiveltern. Von Liebe, die gefunden wurde und wieder verlorenging. Von der Zeit, als sie erfuhr, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sind. Und davon, weshalb sie Suna genannt wird und ihre türkische Familie es für ein Wunder hält, dass es sie gibt. All das erzählt Luisa ihrem Kind und findet im Erzählen eine Heimat für sie beide. Suna ist die Geschichte einer jungen Frau, die lernt, dass zu ihrem Leben Menschen gehören, denen sie nie begegnet ist.

Pia Ziefle, geboren 1974, ist freie Autorin und Bloggerin. Beiträge von ihr erschienen u.a. im Tagesspiegel, der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Tübingen. Suna ist ihr erster Roman. www.piaziefle.de
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Kizim

Niemals schläfst du.

Nicht im Arm. Nicht im Kinderwagen. Nicht in der Wiege. Nicht an der Brust.

Stattdessen tragen wir dich, wach und aufmerksam, in unserer nächtlichen stillen Wohnung umher und summen müde die Melodien deiner Schlaflieder. Hundertfach.

Das gibt sich, so hatten wir im ersten Sommer gedacht, das gibt sich.

Sie hat nichts.

Sie ist nur nicht müde.

Das kommt schon, sagten wir im Herbst.

Eines Tages.

Nur noch ein bisschen, ein kleines bisschen Geduld.

Aber jetzt ist schon der zweite Winter hereingebrochen, mit seinem eisigen Ostwind und meterhohen Schneeverwehungen auf den Landstraßen, und noch immer bist du in den Nächten hellwach.

Ganz am Rande unseres Dorfes steht das winzige Haus, das Tom und ich vor ein paar Jahren gefunden haben. Man übersieht es fast, so hingeduckt ist es am Fuß eines steilen Abhangs, darüber Felsen und ein unzugänglicher kleiner Wald.

Reich sind seine Erbauer nicht gewesen, aber reich ist hier niemand geworden, nicht inmitten dieses Landstrichs, der schon immer von Verzicht und Entsagung geprägt war.

Karge Weideböden und ertragsarme Felder, harte Winter und staubige Sommer bestimmen das Landschaftsbild. Im porösen Kalkboden hält sich das Wasser nicht, stattdessen gräbt es sich unterirdische Höhlen und tritt an unerwarteter Stelle reißend wieder zutage.

Dein Großvater Johannes ist aufgewachsen im Karst, und ich höre beim Umherstreifen mit euch draußen noch immer seine Stimme, wie sie uns Kindern damals von den unsichtbaren Kräften erzählt hat, die in der Tiefe der Karstgebirge wirken und an der Oberfläche trichterförmige Senken formen können, manchmal sogar schlauchartige bodenlose Schlunde, so eng und schwarz, als führten sie direkt in die Hölle.

Tom und ich haben uns entschieden, hierherzuziehen, als ich mit deinem älteren Bruder schwanger war. Zuvor war Berlin für beinahe ein Jahrzehnt meine Heimat gewesen, aber kein Ort für mich, um meine Kinder aufwachsen zu sehen. Ihr solltet auf dem Land groß werden dürfen, wie dein Vater und ich.

Auf den ersten Blick war mir im Dorf vieles vertraut erschienen. Zwar nicht genau diese Hügel, nicht diese Wälder, nicht genau dieser Dialekt, der sich hier auf der Hochfläche schon von Ortschaft zu Ortschaft stark unterscheidet – aber hier hat man uns ein Haus geboten und nur wenig Miete verlangt.

Unsere neuen Nachbarn brachten zum Einzug Brot und Wurst aus eigener Herstellung, manche auch selbstgebrannten Schnaps. Direkt vom Krautland kamen sie und strichen sich mit erdigen Händen die ersten Frühlingssonnenstrahlen von der Stirn, bevor sie auf unseren Keller wiesen und dann auf unsere Küchenfenster und dabei sagten: »Früher war hier die Bäckerei und da ein Krämerladen.«

Ich führte sie stolz auf unserem Grundstück herum und zeigte ihnen die alten Mehlwannen auf ihren schiefen Böcken und die ausgebeulten Teigbottiche, die ich im ehemaligen Hühnerstall gefunden und mit Sommerkräutern bepflanzt hatte.

Verschwitzt vom Bemühen, für uns im Hochdeutschen die richtigen Worte zu finden, und fröhlich vom Schnaps, erzählten sie schließlich, wie sich der alte Bäcker mit dem Messner von gegenüber damals in die Haare bekommen hatte, wegen der frühmorgendlichen Geräusche aus der Backstube.

»Und wegen der Frau!«, riefen sie. Die war nämlich dem einen davongelaufen, um fortan beim anderen den Ofen zu heizen. Sie berichteten, wie man den Laden gemieden hatte, wenn man auf Seiten des Messners stand, und doppelt so viel Brot gekauft hatte, wenn man es mit dem Bäcker hielt.

Sie erzählten, wie der Bäcker irgendwann schließen musste, »weil’s nimmer ging, gesundheitlich«, und die Dorfgemeinschaft entschieden hatte, ein Backhaus herzurichten – so dass die Dörflerinnen ihren Brotteig dort ausbacken konnten, »und rumsitzen und tratschen mit den anderen«, lachten sie.

Ich sog ihre einfachen klaren Geschichten auf und verleibte sie mir ein. Ich war jetzt umgeben von Menschen, die ihr Leben mit nichts anderem zugebracht hatten, als Nahrungsmittel anzubauen, die zurechtgekommen waren mit den Widrigkeiten des Klimas und der Böden und darüber alt geworden sind. Das wollte ich hören von ihnen. Weil ich eine so starke Sehnsucht nach einem einfachen und übersichtlichen Leben hatte.

In den Nächten wurde die Straßenbeleuchtung abgeschaltet, und wenn der Mond nicht schien, sah man draußen die Hand nicht vor den Augen. Dann hörte ich Schritte auf dem Hof und Stimmen im Kamin und holte Tom, der sich neben mich stellte und schließlich den Kopf schüttelte und sagte, er höre nichts.

Wenn ich abermals horchte, hörte auch ich nur noch den Wind.

»Von Berlin seid ihr?«, fragten die Nachbarn, auf die Idee gebracht durch das Kennzeichen meines Wagens.

»Ich war ein paar Jahre dort«, sagte ich ausweichend, »aber aufgewachsen bin ich ganz in der Nähe.«

»Du sprichst keinen Dialekt«, sagten sie verwundert.

Ich hätte es ihnen erklären können, aber ich wollte nicht.

»Wann kommt das Kind?«, fragten sie nach einer längeren Pause und wiesen beiläufig auf meinen Bauch.

»Im Herbst«, sagte ich knapp.

»Nicht mal Zentralheizung habt ihr da drin«, sagten sie schließlich mit einem zweifelnden Blick auf unser Haus.

In Berlin hätte ich Kohleöfen in der Wohnung gehabt, in jedem Zimmer einen, sagte ich, und als ich sah, dass sie das nicht glaubten, fügte ich lachend hinzu, manchmal sei die Toilette dort noch im Treppenhaus, sogar im Westteil der Stadt.

Die Nachbarn schüttelten den Kopf. Das konnten sie sich nicht vorstellen. Berlin war für sie aus Gold gebaut.

Dann begannen sie von Neuem: Unser Haus sei einmal fast fortgespült worden, ob wir das wüssten?

»Schneeschmelze«, sagten sie, »der Boden war noch gefroren, da kam’s geschossen, von da oben.«

Sie zeigten auf die Felsen und das kleine Wäldchen am Hang über uns und freuten sich über mein ungläubiges Gesicht.

»So was erlebt man in Berlin nicht«, sagten sie zufrieden.

Ich aber liebte das Haus vom ersten Augenblick an, besonders wegen seiner knarzenden Treppenstufen, den beiden Kaminöfen, wegen seiner undichten Fenster und seiner niedrigen Decken, an denen Tom sich den Kopf stieß, wenn er aufrecht stand. Ich liebte es, obwohl jeder, der uns besuchte, etwas daran auszusetzen hatte.

»Wir brauchen nicht mehr«, sagte ich.

Ich liebte es auch dann noch, als in einem der Zimmer der Boden herausgerissen werden musste, weil dort vor Jahren schon ein Abflussrohr geborsten war und uralte Dielen stinkend unter dem Teppichboden verfaulten. Wir schaufelten den Schlamm hinaus und füllten die Grube mit Beton.

»Flickwerk«, sagten die Gäste.

»Mein Haus«, sagte ich dann.

Am Tag deiner Geburt, kizim, bin ich gegen fünf Uhr mit Wehen im Hof umhergegangen, die Sonne hatte sich noch nicht über die Dächer des Dorfes erhoben, nirgendwo waren Menschengeräusche zu hören. Es war, wie ich mir schon in so mancher Nacht in Berlin erträumt hatte. Leise und überschaubar und voller Ruhe für das, was mich erwartete.

Mein Blick fiel auf meinen Gemüsegarten. Meine tägliche Arbeit zahlte sich aus. Wir hatten so früh im Jahr bereits die ersten Tomaten geerntet, und wenn der Sommer so heiß bliebe, kämen alsbald schon zum zweiten Mal Erdbeeren.

Ich ging hinüber zu meinen Pflanzen, meinen Blumen, meinen Sträuchern und Obstbäumen. Sie wuchsen und gediehen, so wie du in meinem Bauch gewachsen bist, den vergangenen Herbst über begleitet von Übelkeit, gelindert nur durch Zitrusfrüchte, die ich eigentlich verabscheue.

»Iss Orangen, Kind«, hat deine Großmutter Julka zu mir gesagt, »wie ich mit dir schwanger war, hab ich nix andres wie Orangen gegessen«, und ich habe gelacht und gesagt, kein Wunder, würde ich das Zeug nicht mögen, denn was draus geworden war, aus dem Kinderkriegen damals, das wüssten wir ja nun beide. »Eine fünfmarkstückgroße orangene Stelle haschd auf der Stirn g’habt bei deiner Geburt«, sagte sie außerdem, und ich sagte unwirsch, die D-Mark gäbe es ja doch eine ganze Weile nicht mehr. Um davon abzulenken, dass Sätze über die Umstände meiner Geburt unweigerlich verbunden waren mit der unausgesprochenen Frage nach den Umständen meiner Zeugung – und nach meinem Vater.

Die Wehen wurden stärker.

Dein Bruder und Tom schliefen noch, als ich in unserem Küchenofen das Feuer entfachte und einen Wasserkessel aufsetzte, um Tee zu kochen. Ich befühlte noch einmal die weichen Tücher, die wir später im Backofen wärmen würden für dich, und sah im Geburtskorb nach den notwendigen Kleinigkeiten, die wir nach den Vorschriften der Hebamme zusammengetragen hatten.

Du bist fast auf die Minute genau am errechneten Geburtstermin zur Welt gekommen, in nur wenigen konzentrierten Stunden. Und bei Vollmond.

»Magisch«, sagte der Hofer, als er die Daten in sein Untersuchungsheft schrieb.

Schon zur Geburt unseres ersten Kindes ist der Dorfarzt Hofer zu uns gekommen. Nicht wenig verwundert schien er gewesen, dass wir, die Städter, nach den alten Methoden ein Kind bekommen hatten. Man sah jedoch rasch, dass er die üblichen Handgriffe an den...


Ziefle, Pia
Pia Ziefle, geboren 1974, ist freie Autorin und Bloggerin. Beiträge von ihr erschienen u.a. im Tagesspiegel, der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Tübingen. Suna ist ihr erster Roman.

www.piaziefle.de

Pia Ziefle, geboren 1974, ist freie Autorin und Bloggerin. Beiträge von ihr erschienen u.a. im Tagesspiegel, der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Tübingen. Suna ist ihr erster Roman.

www.piaziefle.de



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