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E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Zeller Falschspieler

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-86913-343-0
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte einer Literaturfälschung, in perspektivischer Brechung und mehrfach potenziert. Bei seinem Erscheinen im Herbst '08 wurde der Roman von der Kritik einhellig begrüßt. Aber ein so vielschichtiges Werk sollte der Erstling einer unbekannten Autorin sein? Was aufmerksame Leser fast schon geahnt haben, wird jetzt aufgedeckt: Falschspieler entstammt nicht der Feder der Deutsch-Amerikanerin Jutta Roth, sondern der Michael Zellers, der seiner Story damit eine weitere, eine außerliterarische Wendung gegeben hat.
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MEINE KINDHEIT Aus dem Nachlaß Friedrich Fabers Ganz für sich stand das Haus oben am Hang des Graubergs, vorm Waldrand, in einem terrassierten Garten. Unter uns das Tal: Der Fluß, die Stadt, die flachen Berge jenseits. Darüber öffnete sich der Himmel weit. Nichts liebte ich mehr als diesen Blick aus unserem Wohnzimmer, durch ein großes Bogenfenster. Dicht aneinandergedrängt die Häuser, Dach an Dach, um den sandsteinroten Machtfinger des Kirchturms gestreut. Doch war’s der Fluß, der mich ans Fenster lockte, wie er sich durch die Wiesen wand, lang genug, ehe er an der Fensterkante abbrach. Diesen Schnitt nahm meine Phantasie nie ernst. In zwei Fernen entschwand der Fluß, wenn ich übers Land schaute, nach links und rechts, und ich konnte sie mir mit meinen eigenen Bildern ausmalen. Das Wasser glänzte hoch, von der Sonne aufgeladen, blinzelte mir ins Auge, als meinte es nur mich. Oder es blieb stumpf unten liegen, ohne Gruß, grau, mochte sich selber nicht leiden. Der Fluß kam her zu uns, aus dem Unbekannten, und glitt mit allem, was er unterwegs in den Fernen erlebt hatte, durch diese Stadt. Man mußte nur scharf genug hinschauen. Dann zog er, weiter von hier in eine andere Fremde. Die ­Häuser und Straßen, selbst der wuchtige Kirchen­leib, unumstößlich schwer, für Ewigkeiten festgemauert, zer­bröckelten vor meinen Augen. Der Fluß erzählte eine andere Geschichte. Sie war nicht Stein auf Stein gefügt, unter stolz verzierten alten Jahreszahlen, bot keinen Schutz vor Wind und Regen und Kälte. Doch an das, was das vorüber­ziehende Wasser mir zu sagen hatte, glaubte ich lieber. Kein Wunsch des Kindes, kein bloßer Traum: Es war zu sehen, jeden Tag, wenn ich mochte, auf dem Fluß da unten. Leben, ein Leben außerhalb der handgreiflichen Dinge, die mich umstellen und festhalten und kleinmachen wollten. Es gab Bewegung, die Ferne, andere Welten. Darauf setzte meine Neugier, ja meine ganze Lebenshoffnung, und nicht auf das selbstherrliche, starre Gemäuer, das glauben machen wollte, es sei alles und auf ewig. Das Bogenfenster unterm Dach, das mir das Bild von Weite schenkte, steht für das Haus meiner Kindheit. Mit diesem Ausblick auf die Welt bin ich groß geworden. Zehn Jahre lang hat er mich begleitet und mein Schauen geprägt. Davon zehre ich heute noch. In der kleinen Mansarde am Grauberg hatten wir Unterschlupf gefunden, nachdem der Krieg uns aus dem Osten Deutschlands hierher getrieben hatte. Das Haus, nehme ich an, war zwischen den beiden Kriegen gebaut worden, als manche Auswärtigen aus den nahen Großstädten hier in dem hübschen Fachwerkort am Fluß Ruhe suchten, an den Hängen seines Tals. Die Nachbarn zu beiden Seiten lagen gerade noch in Sichtweite: eine Gärtnerei und der Park des Müttergenesungsheims. Sein Gemäuer verdunkelte hinter mächtigen Bäumen. Ein Schloß, in meinen Augen damals, wegen der Zinnen auf dem Dach. Oder eine Burg von Raubrittern, die nachts hier ihre Beute aufteilten. Besitzerin unserer Dachwohnung war eine Witwe Kiesling, aus Würzburg stammend, dem Bischofssitz. Sie lebte im Erdgeschoß. Ganz unten, neben der Waschküche, hatte ihr Sohn Elmar sein Zimmer, und auf dem Stück Kies davor bastelte er an seinem Motorrad. Tochter Kriemhild sahen wir so gut wie nie. Sie war verheiratet und lebte auf der anderen Seite des Flusses. Elmar erlebte ich als einen strahlenden Mann. Groß und kräftig gebaut. Ein wahrer Hüne, so kam’s mir damals vor. Ein Held. Kornblond seine Locken; im Nacken kurzgehalten, drängten sie von den Schläfen in ein sommerbraunes Gesicht hinein. Sein Lachen war im Haus und im Garten ständig zu hören. Denn er war immer da. Arbeiten ging er nicht. Er hatte nichts gefunden, jedenfalls nicht das Richtige für ihn, wie er sagte. So blieb ihm genug Zeit für sein Motorrad, eine ziemlich schwere Horch, die er irgendwo aufgespürt hatte, in einem Kohlenkeller der Stadt unten, wo sie den Krieg überlistet hatte. Und ich verbrachte jede freie Minute an Elmars Seite. Die Horch, unterm Vordach der Waschküche auf den Sattel gestellt, war gut in Schuß, aber vollkommen verdreckt. Rost hatte sie auch angesetzt. Stück um Stück mußte sie auseinandergenommen und wieder zusammengebaut werden. Zuerst versuchte ich noch, ein bißchen mitzuhelfen und von einem Stück Blech oder einer Schraube den Rost abzuschmirgeln. Elmar sagte nichts dazu. Bis ich selbst spürte, daß er’s nicht gerne sah. Er wollte lieber alles alleine machen. Aber wenn ich kam und mich neben ihn auf den Kies hockte, auf gekreuzten Beinen, freute er sich immer. Er kniete dort vor seiner Horch, mit bloßem Oberkörper, gebräunt die Schultern, der Nacken, die sehnigen Arme. Ständig trug er die kurze graue Hose, die ihm seine Mutter wohl aus einer Wehrmachtshose zurechtgeschnitten hatte. An den Füßen knöchelhohe ausgetretene Schuhe, ohne Riemen. Socken brauchte der keine. Auf alten Zeitungen lagen aufgereiht die Schrauben samt ihren Muttern, in allen Formaten, Ventile, Kabel, Muffen, allerlei Hebel, Rohre und Röhrchen, die Kette, der Auspuff, das Trumm einer Blechverkleidung. Merkwürdig geformte Teile, deren Zweck ich nicht mal ahnte. Ich hätte ja bloß zu fragen brauchen, doch ich ließ lieber die Augen wandern und sah zu, wie die Dinge sich in Elmars Händen veränderten, wie sie, gereinigt und geschmiert, mit einem Mal in diese Lücke paßten an der Maschine, genau dahin. Wie er mit den verschiedenen Schraubenziehern und -schlüsseln hantierte, die auf anderen alten Zeitungen lagen, sortiert nach Größe und Gerät, die Feilen und Flachzangen, Stahlwolle, Schmirgelpapier, das Ölkännchen mit der dünnen, endlos langen Schnute und, für alle Fälle, Elmars Hirschfänger, mit dem Griff aus Horn, größer als meiner, an dem mein Herz schon so lange hing. Suchen mußte er fast nie, um für die festsitzende Mutter den passenden Schlüssel zu finden, und wenn dann Elmar seine Muskeln anspannte, hatte sie, so tief der Kohlenruß auch eingefressen war, keine Chance mehr. Ganz selten mußte doch der Hammer her, und auch dann fluchte Elmar nicht. Es ging ihm alles ruhig und sicher von der Hand. Jeder Griff saß. Nie erlebte ich ihn nervös oder wütend. Er schaute sich die Sache an, überlegte eine Weile, dann fand er den Weg und mußte selten umkehren. Das war es, was mich festhielt an seiner Seite, wovon ich mich schwer losreißen konnte, wenn Mutter mich aus dem Bogenfenster nach oben rief, zum Abendbrot. Natürlich war Elmars Motorrad eine Sensation für mich, man sah ja so gut wie keine Maschinen auf den Straßen, und wenn, dann nur von Seitenwagen plump und langsam gemacht. Schon das dunkelbraune rissige Leder der Motorradhauben sah nach Abenteuer aus. Als wäre der Fahrer auf seiner Maschine gerade den Gefahren ferner Länder entkommen. Klar, daß Elmar hoch und heilig versprechen mußte, mich als ersten hinten auf dem Sozius mitzunehmen, wenn die Maschine wirklich eines Tages laufen sollte. Kaum zu glauben, wenn ich ihr Skelett jetzt so stehen sah vor der Waschküche. Doch nicht die Vorfreude auf die Ausfahrt hielt mich hier und ließ mich, Stunde um Stunde, die Zeit vergessen. Es war Elmars Art zu arbeiten. Wie unter seinen Händen, in ihrem festen, entschlossenen Griff, eines aus dem anderen folgte. Wie Widerstände überwunden wurden, Kniffliges sich auflöste. Wie aus allem, so unentwirrbar es eine Weile lang schien, dann doch etwas zustande kam, eine Form, ein Ergebnis, ein Abschluß. Das machte mich zufrieden, ja sogar glücklich. Elmar freute sich ebenfalls und zwinkerte mir zu, wenn nach einer längeren Fummelei endlich ein Teil auf das andere paßte, wie angegossen. Viel­leicht stand er dann auf, reckte sich, drückte das Kreuz durch, wischte sich an einem Lappen die Hände ab, schwarz von Ruß und Öl bis hoch zum Ellenbogen, und schob die Haarlocken aus der Stirn. Hockte sich neben mich hin und rauchte eine dieser hellen amerikanischen Zigaretten. »Fang nie damit an, Friedrich«, sagte er und zog den Rauch tief ein. »Das hab’ ich auch in dem verdammten Krieg gelernt.« Aber wie er das sagte, lachend, und mit welchem Genuß er an dem Glimmstengel hing, glaubte ich ihm kein Wort und sollte das wohl auch gar nicht. Aber sein Päckchen hat Elmar mir niemals hingehalten. Viel zu reden gab es nicht. Wir verstanden uns schweigend. Ich spürte: Er mochte es, wenn ich bei ihm war und ihm zuschaute. Er summte oder pfiff vor sich hin, stramme Melodien, und ich, noch vorm Stimmbruch, übernahm die zweite Stimme. Warum er denn nicht singe, habe ich ihn einmal gefragt, in einer Rauchpause. »Ach weißt du, die Mutter stirbt vor Angst, wenn ich die alten Lieder singe und Leute hier vorbeikommen.« Tatsächlich führte direkt neben dem Grundstück der Sandweg einer Steige hinab in die Stadt, und manchmal sahen oder hörten wir einen Nachbarn oder jemand Fremden an uns vorübergehen. »Und das Ave Maria ist halt nicht mein Fall.« Er richtete sich auf, schnippte die Kippe, wenn sie sich wirklich nicht mehr halten ließ zwischen den Fingernägeln, in den Kies und beugte sich wieder über seine Schrauben und Zangen.   Wie alle unsere Bekannten stammte auch Jockel Schulze-Köln nicht von hier. Er trug seine auswärtige Herkunft schon im Namen, noch dazu von eigener Hand verliehen, wie es einem Künstler ansteht. Mit geradezu magnetischen Kräften müssen die Fremden einander angezogen haben in der kleinen alten Fachwerkstadt am Fluß. Offenbar gab es so viele von ihnen, in allen Berufen und Schichten, daß man unter sich bleiben und die Eingeborenen links liegen lassen konnte. Die waren die einzig wirklich Fremden. Wenn man sie zur Kenntnis...


Michael Zeller, 1944 in Breslau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wuppertal. Bis 1984 war er Universitätsdozent für Literatur. Er wurde für sein vielgestaltiges literarisches Werk mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2008 mit dem 'Von-der-Heydt-Kulturpreis' der Stadt Wuppertal.


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